Motorradreise 2012, Tag 7: Lara Croft, die Entdeckung der Langsamkeit und ganz viel Käse
Silencer war im Juni 2012 mit dem Motorrad in Europa unterwegs. 4.500 Kilometer, über 30 Orte, 16 Tage. Dies ist das Tagebuch der Reise. Am siebten Tag hängt der Himmel voller Schinken, die Laune teilweise im Keller und es werden 40 Kilometer im Schritttempo gefahren.
Donnerstag 7. Juni 2012, 6:15 Uhr, Landstrasse zwischen Siena und Volterra
Die Kawasaki zerteilt den dichten Nebel und zieht eine gut sichtbare Schleppe aus Wirbeln hinter sich her.
Außen auf dem Helm sammelt sich das Wasser des Nebels, innen im Helm fluche ich leise vor mich hin. Es ist erst kurz nach sechs Uhr Morgens als ich Siena verlasse, und die Welt ist in Nebelwatte gepackt. Fast eine Stunde fahre ich durch diese unwirkliche Grauwelt. Fauglia, mein heutiges Ziel, liegt witzigerweise ohnehin auf meiner Reiseroute. Allerdings hatte ich eine Übernachtung dort erst für später geplant, wenn ich Siena verlasse und weiterziehe.
Kurz vor Colle di Val d´Elsa, nordöstlich von Siena, schraubt sich die Strasse in engen Serpentinen einen Berg hinauf, und dort durchstoße ich plötzlich die Nebelgrenze. Ein magischer Moment: Von oben blicke ich auf eine golden beschienene Landschaft aus Hügeln und Bergen hinab, in deren Niederungen und Tälern der Nebel herumschwappt. Der Anblick ist atemberaubend.
Glaubt man ja gar nicht, aber auch auf den Bergstrassen gibt es Berufsverkehr. Immer wieder muss ich Transporter mit Obst und Handwerkern und lustige Kleinwagen überholen. Das ist meist kein Problem, weil die Beschleunigung der Kawasaki irrwitzig ist; ein Dreh am Gasgriff, der Motor brüllt auf und die Maschine macht einen Satz nach vorne und ist schon vorbei. Auf der engen und unübersichtlichen Landstrasse geht mein Puls dabei trotzdem jedesmal in die Höhe.
Um Kurz nach halb acht halte ich an und mache eine kurze Pause. Die Sonne scheint, und am Horizont zeichnet sich die Bergkette ab, die von Volterra gekrönt wird.
Der Nebel ist verschwunden, und mit ihm die klamme Feuchtigkeit. Was geblieben ist, ist meine Flucherei. Ich ärgere mich nicht… Ich bin nervös, tierisch nervös. Immer wieder sage ich meinen Standarsatz vor mich hin “Es tut mir leid, mein italienisch ist schlecht. Ich lerne die Sprache, aber erst seit einem halben Jahr. Mir fehlen noch viele Worte.”
Ob mir das bei der anstehenden Herausforderung helfen wird? Vermutlich nicht. Aber ich bin ja selbst Schuld. Ich wollte ja interessante Dinge erleben.
Meine Italienschlehrerin arbeitet bei einem Delikatessenimport, und ich hatte sie gefragt, ob sie nicht ein paar Lieferanten wüsste, die ich vielleicht besuchen und mal hinter die Kulissen gucken könnte, weil ich mehr über Lebensmittel und deren Herstellung wissen möchte.
Daraufhin hatte sie mir eine Liste mit einigen Adressen gegeben, u.a. von einer Kaffeeröstereei in Pisa, einer Schlachterei im Chianti und einer Käserei in der Nähe von Livorno. Zu letzterer hat meine Lehrerin ein ganz besonderes Verhältnis und mir gesagt, ich solle die mal anschreiben, vielleicht wäre eine Führung möglich. Das hatte ich getan, aber nachdem lange keine Antwort kam, hatte ich das abgehakt. Bis vorgestern Abend die Mail eintraf mit einem knappen
“Ok ti aspetto giovedi alle 9,30.
E.Marconi
TIM: la tua mail in mobilità con il BlackBerry®”
Auf dem kleinen Rastplatz an der Landstrasse laufe ich nervös hin und her. Ich, der es eigentlich gewohnt ist mit fremden Menschen umzugehen, der des gelegentlich Vorträge vor Hunderten von Leuten halten muss und das, so bilde ich mir gerne ein, ganz gut hin bekommt – ich bin nervös wie ein kleiner Schuljunge, der an der Tafel vorrechnen soll und nur “…” rausbekommt. Diese Reise sollte eine Reise der Herausforderungen sein. In der Tat, DAS HIER ist eine Herausforderung. Meine Italienischlehrerin hatte mich vorgewarnt, dass die Leute in der “Caseificio Busti” sehr traditionell drauf sind und nur italienisch sprechen würden.
Nur italienisch? Und dann eine Betriebsbesichtigung nur auf italienisch? Das wird eine Katastrophe. Ich werde nichts verstehen, kann nichts fragen und die werden mich für einen Idioten halten, was unmittelbar auf meine Lehrerin zurückfallen wird.
Diesen E. Marconi hatte ich gleich mal gegoogelt und war darauf gestossen, dass das “E.” für Enzo steht und er der Marketingmanager der Caseificio ist. Das Bild dazu zeigte einen gegelten Jüngling in den Zwanzigern mit Riesensonnenbrille und rosa Poloshirt mit aufgestelltem Kragen, also exakt der Typ jugendlicher BWL-Yuppies, die ich auf den Tod nicht ausstehen kann, und die im allgemeinen unter Selbstüberschätzung und Überheblichkeit leiden.
Ich steige wieder auf und fahre weiter durch die Sommerlandschaft. Links und rechts der schmalen Strasse sind abgeerntete Getreidefelder, über die kleine Traktoren tuckern und Heuballen einsammeln. Warum habe ich das nur gemacht? Neugierde und so, gut und schön, aber ich bin sprachlich noch nicht so weit. Warum will ich immer alles sofort ausprobieren? Nächstes, vielleicht übernächstes Jahr, aber JETZT doch noch nicht! Hätte ich mir doch bloss mehr Zeit gelassen… ja, ich bin wirklich nervös.
Ich bin zwanzig Minuten zu früh in Fauglia. Weil zu früh kommen genauso unhöflich ist wie zu spät, suche ich mir einen Parkplatz außer Sichtweite und inspiziere in meiner Nervosität die Kawasaki. Mehrfach. Ein klein wenig stolz bin ich, als ich merke, bis wohin die Reifen abgefahren sind. Dafür, dass ich vor einigen Wochen nur in der Mitte eine Abnutzungsspur hatte, ist das Reifenbild nun wirklich ordentlich:
Der Engel ist schon lange weg, und bis zum Rand des Reifens zieht sich die Abnutzung, was bedeutet: Ich fahre Kurven, und zwar in Schräglage! Das habe ich alles dem Kurventrainig vom April zu verdanken, ohne das würde ich das nicht hinbekommen und viel weniger Freude am Fahren haben.
20 Minuten später starte ich wieder das Motorrad und rolle 100 Meter die Strasse hinunter, um dann in den Hof der Caseificio Busti (Caseficio = Käserei, wird Ka-se-fitschio ausgesprochen) einzubiegen. Eine alte Fabrikhalle steht auf der rechten Seite, ein kleines Geschäft auf der linken. Dazwischen stehen ein paar Frauen in weißen Kitteln und ein kleiner, älterer Herr mit schlohweißem Haar, der heftig gestikulierend telefoniert. Ich parke die Kawasaki auf dem Natursteinparkplatz, steige ab und verstaue Helm und Handschuhe im Topcase.
Der weißhaarige Mann kommt auf mich zu, stellt sich vor mich hin und strahlt mich an. “Enzo?” frage ich. “Enzo Marconi?”
“SI! Ich bin Enzo”, sagt Enzo auf italienisch, “Und Du bist der Studente von Dotoressa Patrizia, der alles über Pecorino wissen will!”
Enzo strahlt und radiiert Freundlichkeit aus jeder Pore. Er sieht ein wenig aus wie ein mittelalter Ernest Borgnine, ist sonnengebräunt und hat blitzende Augen. Keine Ahnung, wer der Typ auf dem Bild im Internet ist, unter dem E.Marconi stand, dieser Enzo hier ist das jedenfalls nicht. Finde ich gut. Der alte Man hat viel Energie und stellt in einem fort Fragen, merkt aber sehr schnell, dass ich viel nicht verstehe und mir zum Antworten oft auch einiges fehlt – noch bevor ich meinen Standardsatz herausgewürgt habe. Fängt ja gut an… wenn ich schon den Smalltalk nicht verstehe, wie soll ich die Feinheiten der Käseherstellung begreifen.
“Nessuna Problema”, sagt Enzo, “la Dottoressa spricht dieses… Englisch.” Das letzte Wort spricht er mit einem verächtlichen Tonfall aus. Dann zückt er sein Handy, beginnt aufgeregt zu telefonieren und bedeutet mir, ihm zu folgen. Ich gehe neben ihm die Hauptstrasse von Fauglia entlang, und als er das Handy wegsteckt, strahlt er wieder. “Komm, die Dottoressa wartet. Und pass auf, hier fahren Autos!” Klar, bestimmt zwei oder drei pro Stunde…
Enzo führt mich zu einem Gebäude, so groß wie drei Einfamilienhäuser. Das sei, erklärt er wortreich und mit stolzem Blick, der Neubau, die neue, größere und bessere Caseificio. Ganz fertig ist das Gebäude noch nicht, im Erdgeschoß, das wir betreten, wird noch umgebaut, aber die Produktion läuft schon.
Ich sehe mich in der kleinen Empfangsecke um, als sich plötzlich eine Tür öffnet und eine Frau Göttin in den Raum schwebt.
Man hat ja manchmal so Momente, in denen die Zeit langsamer läuft und man alles intensiver wahrnimmt. Dieses Phänomen ereignet sich jetzt gerade bei mir. Das Licht ist heller und funkelt, während die Dame in Zeitlupe heranschreitet. Selbst die sterile Arbeitskleidung schafft es nicht, ihre atemberaubende Physignomie zu verbergen. Das kastanienbraune Haar ist streng zurückgebunden. Die langen Beine stecken in weißen Leinenhosen und rutschfesten Arbeitsschuhen. Der weiße Laborkittel spannt über einem schwarzen Tanktop, dass sich durch den Kittelstoff erahnen lässt.
Während ich in den Untiefen ihrer Braunen Augen ertrinke, zieht die Göttin eine der feingeschwungenenen Augenbrauen in die Höhe, öffnet die vollen, roten Lippen und sagt etwas. Ich gucke etwas belämmert auf die Hand, die sie mir entgegenstreckt. Plötzlich tut es einen Schlag, und die Zeit läuft wieder normal. Enzo hat mir mit der flachen Hand auf die Schulter geschlagen und strahlt mich an “Darf ich vorstellen? La Dottoressa Lara”. Ich ergreife die Hand der schönen Lara und stelle mich formvollendet vor.
Zumindest ist das der Plan, ich bringe aber nur ein “Gnah” heraus, während ich sie anstarre, vermutlich mit einem nicht ganz intelligenten Gesichtsausdruck. “Enzo”, sagt sie auf italienisch, “hast Du unserem Gast schon einen Kaffee angeboten? Wo sind Deine Manieren?” und zu mir gewandt fährt sie auf Englisch fort “Ich bin Lara, und ich zeige Dir, wie wir hier Käse machen”.
Und das tut sie dann auch. Lara, die frappierend an eine real-life Lara Croft erinnert, ist für die Qualitätssicherung zuständig und spricht perfektes Englisch.
Zunächst muss ich mich aber aber als Müllsack verkleiden. Ich bekomme sterile Plastikkleidung, die ich noch über meine Motorradkombi ziehen muss, dazu Handschuhe, Haube und Überzieher für die Schuhe. Enzo lacht sich kaputt, während er versucht sich einen der Plastikschuhe über den Kopf zu ziehen. Als die Plastikbeutel endlich alle korrekt angelegt sind, müssen wir durch große Becken im Boden waten, die ca. 3 cm hoch mit Desinfektionsflüssigkeit gefüllt sind.
Zuerst zeigt Lara mir große Bottiche, in denen Milch mit Bakterien versetzt wird und reift, während immer wieder der PH-Wert gemessen wird. Das machen Marco und Andrea Busti, zwei Brüder Anfang 30 und Chefs der Caseificio, höchst selbst. Je nachdem welche Sorte sie herstellen wollen, geben sie Enzyme dazu, rühren, messen, notieren und rühren noch mehr. Hier, kapiere ich, geschieht das Wunder der Käseherstellung. Alles spätere ist Routine, aber das hier ist die Kunst und das Betreibsgeheimis. Wenn die Masse dick wie Joghurt ist, wird sie von Saiten in kleinste Teile zerschnitten und dann in Formen gestrichen. Der Prozess ist bemerkenswert: Die Saiten fangen an zu schneiden und rotieren durch die Masse, immer und immer wieder, und die Stücke werden immer kleiner und kleiner. Anfänglich sind sie mehrere Kubikzentimeter groß, später nur noch Millimeter.
Die, quasi pürierte, Masse wird in Formen gestrichen:
Die Formen werden eingelagert, je nach der Sorte des Käses kürzer oder länger und bei unterschiedlichen Temperaturen und Luftfeuchtigkeiten. Manche Käseformen werden auch in eine Höhle in der Nähe von Garfagnano gebracht, wo sie in Strohhüllen reifen. Dieser Höhlenkäse ist besonders Geschmacksintensiv. Ich bin erstaunt, wie viele verschiedene Sorten Pecorino hier gemacht werden. Unterschiedliche Reifegerade sehe ich genauso wie Pecorino mit Nüssen, Pistazien, Mandeln, Pfeffer oder mit Tomatenmarkhülle.
Im Moment, erklärt Lara, arbeiten sie in der Caseificio an fünf Tagen. Im Winter, wenn es nicht so viel Milch aus der Region gibt, kommt es vor, dass sie nur an zwei oder drei Tagen arbeiten. Aber trotzdem können die Menschen von der Arbeit die sie hier tun, ihre Familien ernähren. Auch, wenn sie “nur” Käseeinstreicher sind oder Tomatenmarkeinmassierin. Von einer gering qualifizierten Arbeitsstelle seine Familie ernähren können – ist das nicht ein tolles Arbeitsmodell?
Enzo ist Lara und mir die ganze Zeit brav hinterhergedackelt und hat die Zeit, während Lara mir Dinge erklärt, genutzt um JEDE Mitarbeiterin persönlich zu begrüßen und anzuschäkern. Plötzlich reisst er sein Handy heraus, spricht erst aufgeregt, dann nachdenklich, legt auf, guckt die Dottoressa und mich an, reisst plötzlich die Augen auf und die Arme in die Höhe und ruft auf italienisch “Ich bin Großvater geworden!”. Lara fällt ihm um den Hals, und ich versuche “Herzlichen Glückwunsch” pantomimisch darzustellen, weil mir die Worte dafür fehlen. Enzo tanzt derweil herum und knutscht die Damen in der Verpackungsabteilung ab. Lara zieht eine Braue hoch und raunt “Das ist das vierte Mal, das er Großvater wird. Ich glaube, er macht das nur, damit er uns alle hier küssen kann”.
Nach fast zwei Stunden Rundgang durch Klimakammern, Labore, Lager und Verpackungsabteilungen verabschiede ich mich von Dottoressa Lara. Enzo führt mich noch in den kleinen Laden der Caseificio, wo er mir große Stücke feinen Pecorino einpackt und mich bittet allen zu erzählen, dass die Caseificio Busti den besten Käse der Welt macht und hier die nettesten Käsehersteller überhaupt arbeiten. Dieses Versprechen habe ich hiermit eingelöst.
Kurze Zeit später summt die Kawasaki in sengender Mittagshitze über eine breite Landstrasse an den Bergen von Empoli und dem kleinen Ort Vinci vorbei. “Nicht heute”, denke ich grinsend. Den Besuch von Leonardos Heimatdorf hebe ich mir für den Herbst auf (HIER nachzulesen). Heute lasse ich Vinci und Florenz links liegen und düse ins Chianti, das wundervoll grüne und hügelige Weinanbaugebiet. es ist wirklich erstaunlich, wie sich hier die Landschaft innerhalb einer Stunde komplett ändern kann. Grüne Hügel, Getreidefelder, Berge, Küste – die Toskana ist überaus abwechselungsreich.
Der Weg führt mich nach Greve in Chianti, wo ein zwei Meter großer, schwarzer Hahn, das Wahrzeichen des Chianti, auf dem Marktplatz herumsteht. Ich besuche hier die Antica Marcelleria Falorni, wo Fleisch auf traditionelle Art verarbeitet wird. Hier hängt der Himmel voller Schinken, und die Wildschweinsalami aus einer alten, toskanischen Rasse ist ein Gedicht. Ich kaufe gleich mehrere Salsicce di Cinghale (Wildschweinwürste). Ich esse nicht viel Fleisch, aber das hier… hat eine Qualität und einen Geschmack, sowas habe ich vorher noch nie probiert.
Da es erst Mittag ist, fahre ich nach Siena zurück und will den Dom besuchen. Der ist auch zu Hause (Haha), aber leider geschlossen. Da mein altes, in Venedig gekauftes, Tagebuch voll ist, kaufe ich in der Stadt einen neuen, in Leder gebundenen Reisebegleiter. Dann schwinge ich mich wieder auf die Kawa und zockele durch den Stadtverkehr in die Berge nördlich von Siena. Die Vielfahrerei verschleisst Material: Meine rechte Hand, mit der das Gas bedient wird, tut weh.
Auf dem Weg begegnen mir lustige Figuren: Der Mann mit dem Kopf in der Zypresse und das zugehörige Mädel sind gut drei Meter groß!
Nördlich von Siena gibt es (noch) einen Skulpturengarten, und den möchte ich mir ansehen. Kurze Zeit später parke ich das Motorrad und gehe über einen staubigen Weg auf ein schmiedeeisernes Tor zu, das gerade von einer alten Frau verschlossen wird. Ja, sicher, der Skulpturengarten habe immer bis Sonnenuntergang geöffnet. Nur heute nicht, heute habe sie keinen Bock auf Besucher.
Aha. Äh.
Verärgert gehe ich über die staubige Schotterpiste zur Kawasaki zurück, nehme den Helm aus dem Topcase und will ihn aufsetzen.
In genau diesem Moment fällt mir etwas Schweres auf den Kopf. Als es mich trifft, weiß ich auch schon was es ist, und ärgere mich noch mehr: Ich habe vergessen, dass ich das Navigationsgerät in den Helm gesteckt habe. Das Gerät sieht nicht nur aus wie ein Ziegelstein, es ist auch so schwer. Fluchend presse ich eine Hand auf die leicht blutende Stelle und hebe mit der anderen das Navi auf, das nun ein paar Macken im Gehäuse hat. Was für ein Mist. Aus dem Topcase meine ich das Wiesel hämisch kichern zu hören.
Ich bin sauer und beschliesse, das es Zeit ist, mir was Gutes zu tun. Ich wollte schon immer mal in Monteriggioni essen gehen, warum nicht heute? Vielleicht kann ich sogar Giulia, die schöne Fremdenführerin, zu einem Rotwein einladen.
Bei dem Gedanken bin ich gleich wieder besser gelaunt und düse mit dem Motorrad Richtung Westen. Eine halbe Stunde später stelle ich die Maschine auf dem Parkplatz unterhalb des Festungsdorfes ab und taste nach meinem Schlüsselbund.
Und greife ins Leere.
In der gewohnten Tasche ist er nicht.
Schnell klopfe ich die anderen Taschen ab.
Nichts.
Ich bleibe ruhig. Kann ja nicht weg sein, denke ich, sonst würde ja das Topcase offen sein müssen. Ich gehe um das Motorrad herum. Das Topcase IST offen.
In Sekunden läuft vor meinem inneren Auge ab, was geschehen ist. Der Schlüsselbund hing am Topcase, als ich den Helm aufgesetzt habe. Dann fiel mir das Navi auf den Kopf, so dass ich abgelenkt war und losgefahren bin ohne den Schlüssel abzuziehen. Dann muss er unterwegs verloren gegangen sein.
Fluchend programmiere ich im Navi den Weg zurück zum Skulpturengarten. Dooferweise rechnet es einen anderen Weg als zuvor. Drei Mal muss ich mit unterschiedlichen Routen experimentieren, bis ich den zuvor gefahrenen Weg wieder in der Anzeige habe. Dann fahre ich los, ganz langsam, die Augen immer auf die Strasse gerichtet, in der Hoffnung, den Schlüsselbund zu entdecken. Wenn man mit wenig mehr als Schrittempo unterwegs ist, sieht man viel mehr Details. So stelle ich mir die Entdeckung der Langsamkeit vor.
Kilometer um Kilometer suche ich die Strasse ab. Zwar habe ich in meinem rechten Stiefel einen Reservezündschlüssel und unter der Sitzbank einen kompletten Satz Zweitschlüssel für Koffer, Topcase und Navi für genau solche Notfälle versteckt, aber einfach aufzugeben und nicht zu suchen, das kommt nicht in Frage. Ich muss an die Geschichte mit den Handschuhen denken. Nein, aufgeben kommt nicht in Frage.
——————————————————————————————————–
Die Geschichte mit den Handschuhen
Ich war vielleicht sieben oder acht Jahre alt. Es war Winter, und ich war mit meinen Klassenkameraden auf dem Heimweg von der Grundschule. Plötzlich stellte ich fest, dass einer meiner Handschuhe weg war. Ich lief die letzten Strassen zurück und suchte, fand ihn aber nicht auf Anhieb. “Ist bestimmt nicht so schlimm”, sagten meine Klassenkameraden, die einfach nur nach Hause wollten “Handschuhe kann man neu kaufen”.
Zu Hause angekommen gestand ich meiner Mutter den Verlust. Von “Ist doch nicht so schlimm” wollte sie nichts hören, sie fand es schlimm, dass ein neuer Handschuh abhanden gekommen war. Sie warf sich einen Mantel über und ging raus ins Schneegestöber. Zwei Kilometer lief sie zurück bis zur Schule. Am Ende fand sie den Handschuh in einem Schneehaufen. Er war mir runtergefallen, und zwar genau an der Stelle, an der ich seinen Verlust bemerkt hatte.
Die Geschichte hat mich zwei Dinge gelehrt: 1. Achte auf Dein Zeug, auch wenn es vielleicht leicht zu ersetzen ist. Und 2.: NIE zu früh aufgeben. Aufgeben ist keine Option.
——————————————————————————————————
Im Schritttempo zockele ich um die letzte Kurve und bin wieder auf dem Parkplatz des Skulpturengartens. Mehr als eine Stunde war ich unterwegs, gefühlt im Schrittempo.
Ich finde die Stelle, an der mir das Navi auf den Kopf gefallen ist, aber leider keinen Schlüssel. Verdammter Mist. Die grobe Methode, ganz einfach den ganzen Weg abzusuchen, hat nicht funktioniert. Jetzt ist Köpfchen gefragt. Aufgeben ist keine Option.
Ich fahre wieder los, im Schrittempo. Angstrengt spähe ich auf die Fahrbahn. Das es schnell dunkel wird, macht die Sache nicht einfacher. Meine Augen spielen mir Streiche.
Da ist der Schlüssel! Ach doch nicht, nur ein Stein. Aber dort, ist er das? Nein, doch nur ein Stein.
Denk nach… Wenn Du sein Schlüssel wärst, wo würdest Du runterfallen?, frage ich mich.
Und plötzlich weiß ich es. Fünf Kilometer vom Skulpturengarten entfernt haben Baumwurzeln die Strasse in eine Huckelpiste verwandelt. DORT würde ich runterfallen, wenn ich ein am Topcase vergessener Schlüssel wäre!
Ich drehe am Gasgriff, und die Kawa brüllt und beschleunigt in Sekunden von Schrittgeschwindigkeit auf über hundert Stundenkilometer. Der Fahrer des dreirädrigen Piaggios, der mich gerade überholen wollte, schüttelt -zu recht- seine Faust hinter mir her.
Wenige Minuten später bin ich an der Stelle mit den Baumwurzeln. Aber keine Spur vom Schlüssel. Vorsichtig und langsam fahre ich die Strecke ab, und kurz vor dem Ende der Buckelpiste sehe ich aus dem Augenwinkel etwas im Schmutz am Fahrbahnrand liegen. MEIN SCHLÜSSELBUND!
Erleichtert halte ich an und sammele die untreue Schliesseisensammlung ein. Ich bin froh, dass ich meinen Vermietern nicht erklären muss, dass einer der Schlüssel zur Schliessanlage des Hauses irgendwo in Italien verschollen ist. Die hätten bestimmt Angst, dass ein Italiener den findet, errät zu welchem Haus er gehört, dann 1.800 Kilometer fährt um ihnen den röhrenden Hirsch von der Wand zu klauen. Bei dem Gedanken muss ich grinsen.
Ich fahre zurück nach Monteriggioni. Mittlerweile ist es dunkel, und das Festungsdorf ist prächtig beleuchtet. Nach einer kurzen Runde für ein paar Fotos geht zurück nach Siena, wo Stefano vor dem Casa Brescia sitzt und sich schon Sorgen gemacht hat wo ich wohl bleibe. Ich gehe sofort duschen und dann ins Bett. Das war ein langer und ereignisreicher Tag. Sowas wie die Nummer mit dem Schlüssel brauche ich nicht nochmal.
Lesen Sie im nächsten Teil: Blümchenpflücker im Backofen.
5 Gedanken zu „Motorradreise 2012, Tag 7: Lara Croft, die Entdeckung der Langsamkeit und ganz viel Käse“
Und keinen Pecorino mitgebracht. Das ist wirklich sehr, sehr traurig.
Oh ja, ich trauere am meisten. Aber bei der Hitze wäre der in den schwarzen Koffern geschmolzen oder all meine Sachen hätten danach gerochen. Zum Glück gibt es Pecorini von Busti auch in Göttingen zu kaufen. Nur leider die Höhlensorte mit dem Stroh nicht.
nur eine kurze Frage: wo ist gleich das Foto der Käse-Göttin? 🙂
Jedes mal, wenn ich einen deiner Reiseberichte nach Italien lese, verspüre ich den Wunsch, selbst sofort wieder weg zu fahren.
Danke für die Erinnerung, dass es nach dem Winter auch wieder einen Sommer gibt.
Markus: Darf ich nicht veröffentlichen, leider.
Kenny: Macht mir auch gerade viel Spass in den Erinnerungen zu schwelgen. Macht den Januar erträglicher.