6 – Im Limbus
Ich hatte es vergessen, aber den Tag gab es ja gar nicht. Da war dieser Blick und das stumme Kopfschütteln. In dem Moment, oder eigentlich schon am Morgen, war die Welt ganz still, aber in dem Moment, da faltete sich alles zusammen, in mir und um mich herum, es fiel alles nach vorne und faltete und faltete und faltete sich und wurde immer kleiner und kleiner bis es weg war. Es blieb die Leere und die Stille, aber die Wirklichkeit war weg und alles war ersetzt durch was, was genauso aussah, aber nicht real war.
Die Welt hatte sich zusammengefaltet und sich im Verschlingen geübt, mit Haut und Haaren, und wieder ausgespuckt im Limbus, dem Ort zwischen den Welten, dem Vakuum zwischen Welt und Tod. Der Limbus sieht aus wie die echte Welt, dabei ist er nur eine fade Kopie. Nichts ist echt, alles fühlt sich falsch an.
Alles fühlte sich falsch an, und das ist richtig. Weil sowas nicht echt sein kann. Sowas kann nicht in Wirklichkeit passieren, weil es nicht passieren darf. Dann kroch dieKälte in die Stille. Die Kälte ist die Gewissheit. Die Kälte umklammerte das Herz. Geräusche kamen langsam wieder, wie durch Watte oder unter Wasser. Und es kamen die stummen Tränen und das stille Schluchzen.
Die Fahrt zurück und das ankommen in der Bedeutungslosigkeit und das dümpeln im Vakuum. Das nicht wahrhaben wollen und gleichzeitig wissen, dass es wahr ist.
Im Limbus zu wandeln nimmt einem alle Energie: Er saugt aus, bis nichts mehr von einem übrig ist als eine hohlwangige Hülle mit leeren Augen. Im Limbus gibt es keine Zeit: Die Sonne rast am Fenster vorbei, aber immer wenn man hinguckt ist Nacht. Also muss man sich Nachts rasieren und Zähneputzen aber Frühstücken geht nicht, wie auch, man kann ja nichts essen, nie wieder. Man kann sich nur in den Schlaf weinen und hoffen, dass der möglichst lange anhält, auch wenn er unruhig ist und die Träume falsch.
Der Rest ist eine Aneinanderreihung von Bildern. Wenn ich mich anstrenge, dann bekomme ich auch alles wieder präsent, jeden Schritt, jede Zigarette, jeden Weinkrampf. Das Gefühl der Hilflosigkeit und des stark sein müssens. Des Funktionierens und der Dinge, die da kamen. Der Matratze auf der Seite und des Türmchens in der Dämmerung. Die Erinnerungen sind da, aber sorgfältig eingepackt in einem Karton mit der Aufschrift “Nur unter Aufsicht öffnen”. Die Erinnerungen im Griff haben ist wichtig, denn sonst haben sie einen im Griff.
Der Tag verschwand im Limbus und ganz viele von denen die noch folgen sollten auch. Die Welt, ignorant wie immer, hielt nicht inne, aber das Leben lief woanders. Vom Limbus aus kann man es spüren, aber nicht daran teilhaben, und das ist die schlimmste Folter.
Der Weg aus dem Limbus heraus ist unsichtbar und sehr, sehr lang und keiner weiß, wo er ist. So sehr man es fühlt, wenn man im Limbus gefangen ist, so wenig merkt man es, wenn man wieder einen Schritt in die richtige Richtung gemacht hat und die Welt wieder ein winzig kleines Stückchen realer geworden ist. Heute ist die Welt wieder wirklich, aber das hat gedauert. Und der Preis war hoch, das hat alles viel mehr gekostet als nur den einen Tag, diesen 13. März, der verschwunden ist oder nie war.
2 Gedanken zu „6 – Im Limbus“
Sehr schöner und zutreffender Text. Schreibst du das aus der Seele oder ist das reinste Fantasie?
Das ist eine Erinnerung.