Magdeburg
Was tun, wenn man an einem einem Samstag Morgen zu früh wach ist und keine Lust auf den anstehenden Papierkram oder die drohende Hausarbeit hat? Nun, erstmal wird beschlossen, aus dem Morgen einen guten Morgen und einen noch besseren Tag zu machen. Dann wird ein Kaffee getrunken, aus der Tasse, die seit 1991 die Lieblingstasse für “Heute-lasse-ich-es-mir-gutgehen”-Tage ist.
Und mit einem Mal so: Magdeburg. Ich könnte mal nach Magdeburg fahren.
Der Gedanke war einfach so da, ganz plötzlich. Aber warum?
Magdeburg, da war ich nicht mehr seit… Anfang der Neunziger. Ich erinnere mich an nieselverregnete Plattenbauten, stinkende Autos und überlaunige Menschen. Gut, aber das ist ewig her. Kann man ja mal nachgucken, ob sich in den letzten, äh, 20 (!) Jahren was getan hat. Also kurz im Netz nachgeguckt, was es heute in Magdeburg so gibt, dann auf´s Motorrad geschwungen und los. So früh am Morgen kann man noch durch den Harz fahren. Später am Tag geht das nicht mehr, denn am Wochenende ist der Harz voller Freizeitrennfahrer, die aus den Niederlanden und Berlin in das kleine Mittelgebirge fahren, weil sie zuhause keine Berge haben. Dann fröhnen sie ihrem Freizeit”-sport” und rasen mit ihren Motorrädern wie die Geisteskranken die Berge hoch und runter und die Kurven links und rechts, Überholen wie die Doofen und benehmen sich auch ansonsten, als wäre alles eine tolle Rennstrecke oder ein Freizeitpark oder ein Videospiel, bei dem man mindestens drei Leben hat. Am Ende des Wochenendes gibt es dann ein halbes Dutzend Bekloppter weniger, und die Feuerwehren der Region puhlen die hässlichen Einzelteile der Freizeitrennfahrer aus den Felswänden und Strassengräben.
Aber die Dummen kommen erst später am Tag aus ihren Löchern, so früh am Morgen ist es einem Freizeithobbymotorradfahrer zu kalt und zu nass, und so haben meine Kawasaki und ich die Landstrasse durch die engen Täler des Harz für uns allein. Eineinhalb Stunden dauert es das Mittelgebirge von Südwest nach Nordost zu queren. Bei Elend (der Ort heisst wirklich so, ist aber eigentlich ganz schön. Sehr lustig die Plakate: “Besuchen Sie unser Freibad Elend”) weicht erst der dunkle Wald, dann die schroffen Felswände. Nach der letzten Bergkuppe öffnet sich unvermittelt die Welt und gibt den, so lange in enge Täler eingesperrten, Blick frei, auf eine weite Ebene. Bis zum Horizont ist alles ohne Berge, aber voller Felder mit goldenem Getreide, grünen Wiesen und vereinzelten Siedlungen. Die letzten 40 Kilometer bis Magdeburg rollen auf einer breiten Landstrasse dahin.
Obwohl die Ferienzeit begonnen hat ist in Magdeburg nichts los. Überall gibt es Parkplätze, und auf den breit ausgebauten Prachtstrassen mit den ebenso breit ausgebauten Fußgängerwegen flanieren nur wenige Einheimische. Am amüsantesten sind noch die Altkommunisten, die vor dem örtlichen McDonalds flammende Reden für Solidarität mit griechischen Stahlarbeitern werben. Es ist wirklich erstaunlich, wieviel Platz man sich in Magdeburg genommen hat. Strassen, Bürgersteige, Plätze – alles ist groß und breit und wunderbar luftig gebaut.
Groß, breit und luftig ist auch der Dom, den sich St. Mauritzius und Katharina teilen müssen. Er ist das älteste gotische Bauwerk in Deutschland, und als Fan der Gotik muss ich sagen: Auch eines der schönsten.
Außen schön verziert, ist er im Inneren eher schlicht gehalten. Es gibt keine Ausmalungen, das ganze Gebäude spricht für sich selbst. Leider gibt es davon keine Bilder, denn eine Fotoerlaubnis muss man kaufen.
Nur wenige Meter vom Dom entfernt trifft man auf moderne Architektur.
Neben Häusern, die fast wie Schiffe anmuten, steht dort auch die Grüne Zitadelle, das letzte Projekt des österreichischen Künstlers Friedrich Stowasser, besser bekannt als Friedensreich Hundertwasser.
Hundertwassertypisch ist kein Element des Hauses identisch mit einem anderen. Kein Fenster und keine Säule findet sich genau so noch einmal, und alles ist in knalligen, intensiven Farben gehalten, ohne dabei billig zu wirken.
Die Grüne Zitadelle ist eigentlich Knallpink, heisst aber anders, weil das Dach mit Gras bewachsen ist. In den Mauern wachsen an manchen Stellen Bäume – die jeweiligen Mieter der anliegenden Wohnungen kümmern sich um diese “Baummieter”. Das Haus, dessen Bau 27 Millionen gekostet hat, soll nach Möglichkeit nicht mehr verändert werden. Die Bäume sollen wachsen, die Farbe verwittern. Mit den Jahren soll sich auch das Haus verändern und altern. Unten im Gebäude gibt es skurrile Geschäfte, wie das “Fabularium – Fachgeschäft für wohlsortierte Buchstaben”. Da dort neben Büchern auch Tee und Seidenschaals verkauft werden, ist es der am zweitbesten duftende Buchladen, den ich je betreten habe.
Nach einem kurzen Abstecher in die Innenstadt, die von einem typischen “Arkaden”-Einkaufszentrum dominiert wird, fahre ich in die Elbauen bei der Messe. Dort irre ich eine halbe Stunde an einem Drahtzaun entlang, bis ich einen Eingang finde. Dort erklärt mir die mürrische Wachfrau, das ich da ohne Karte aber nicht reinkomme – das ganze Naherholungsgebiet ist Eintrittspflichtig! Verkaufen könne sie mir aber keine Karte, dafür sei sie nicht zuständig. Das ist übrigens typisch für Magdeburg – man sieht sein Ziel schoin vor sich, kommt aber nicht hin, weil Baustellen/Wachpersonal/Zäune/Imbissbuden im Weg sind. Während meines Aufenthalts passiert mir sowas genau sieben Mal.
Endlich auf dem Gelände, komme ich tatsächlich auch an das Ziel meiner Reise: Den JAHRTAUSENDTURM.
Der wurde anlässlich einer Gartenschau 1999 gebaut und ist das größte Holzgebäude Deutschlands. 60 Meter hören sich zwar nicht viel an, aber der Turm ist wirklich… RIESIG. Und schief, das ganze ist asymetrisch gebaut. Ich erklettere die Außenrampe, die sich in Spiralen an der Außenseite des Turmes langzieht, bis ich an eine der typischen Baustellen komme und ins Innere des Turmes wechseln muss.
Der Unterschied könnte krasser nicht sein: Draußen weht ein kalter Wind, und der Himmel ist grau und bedeckt. Im Inneren des Turmes ist es warm. Zusätzlich zur Temperatur trägt auch das verbaute Holz zu diesem Eindruck bei. Die Außenwand des Turms besteht aus Folie. Sechs Ebenen hat das Bauwerk, wobei die unterste ein Kuppelsaal ist, so riesig, dass ein ganzer griechischer Tempel, ein Aquädukt und eine arabische Wassermühle sich fast in der Weite verlieren.
Durch die Wände dringt das das Tageslicht, honigfarben gefiltert, ins Innere und beleuchtet die Exponate.
Der Turm ist nämlich ein Museum der Wissenschaftsgeschichte. Mehr als 5.000 Jahre sind, chronologisch geordnet, ausgestellt. Da ich oben im Turm einsteige, arbeite ich mich rückwärts durch die Menschheitsgeschichte vor, von modernen Bildgebungsverfahren bis zu den alten Ägyptern.
Mehrere Stunden verbringe ich im Museum, verliere mich in den Apparaten, Experimenten, Texten und Bildern zu Medizin, Physik, Biologie, Mathematik und Architektur und habe am Ende doch das Gefühl, nicht alles gesehen zu haben. Ich mache einen kurzen Spaziergang durch die Elbauen, den riesigen Park, der bis auf ein paar Guerillagolfer vollkommen leer ist.
Über eine Fussgängerbrücke geht es in einen zweiten Parkteil, neben dem Messegelände. Hier gibt es eine Seebühne und ebenfalls VIEL Platz. Wunderschön, das Ganze, und surreal: Durch die Weite des Parks schallt dezent eine Klavierkomposition, allerdings kommen unterschiedliche Teile aus weit verteilten und versteckten Lautsprechern. Mal wird die Melodie vom Wind fortgetragen, mal scheint sie ganz nahe, und immer verändert sie sich, wenn man sich im Park bewegt.
Ich erreiche die Ecke des Parks, die an den Parkplatz der FH angrenzt. Hier steht die Kawasaki, aber dooferweise schlägt hier das Magdeburgsyndrom zum fünften Male zu: Ich sehe die Maschine, aber ich komme nicht hin – der Ausgang ist verriegelt. Ich muss jetzt also entweder drei Kilometer zurück zum Hauptausgang laufen, dann wieder drei Kilometer bis zum Parkplatz – oder…
Eine, für Außenstehende nicht unkomisch anszusehende, Klettereinlage (immerhin in voller Motorradausrüstung, mit Stiefeln!) über eine Mauer und einen beherzten drei Meter Sprung später stehe ich auf dem Parkplatz, blicke zurück und muss grinsen. Hätte ich das doch eher gesehen:
Ich schwinge mich aus Motorrad. Eigentlich wollte ich mir noch das Wasserstrassenkreuz ansehen, wo sich Mittellandkanal und Elbe kreuzen und die größte Stahltrogbrücke Europas steht. Allerdings versperrt mir eine Baustelle den Weg dorthin, als ich schon in Sichtweite bin – also werfe ich nur einen Blick auf die riesigen Schiffshebewerke und mache mich dann an die Heimfahrt, die nur vom Besuch eines kleinen Landgasthofs unterbrochen wird.
Magdeburg ist schön und es gibt viel zu sehen – hätte ich gar nicht gedacht. Zukünftig werde ich noch öfter auf diese spontanen Einflüsterungen hören. Gibt ja noch mehr unentdeckte Gebiete und Städte, die sich für Kurzreisen anbieten.