Von Venedig nach China
Genua, Italien, im Jahr 1299.
Die Sonne brennt vom Himmel, aber davon hat Rustichello da Pisa nicht viel. Er sitzt in einem dunklen Kerker. Der junge Mann wäre so gerne ein großer Schriftsteller geworden. Stattdessen ist er erst irgendwie zwischen die Fronten im Krieg der Seerepubliken geraten, dann in genuesische Gefangenschaft. Die Tage im Gefängnis ziehen sich wie Kaugummi, und Rustichello reagiert auf die Gefangenschaft mit einer, ebenso verständlichen wie ungesunden, Mischung aus Frustration und Wut.
Um nicht komplett durchzudrehen, und um überhaupt irgend etwas zu tun zu haben, gibt er schliesslich dem Drängen eines Mitgefangenen nach. Der leicht verwildert aussehende Mann, ehemals Kapitän einer venezianischen Kriegsgaleere, fürchtet, das die Genueser ihn nicht mehr lange am Leben lassen werden. Er drängt Rustichello seine Lebensgeschichte aufzuschreiben. Der ist auf übertriebene Kriegsgeschichten gefasst, gewürzt mit der ein oder anderen Schürzenjägerstory, die der Nachwelt den alten Mann als glorreichen Helden zeigen soll. Opa erzählt vom Krieg, gähn.
Rusticchello ist nicht auf die völlig unglaubwürdigen Geschichten gefasst, die ihm stattdessen aufgetischt werden. Der alte Mann erzählt von langen Reisen, auf denen er angeblich viele wunderliche Dinge, Menschen und Tiere gesehen haben will. Einhörner, ewig brennende Brunnenschächte und Papierschnipsel, die so viel Wert wie Münzen sein sollen. Er habe am Hofe eines Königs gelebt, dessen Reich angeblich größer sein soll als die bekannte Welt. Er sei in geheimen Diensten dieses Königs unterwegs gewesen, und als er endlich, nach 24 Jahren, nach Hause zurückkehrte, habe ihn niemand mehr erkannt und selbst seine eigene Familie zweifelte an seiner Identität.
Rusticchello da Pisa schreibt alles auf. Eigentlich hält er es für Unfug, aber der Fremde erzählt so eindrücklich und detailreich, dass er sich nicht hundertprozentig sicher ist, ob nicht doch ein Fünkchen Wahrheit in den Geschichten sein kann. Und selbst wenn nicht: Als Fanatasieroman taugt das Ganze allemal. Nach seiner Entlassung sucht er einen Verleger für dieses Reiseabenteuer, dem er den Titel “Le Livre des merveilles du monde” (Das Buch von den Wundern der Welt) gibt. Es findet keinen großen Anklang, bis es ins italienische übersetzt wird, zunächst unter dem Titel “Libro delle meravigilie del mondo”, dann als “Il Millione”. Seither gab es keinen Reisebericht der öfter gelesen wurde. Ein Bericht über die Reisen des…
Hannover, im Januar 2012. Regen, bedeckter Himmel, nieselgraue Gesichter. Soll hier ja auch schöne Ecken geben, ich habe sie noch nicht gefunden. Es ist kalt, windig und es regnet, regnet, regnet.
Das richtige Wetter um im Bett liegen zu bleiben – oder um ins Museum zu gehen und sich die Sonderausstellung “Marco Polo. Von Vendig bis China.” anzuschauen.
Im Landesmuseum hat man die Geschichte von Maffeo Polo, seinem Bruder Niccolò und dessen Sohn Marco nachgezeichnet. Die Ausstellung folgt dabei der ersten großen Reise der Polos. Von Venedig aus geht es durch Gebirge, die Wüsten, an Seen entlang bis ins innere des mongolischen Reichs und an der Palast des Kublai Khan. Dabei werden einzelne Abschnitte der Reise durch große Tore eingeleitet, in denen die jeweilige Geografie audiovisuell dargestellt wird.
Bei der Abreise aus Venedig sieht man auf´s Meer hinaus und hört Möwen kreischen. Im Tor zur Wüste Goobi überschaut man ein Dünenmeer und hört den Wind heulen. Eine wundervolle Einstimmung auf die dahinterliegenden Räume, in denen zahlreiche Exponate aus venezianischen Museen ausgestellt sind. Rekonstruktionen venezianischer Galeeren, asiatische Metallarbeiten und Schuhe für die widerlich deformierten “Lotosfüße” chinesischer Adelsfrauen wirken zunächst unpassend zusammengewürfelt. Die Lektüre der Schautafeln und großformatige Projektionen erläutern die Bedeutung und stellen Verbindungen her.
Aber erst das Verweilen in einer mongolischen Jurte und dem Lauschen eins halbstündigen Features, das den Aufenthalt der Polos am Hofe des Kublai Khan beschreibt, lässt vor dem inneren Auge des Besuchers ein Bild von dem entstehen, was die Polos erlebt haben müssen.
Der Khan war begeistert von dem jungen, aufgeweckten Marco, der der fremden Kultur so aufgeschlossen begegnete. Schnell machte er ihn zu seinem Abgesandten und schickte ihn ins entlegene Winkel des Riesenreichs. Siebzehn Jahre stand Marco Polo im Dienste des Khan, bis der endlich dem Drängen der Polos nachgab und sie wieder nach Hause entliess. Nicht ohne den Auftrag, diesen “Papst” zu bitten, Gelehrte zu entsenden, auf das der Khan sich mit den christlichen Lehren vertraut machen könne.
Zu Hause glaubte niemand, auch die engsten Angehörigen nicht, das die mongolisch gekleideten Männer, die Italienisch nur noch gebrochen sprachen, tatsächlich Maffeo, Niccolò und Marco Polo waren. Richtig reich waren sie auch nicht zurückgekommen, und so wurden die Polos in Venedig mißtrauisch beäugt. Die Familie errang nie besonders viel Einfluss in der Stadt, und dem Dienst als Kapitän einer Galeere im Krieg gegen Genua konnte sich Marco Polo auch nicht entziehen. So landete er schliesslich im Gefängnis.
Was den Reisebericht des Marco Polo auch heute noch besonders ist, ist die Unvoreingenommenheit, mit der er seine Beschreibungen liefert. Während seine Zeitgenossen die Mongolen als Barbaren aus der Hölle (dem Tartarus, daher kommt der Begriff Tartaren) bezeichneten und als primitive Ponyreiter, ohne die Fähigkeit Häuser zu bauen, darstellten, beschrieb Polo das Volk als hoch zivilisiert, aufgeweckt und geschickte Logistiker und Strategen, die seinen Landleuten in vielen Belangen über waren. Er staunte über die Errungenschaften der fremden Zivilisation und die Maßstäbe, die gänzlich anders waren als gewohnt.
Eine mittelgroße Stadt, so liess er aufschreiben, an einem der Hauptverkehrsflüsse, verfügte über mehr Schiffe als die ganze Republik Venedig. Und das Nachrichtensystem sei so ausgeklügelt, dass der Großkhan binnen eines Tages Nachrichten über Ereignisse erhielt, die 10 Tagesreisen entfernt geschehen waren.
Seine Begeisterung ist seinem Bericht anzumerken, und die Ausstellung spiegelt sie wieder. Prof. Giandomenico Romanelli, Direktor der Stiftung der Museen in Venedig, hat bei der Konzeption gute Arbeit geleistet. Höhepunkt der Ausstellung ist eine Videoinstallation, die auf acht Meter Breite eine Karte der Welt und die Reiserouten der Polos projiziert.
Der Clou: Auf dem Pult vor der Videowand befinden sich rote Kugeln, die die Besucher auf einzelne Stationen der Reise ziehen können. Auf der Videowand werden dazu dann erläuternde Filme, Bilder und Texte gezeigt. Eine tolle Idee, die zum Experimentieren einlädt.
Zweifel an der Polo-Forschung, z.B. ob er wirklich jemals in China war, erwähnt die Ausstellung nur am Rande. Aber, ganz ehrlich: Das stört nicht. Als Besucher ist man von der Reise genauso fasziniert wie es Rusticchello da Pisa gewesen sein muss, als er vor 700 Jahren die Geschichte des venezianischen Galeerenkapitäns aufschrieb. Dadurch wurde am Ende sein Traum Wirklichkeit: Er ist als Schriftsteller in die Geschichte eingegangen. Mit einer Story, die zumindest abbastanza vera, ausreichend wahr, ist.
Marco Polo. Von Venedig nach China.
Sonderausstellung des Niedersächsischen Landesmuseums
Noch bis 26.02.2012
Eintritt 7,- Euro