Motorradreise 2012, Tag 1: Freiwild

Motorradreise 2012, Tag 1: Freiwild

Herr Silencer war im Juni 2012 mit dem Motorrad in Europa unterwegs. 4.500 Kilometer, über 30 Orte, 16 Tage. Dies ist das Tagebuch der Reise. Sie beginnt unspektakulär, mit Astronautenbären und viel Kaffee.

Ein Bild aus besseren Zeiten, als es nicht regnete.

1. Juni 2012, Göttingen, Niedersachsen

Neulich, also etwa im April, kam das Wiesel am Kalender in der Küche vorbei. Das ist so ein Kalender mit Bildern aus aller Welt. Das Wiesel liebt diesen Kalender, und will immer zu den Orten, die auf dem Kalender abgebildet sind (und manchmal passieren dann komische Dinge).

Im April guckte das Wiesel schon ganz verliebt.

Im Mai nervte es mich mit dem penetrant vorgetragenen Wunsch, die Berge zu sehen.

Im Juni wollte es dann an die Felsküsten des Mittelmeers.

Zu dem Zeitpunkt war ich selbst urlaubsreif. Das war der Moment, in dem ich tief durchatmete. Das ist der Moment, in dem dieses Reisetagebuch beginnt. Wir schreiben den 1. Juni 2012.

Darauf habe ich so lange hingearbeitet. Dafür habe ich das Motorrad gekauft und die viele Ausrüstung gebaut. Dafür habe ich so lange geplant und Vorfreude geschoben. Heut ist der Tag da! Jetzt geht es los! Endlich!
Oder auch nicht, denn als die große Reise losgehen soll, schlägt mein Bad Luck zu. Nicht nur, dass an den Tagen zuvor der Süden Europas von heftigen Erdbeben geschüttelt wurde, nein, am Tag der Abreise gibt es Sturm und Regen. Also frühstücke ich viel länger als geplant und schaue aus dem Küchenfenster in den Regen hinaus. Im Flur stehen die Koffer für das Motorrad, fertig gepackt. Das Wiesel hat mitbekommen wohin es gehen soll, und spontan das Topcase, also den Koffer oben auf dem Motorrad, zur Wiesel-Reiselounge erkoren.

Das Wiesel hat das Topcase zu seiner Reiselounge auserkoren.

Ich überlege ob meine Motorradkombi, die aus Cordura und Leder besteht und mit Sympatex unterlegt ist, für dieses Wetter reicht. Eigentlich ist sie wasserdicht, aber das Obermaterial saugt sich bei starkem Regen und kühlt dann im Fahrtwind stark ab. Außerdem kann es, obwohl sie wasserdicht sein sollte, doch mal zu Wassereinbruch kommen. Für einen Schauer reicht sie locker, aber für stundenlangen Starkregen? Hm. Ich kann mich nicht entscheiden. Erstmal noch einen Kaffee.

Irgendwann regnet es weniger, dann gar nicht mehr. Ich trage die Koffer und die Wiesellounge zum Motorrad und stecke das Navigationsgerät in seine Halterung im Cockpit der Maschine. In genau diesem Moment setzt wieder starker Regen ein. Seufzend gehe ich nochmal ins Haus, ziehe Pullover und Nierengurt aus und quetsche mich in die Regenkombination. Lange Unterwäsche, Textilkombi, Regenkombi, schwere Stiefel, dicke Winterhandschuhe, Helm – ich fühle mich wie ein Bär. Ein Bär, der in einen Astronautenanzug eingesperrt ist.

Bär im Astronautenanzug. Nein, ich wiege im echten Leben keine 150 Kg. Ohne zwei Kombis übereinander habe ich einen BMI von 22,5.

Aber egal, heute muss ich in dem Aufzug ja nicht durch die Gegend laufen, sondern nur auf dem Motorrad sitzen. Die erste von zwei Transitetappen DER REISE führen mich von Göttingen ins fast 600 Km entfernte München. Dort wohnt Frau B., die dem Wiesel damals China gezeigt hat, und bei ihr werden Wiesel und ich Zwischenstation machen.

In voller Bärenmontur geht es über die Autobahn. Nur mit Tempo 120, denn schneller sollte ich nicht fahren, sagt der Hersteller der Koffer. Außerdem habe ich ja den ganzen Tag Zeit, also fahre ich nur schneller wenn ich überhole. Ich will ja nicht, dass ich irgendwann im Rückspiegel einen Koffer durch die Windschutzscheibe eines nachfahrenden Autos fliegen sehe.

Es regnet, der Verkehr ist dicht, ich ziehe meine Bahn durch die Wasserschleier. So spulen sich die ersten 250 Km ereignislos dahin. An der Raststelle Rhön mache ich den ersten Tankstopp und vertrete mir Kurz die Beine, dann geht es weiter. Ereignislos zieht Autobahnkilometer um Autobahnkilometer vorbei. Es ist eintönig, und meine Gedanken gehen auf Wanderschaft. Unter dem Helm bin ich auch recht isoliert. Bei lange Strecken, oder solchen mit höheren Geschwindigkeiten, fahre ich nur mit Gehörschutz in den Ohren. Glauben einem die Autofahrer immer gar nicht, WIE verdammt laut Fahrtwind ist. Angeblich reichen schon 10 Minuten bei 160 km/h auf dem Motorrad, um das eigene Gehör dauerhaft zu schädigen. Bei niedrigen Geschwindigkeiten dauert es nur wenig länger. Das ist der Grund, weshalb Motorradpolizisten oft schwerhörig sind.

Langweilig: 520 Kilometer Autobahn von Göttingen nach München.

Kurz hinter der Grenze zu Bayern wird das Wetter besser. Es regnet nicht mehr, und das Grau des Himmels weicht langsam einem tiefen Blau. Noch traue ich dem Frieden nicht und behalte die Regenkombi an, die im Fahrtwind schnell trocknet. Weiter spule ich Kilometer um Kilometer ab, bleibe meist rechts und schwenke nur zum Überholen raus.

Immer das gleiche Prozedere: Rückspiegel gucken ob linke Spur frei, Blinker setzen, Schulterblick, rausziehen. Wenn ich mit dem Motorrad unterwegs bin, nehme ich mir auch den Platz, der mir zusteht. Auf der linken Spur fahre ich dann natürlich in der Mitte und nicht verschämt am Mittelstreifen. Und da das Motorrad mit den Koffern fast so breit ist wie ein Kleinwagen, nimmt es auch wirklich Platz ein. Deswegen falle ich vor Schreck fast von der Maschine, als mich ein verrückter Audi links überholt, während ich auf der linken Spur fahre. Ich hatte den im Rückspiegel gesehen – da war er ganz weit weg. Dann habe ich geblinkt und bin mit 160 rausgezogen, und der Depp hatt nicht gebremst, sondern ist hupend mit wenigen Zentimetern Abstand an mir vorbeigeschossen OHNE seine Fahrt auch nur ein wenig zu verlangsamen.
WTF?!

Aber es wird noch besser. Kurze Zeit später will ich von der mittleren auf die rechte Spur wechseln, und verfehle nur um wenige Zentimeter einen Passat, der mich gerade rechts mit locker 200 überholt. Bekloppter, denke ich, und während ich dem Irren noch die Faust mit dem erigierten Mittelfinger hinterherschüttele, drückt mich ein Lieferwagen von links fast in die Leitplanke. WAS GEHT DENN HIER AB?? Offensichtlich ist in Bayern die Jagd auf Motorräder eröffnet, die sind hier Freiwild. Ich ziehe in den Rastplatz “Weißer Garten” kurz hinter Nürnberg, steige ab und atme erst einmal tief durch. Das fängt ja alles gut an.

Wenigstens ist das Wetter seit der Überschreitung der bayerischen Grenze besser. Es stürmt und regnet nicht mehr, dafür gibt es strahlend blauen Himmel, Sonnenschein und quakende Frösche im “Weißen Garten”. Ich schäle mich aus der Regenkombi, gönne mir einen Apfel und einen Schluck Wasser, dann geht es weiter. Gegen 18.30 Uhr komme ich in München an.

Bei Frau B. hat das Motorrad einen Platz in der Batcave und steht im Trockenen.

Das Navi führt mich zielgerichtet in den Münchner Westen, und kurze Zeit später stelle ich die Kawa vor dem Haus von Frau B. ab. Die Dame hat mit dem Wiesel Abenteuer in China erlebt, und die beiden fallen sich sofort in die Arme und schwelgen in Erinnerungen, während ich mich erst in einen Biergarten zurückziehe, um dann, nach dem Genuss eines Jägerschnitzels und eines Hefeweizens, kurz vor Mitternacht auf Frau B.s Couch in Tiefschlaf zu fallen. Der Tag war unspektakulär, aber hey, wenigstens lebe ich noch.

Lesen sie in Teil 2: Die Wahrheit über München.

4 Gedanken zu „Motorradreise 2012, Tag 1: Freiwild

  1. Wenn ich solche Geschichten höre, dann find ich meine bewusst gewählte Fahrscheinlosigkeit gar nicht mehr so dumm. Ich hab verdammten Respekt vor solchem Zeug. Dass du die Reise gut überstanden hast, weiss ich zum Glück aus erster Hand. 😉

    Bin schon gespannt auf die kommenden Wochen!

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