Die Nacht der #GoeBombe
Am Tag danach ist der Himmel über Göttingen bleigrau und die Stimmung seltsam ruhig und gedämpft. Als ob die Stadt selbst noch unter Schock steht. Die letzte Nacht war aufreibend – es passiert nicht oft, dass mitten in der Stadt eine Bombe explodiert.
Der Schützenplatz ist ein großer Platz etwas nördlich des Stadtzentrums von Göttingen. Dort soll demnächst ein Gebäude entstehen, aber dessen Bau steht schon jetzt unter keinem guten Stern. Schon der erste Spatenstich in der vergangenen Woche konnte nicht feierlich begangen werden, weil eine alte Fliegerbombe im Erdreich geortet wurde.
Das ist nicht das erste Mal, denn das Gebiet des Schützeplatzes liegt in der Nähe der Bahnstrecke, die im Krieg bevorzugtes Ziel war. 1998 explodierte unterirdisch eine Bombe als ein Stadtbus darüberfuhr, und immer wieder mussten in der Vergangenheit die anliegenden Stadtviertel für Bombenentschärfungen evakuiert werden. So auch in der letzten Woche. Die Entschärfung durch den Kampfmittelräumdienst verlief erfolgreich, bei den Untersuchungen wurde allerdings etwas gefunden, was nach einer zweiten Bombe aussah. Das war am vergangenen Freitag. Anstatt den Schützenplatz für weitere Untersuchungen komplett zu sperren, fand am Samstag noch zeitweise ein Großflohmarkt auf dem Gelände statt. Man mag sich gar nicht ausmalen was passiert wäre, wenn an diesem Tag der Blindgänger explodiert wäre.
Nachdem am Dienstag bestätigt wurde, dass es sich um eine Zehn Zentner Bombe aus dem zweiten Weltkrieg handelt, wurde eine erneute Evakuierung angesetzt. Die Entschärfung wurde für den späten Abend, gegen 22.30 Uhr, anberaumt, um den ICE-Verkehr nicht mehr zu stören als nötig. Ab ca. 18.00 Uhr wurden die ersten Strassen gesperrt und die Evakuierung in einem Radius von 1000 Metern begann. Über 7.000 Menschen mussten aus Ihren Häusern und Wohnungen und wurden in Turnhallen und Schulen untergebracht. Das Göttinger Tageblatt schaltetete einen Liveticker auf seiner Website, in den manuell Twittermeldungen zum Stand der Evakuierung eingespeist wurden.
Um kurz nach halb Zehn gab es dann einen Knall – so laut, dass man ihn noch in fünf Kilometern Entfernung hörte. Der Liveticker des GT verstummte. Der Twitterer @haekelschwein war der erste, der eine Minute später Informationen zur Lage durchgab:
Oha, die Bombe in Göttingen ist gerade explodiert!
Und
Ich blicke vom Fenster aus Richtung Schützenplatz, wo die Entschärfung lief. Ein Knall – und Rauch stieg auf. Jetzt Blaulicht.
Feuerwehrkolonnen unterwegs!
Ach du Scheiße.
Es folgen einige Tweets von anderen unter dem Hashtag #goebombe. Die Seite und der Liveticker des Göttinger Tageblatts melden gegen 21.37 Uhr “Gerade gab es einen lauten Knall… Vielleicht läuft doch alles nicht so ruhig?” in der Timeline auf. Um 21.41 Uhr dann “Die Bombe ist hochgegangen. Es gibt Verletzte.” und um 22.07 Uhr schließlich: “Trotz zusammengebrochener Verbindungen haben wir die Bestätigung: Die Rede ist aktuell von drei Toten und zwei Schwerverletzten.”
Bis zu diesem Zeitpunkt waren die Tweets von drei, vier Personen, allen voran @Wortkomplex, @rstockm und @haekelschwein, eine gute Informationsquelle. Diese Leute twitterten nur, was sie selbst erlebten oder erfuhren. Durch die vielen Retweets wird nun Twitter nun rasch unübersichtlich. Einige wenige, originäre Meldungen werden dutzendfach von anderen wiederholt, unter dem Hashtag #goebombe liest man wie in einer Heavy Rotation immer wieder das gleiche, wirklich neue Tweets sind schwer zu finden.
Bild.de ist als erstes “überregionales Medium” an der Sache dran. Die Meldungen sind schlecht zusammengefasste Tweets, als Quelle werden “Lokale Medien” angegeben. Twitterer sind also Lokaljournalisten. Diese Politik der unreflektierten Übernahme geht kurz darauf nach hinten los.
Twitterer @daswaldi schreibt sinngemäß (originaltweet wurde gelöscht): “Gerade mit Bekannten telefoniert. Das war eine Gasexplosion, keine Bombe.” Diese Info hatte er angeblich vom Bruder einer Freundin, der bei der Feuerwehr ist. @daswaldi ging es nach (edit: eigenem Bekunden) nicht darum, einen Scherz oder Desinformation zu verbreiten. Wie auch immer, seine Info war schlicht falsch – und verbreitete sich durch Retweets in Windeseile. Ohne Nachfrage übernahm auch Bild.de die Info.
Das Ganze Drama beschreibt daswaldi in seinem Blog: Wie ich auf Twitter mit einer Falschmeldung für Verwirrung sorgte. Es zeigt recht gut die Gefahren beim Umgang mit dem “Echtzeitmedium” Twitter auf.
Im weiteren Verlauf gingen Gerüchte über eingestürzte Hausfassaden über die Zwitscherkanäle, ebenso Screenshots von goettingen.de. Dort wurde eine kurze Meldung zum Stand der Dinge veröffentlicht, der Server der Stadt brach aber unter dem Informationshunger der Menschen zusammen. Ab ca. 23.30 Uhr gab es dann keine wirklichen Informationen mehr, das Kommunikationsbedürfnis der Twitternutzer brach sie daraufhin in Form von Beileidsbekundungen bahn. Einige wenige versuchten sich an Scherzen, ernteten dafür aber negative Reaktionen.
Währenddessen richteten sich die Menschen in den Evakuierungsstationen auf eine lange Nacht auf eilig organisierten Feldbetten ein – jedes Gebäude im Umkreis von einem Kilometer um den Explosionsort herum sollte vor Rückkehr seiner Bewohner auf Schäden überprüft werden.
Am Morgen danach ist klar: Die 500 Kilobombe explodierte, noch bevor die eigentliche Entschärfung durch einen Roboter begonnen hatte. Drei erfahrene Kampfmittelräumer wurden getötet. Die beiden Schwerverletzten sind ausser Lebensgefahr. Die Staatsanwaltschaft wird den Fall untersuchen. Es gibt eine Pressekonferenz mit dem niedersächsischen Innenminister. All das zieht jetzt so durch, während die Stadt noch unter Schock zu stehen scheint. Bombenbeseitigung, das ist doch quasi Routine und Evakuierungen sind lästig.
Da passiert doch nie was.
Und schon gar nicht hier.
8 Gedanken zu „Die Nacht der #GoeBombe“
und wer verbreitet per tweet die “news” von eingestürzten häuserfassaden: auch @daswaldi… Aber nein, nein, “daswaldi ging es also nicht darum, einen Scherz oder Desinformation zu verbreiten” – schon klar…
Egal wie die Intention aussah, es ändert nichts daran, dass die Falschmeldung ungeprüft von den Medien verbreitet wurde. Das ist meiner Ansicht nach der springende Punkt.
Echt…wo war die Stimmung gedämpft?
Ich musste heute früh zum Finanzamt, welches ja auch in der Gefahrenzone liegt, aber weder dort noch drum herum war irgendwas von gedämpfter Stimmung zu spüren. Ich fand, es war so wie immer.
Detail am Rande: in dem feinen Blog von @daswaldi habe ich heute zwei mal in Kommentaren auf die zweite Falschmeldung mit den Fassaden hingewiesen und nach einer Stellungnahme gefragt.
Beide Kommentare wurden umgehend von @daswaldi gelöscht.
Nachtrag: dieser Tweet hier gerade von ihm an mich zeigtnwohl deutlich, wessen Geistes Kind er ist: “@rstockm es gibt einen unterschied zwischen löschen und nicht freischalten, je nach relevanz und meiner persönlichen laune”
Solchen Spinnern sollte man keine Plattform geben und sie hier noch ausstellen.
da finde ich es doch doppelt schön, daß der Bild.de Qualitätsjournalismus hoffentlich demnächst kostenpflichtig wird. dann liest es keiner mehr.
das wäre schön.
Hirnwirr: Doch, das war schon recht eindeutig zu spüren. Vielleicht hast Du in der Hektik des Tagesgeschäfts einfach nicht drauf geachtet.
Mensch2.0: OK, damit muss man den Blogeintrag wohl entgültig als das halbherzigen Rechtfertigungsversuch von jemandem begreifen, der über die Auswirkungen seiner eigenen Tat erschrocken ist.