Motorradreise 2012, Tag 8: Blümchenpflücker im Backofen
Silencer war im Juni 2012 mit dem Motorrad in Europa unterwegs. 4.500 Kilometer, über 30 Orte, 16 Tage. Dies ist das Tagebuch der Reise. Am achten Tag gerate ich erst in einen Sandsturm, dann in einen Backofen, und schließlich finde ich die Zauberfrau nicht mehr. Ausserdem werde ich befühlt.
Freitag, 8. Juni 2012. Casa Brescia, Siena, Toskana.
“Und was dann?”, fragt Stefano, während er mir noch einen doppelten Espresso zu meinem halben Topfkuchen hinstellt. “Dann bin ich so lange im Schrittempo rumgefahren, bis ich den Fuck-Drecks-Schlüssel gefunden hatte”, sage ich. “Bäh. Was für ein Scheiß”, sagt Stefano. “Du hast übrigens die brasilianischen Models verpasst. Im Ernst, ein Auto mit vier Models, die auf Europaurlaub waren. Kamen gestern Abend aus Florenz und sind heute schon ganz früh weitergefahren nach Rom”. Ich seufze gequält und vergrabe den Kopf in den Händen.
“Ist alles in Ordnung?”, erkundigt sich eine brüchige Stimme vom Nebentisch. Sie gehört der älteren Dame, die heute Morgen mit ihrem Mann am Nebentisch im Frühstücksraum des Casa Brescia sitzt. Jill und Allen, so heissen die beiden, kommen aus Australien und reisen 5 Wochen durch Europa. Beide gehen schon stramm auf die 80 zu und wirken gebrechlich, sind aber dennoch mit einem Mietwagen aus Paris angereist. “Ach, ich habe nur was verpasst”, seufze ich. Stefano klopft mir lachend auf den Rücken und meint “Tu Dir heute mal was Gutes. Tritt mal kürzer. Nicht jeden Tag so viel machen.” Ich grummele vor mich hin. Eine Wagenladung brasilianscher Models. Oh man.
Ich beschließe, es heute noch mal mit dem Dom zu probieren. Eigentlich sollte der um halb Zehn öffnen, aber als ich davor stehe, ist alles verrammelt. “Dice-Trento”, sagt der Hausmeister und stützt sich auf seinen Besen. 10.30 Uhr, na gut. Habe ich ja noch Zeit. Ich könnte… Oh, ein Rathausturm! Auf solche Dinger muss ich ja immer draufklettern, keine Ahnung warum. Aber leider ist auch der noch geschlossen und macht erst um 10.00 Uhr auf, also setzt ich mich ein wenig auf den berühmten Campo und beobachte das Treiben. Müllmänner gehen ihrer Arbeit nach, Cafébesitzer fahren die bunten Markisen aus und die ersten Touristen traben im Gänsemarsch ihren Führerinnen hinterher, die lustige Stoffblumen oder Regenschirme hochhalten, damit immer alle sehen, wo sie sind.
Um kurz vor 10 setze ich mich im Innenhof des Rathauses in eine Mauernische vor der Turmtür und warte. Jetzt treffen im Minutentakt weitere Leute ein, die auf den Turm wollen. Die Turmuhr schlägt 10, aber nichts passiert. Der Turm ist zu. Vermutlich trinken die Aufseherinnen noch ein Piccolöchen vor dem Tagesbeginn. Damit ich nicht am Ende eine Hundertschaft Rentner vor mir habe, erhebe ich mich aus meiner Nische und stelle mich vor die Tür.
Eine Frau, eine attraktive Mittvierzigerin in einem geblümten Kleid, lacht mich an “Keine Bange”, sagt sie auf Englisch, “wir haben gesehen, dass sie vor uns hier waren.” “Schon gut”, brumme ich. Ich stehe sowieso lieber. Nachdem ich eine Minute oder so in der Gegend rumgestanden habe, höre ich plötzlich wieder die Frau hinter mir. “Entschuldigen Sie… darf ich Sie mal anfassen?”, fragt sie. “Was?!”, entfährt es mir. “Ich würde sie gerne mal anfassen. Keine Bange, ich erkläre in einer Minute warum und wozu. Ich bin Catherine. Darf ich?” “Nur zu”, sage ich verwundert und bin gespannt auf das, was nun passiert.
Catherine mustert mich, wie ich da so rumstehe, in meinen Motorradklamotten. Dann legt sie mir sanft die Hand auf die Schulter. Nach einem Moment fährt sie meinen Arm hinab und verharrt am Ellenbogen. Die Hand immer noch auf dem Armgelenk geht sie halb um mich herum und legt die andere Hand auf meinen Rücken. So stehen wir einen Moment, und ich bin schon am überlegen, ob das die australische Form der Gedankenverschmelzung ist. Plötzlich drückt sie auf meine Wirbelsäule – oder besser: Dorthin, wo die sein sollte. Denn durch die dicke Jacke kann sie die nicht erfühlen.
“Ist hier überall diese… Panzerung?”, fragt Catherine. Nun muss ich lachen. “Das sind Protektoren, die sind an den Gelenken und ja, auch am Rücken”, sage ich. Sie klopft fasziniert auf meinem Rücken herum, der unter dem Stoff von einem fünf Zentimeter dicken Schild aus trägen Schaumstoff geschützt wird. “Darf ich sie mal zwicken?”, fragt sie. Ich grinse “Sie können es gerne versuchen”. Sie kneift mir in den Arm und macht laut “Aua”, als sie sich einen Fingernagel umknickt. “Was ist das? Ich dachte, das wäre Stoff?” “Das ist Cordura – dafür gemacht, dass man damit notfalls über die Strasse rutschen kann, ohne dass es reisst. Und da, wo sie gezwickt haben – das ist Leder.” “Das ist doch kein Leder”, protestiert Catherine.
“Vielleicht ist es Wildleder”, mischt sich Catherines Freundin ein, die sich zu uns gesellt hat. “Wildleder? Interessant. Ist das schwer?” “Oh ja”, sage ich. “Wollen Sie mal halten?” Ich schäle mich aus der drei Kilo schweren Jacke und reiche sie ihr. Sie ist sichtlich beeindruckt. “Ist die Jacke gut?”, fragt sie. Ich zucke mit den Schultern. “Sie ist wasserdicht, hält im Winter warm und im Sommer kalt. Wie gut sie bei einem Unfall ist, muss ich hoffentlich nie ausprobieren. Aber wieso interessiert sie das alles?”
“Ach ja, ich bin Ihnen ja noch eine Erklärung schuldig. Also, mein Bruder, der ist ein wenig verrückt. Der will nächstes Jahr zwei Wochen auf einer 500er durch den Himalaya fahren – und ich soll mitkommen! Dabei bin ich noch nie Motorrad gefahren, auch nicht als Sozia! Ich stürze mich ja in das Abenteuer, aber dafür muss ich alles kaufen – Helm, Jacke, usw. Deshalb interessiere ich mich jetzt dafür. Nur für den Trip kaufe ich mir jetzt Winterklamotten. In Australien brauchen wir die sonst nicht.”
“Apropos Australien”, sage ich, “Wie kommt es, dass jetzt so viele Australier hier unterwegs sind?” “Weil Australien langweilig ist!”, platzt es aus Catherines Freundin heraus. Anscheinend ist sie selbst von ihrem spontanen Ausruf überrascht, denn sie sieht sich fast erschrocken um. “Naja, zumindest jetzt. Bei uns ist Winter, und nichts los. Also haben wir uns gedacht, wir fahren mal mit dem Zug durch Italien. Wir waren schon in Florenz und den Cinque Terre!”. Ich nicke anerkennend. Respekt. Die Cinque Terre sind nicht ohne, und Zugfahren in Italien ist abenteuerlich (dachte ich in diesem Moment – dass das nicht stimmt, lernte ich Monate später. Tatsächlich ist Bahnfahren mit der Deutschen Bahn das größte Abenteuer, dagegen ist die italienische Bahn ein Vorbild an Disziplin und Innovation!).
Da öffnet endlich der Turm, und ich verabschiede mich von den beiden.
Die ersten Treppen sind ein ganz normales Treppenhaus. Dann kommt man in ein kleines Büro, in dem man ein Ticket kauft und Sachen einschließen muss. Hier werde ich das dicke Wiesel, das im Rucksack schon wieder vor sich hin schnarcht, und die schwere Jacke los.
Dann geht es weitere Treppen hoch, vorbei an Hinweisschildern. Menschen mit Herzbeschwerden oder Klaustrophobie sollten nicht auf den Turm. Menschen mit Höhenangst auch nicht. Dicke Leute auch nicht. Nach wenigen Stockwerken weiß ich auch warum. Stellenweise sind die Durchgänge nur 80 Zentimeter breit, knapp 1,50 Meter hoch und so steil wie Leitern.
Meine Beine brennen und die Füße in den schweren Motorradstiefeln fühlen sich an wie Blei. 480 Treppenstufen geht es hoch, das sind nur ein paar weniger als im Vatikan. Der Turm hat eine Höhe von 108 Metern, was schon echt eine ordentliche Ansage ist. Ich konzentrier mich auf die nächsten Stufen. Bloss nicht nach oben blicken und frustriert feststellen, wie viele Stockwerke noch übrig sind. Immer einen Schritt nach dem anderen.
Ich rumpele den Turm hoch. Noch eine Treppe. Ich bin nicht übergewichtig oder schlecht in Form, aber die Treppen sind schon heftig. Oh, da ist noch eine. Warum muss ich mir das antun? Ach ja, weil ich automatisch IMMER auf alles Hohe draufklettern muss. Und noch eine Treppe. Immerhin kann ich später damit angeben, dass ich schon mal daaaaa oben drauf war. Und noch eine Treppe. Gut, dass das Wiesel nicht hier ist. Auch, wenn es das nicht zugibt, ich WEIß, das es Höhenangst hat. Und noch eine Treppe. Schnauf.
Plötzlich wird es hell, und ich trete auf eine Plattform hinaus. GESCHAFFT! Meine Güte, was für eine Aussicht.
Minutenlang stehe ich da, freue mich an der Aussicht und an der Heldentat, den Trum geschafft zu haben. So selbstversunken bin ich, dass mir gar nicht auffällt, dass ich allein auf der Plattform bin. Der Grund dafür: Das war gar nicht die Endstation. Es geht noch höher hinauf! Ich Dusselkopp habe mich zu früh gefreut.
Während ich die letzten Stockwerke erklimme, kommt mir Catherine schon wieder entgegen “Die Cinque Terre waren schlimmer”, höre ich sie im Vorbeigehen lachen. Endlich ganz oben angekommen – diesmal wirklich – feiere ich mich innerlich wieder als Helden und Bezwinger von Herausforderungen. Sowas schafft nicht jeder, sowas können nur wenige! was bin ich fit, was bin ich großartig! Den Monsterturm von Siena zu ersteigen, wer schafft das schon? Die allerwenigsten, allenfalls… Da wird der Höhenflug meines Egos abrupt gestoppt, denn von der anderen Seite der Plattform winken Jill und Allen herüber, die beiden so gebrechlich wirkenden Rentner. Ich winke in milder Fassungslosigkeit zurück. Ähem.
Von hier oben hat es Aussicht, und zwar reichlich. Sehr schön ist auch die Bauruine des Doms zu sehen.
Der heutige, weltberühmte Dom von Siena (im Gitternetz unten blau) war nämlich eigentlich nur als Querschiff gedacht. Der “Domo Nuove”, der neue Dom (rot), sollte eigentlich viel größer sein und sogar den alten Petersdom in Rom übertreffen. Leider gab es erst Problem mit der Statik, dann ging das Geld aus, und DANN wütete auch noch die Pest, so das vom neuen Dom nur die Fassade und ein Teil des Längsschiffs vorhanden ist. Wäre der Dom jemals fertig geworden, MEINE GÜTE, was wäre das für ein Riesending gewesen:
Ich klettere vom Turm wieder runter und schaffe es endlich, Eintrittskarten für den Dom und die Krypta zu kaufen.
Das Bauwerk ist hirnzersetzend. Ich mag gotische Bauwerke, auch wenn der Dom von Siena so aussieht, als hätte er einen schlimmen Unfall mit einer Zuckerbäckerei gehabt. Das Innere des schwarz-weißen Kirchenriesen beherbergt einige der feinsten Wand- und Bodenverzierungen, die es gibt.
Bizarr: Durch Fenster im Boden kann man in die Krypta und die Höhlen UNTER der Krypta sehen. Sehr spooky.
Weil ich ja auf alles draufklettere, was hoch genug ist und sich nicht wehrt, besuche ich noch das Dommuseum und besteige das nie fertig gebaute Längsschiff. Auch hier gibt es, nach prachtvollen Ausstellungsräumen, endlose, enge Treppen. Wächter mit Walkie-Talkies regeln den stetigen Strom der Besucher im Einbahnstrassensystem. Manchmal muss man ein paar Minuten auf einer Plattform warten bis es weitergeht. Dafür gibt es keine Kollisionen mit Entgegenkommenden. Sowas würde ich mir im Dom von Florenz auch wünschen, dort tauscht man aber nicht unerhebliche Mengen von Körperflüssigkeiten bei kollektivem Aneinanderreiben aus. Die Aussicht ist erwartungsgemäß wieder super, auch wenn ich in der Ferne dicke Regenwolken ausmache.
Stolz auf soviel Kletterei gönne ich mir erst einmal ein Eis im Café Caribik, der besten Gelateria von Siena. Dann schlendere ich am Café Nannini vorbei, das der Familie der Sängerin Gianna Nannini gehört, und zurück zum Motorrad.
Kurze Zeit später bin ich -schon wieder- in Monterrigioni. Diesmal bei Tageslicht. Ich besuche Giulia, die schöne Fremdenführerin, mit der ich vor zwei Jahren so nett geplaudert habe, sehe mir die Neuigkeiten im winzigen Heimatmuseum an und klettere auf den Mauern der Festungsstadt herum.
Es ist herrlich, einfach Zeit zu haben und nichts tun zu müssen als Landschaft, Land und Leute zu genießen. Obwohl… eine Sache muss ich eigentlich sehr wohl noch machen. Ich habe da ja jemandem was versprochen…
Wenig später summt die Kawasaki durch die Crete Sienese, die weiten Felder südlich von Siena. Das Motorrad kennt zwei Modi: Summen und Brüllen. Brüllen wäre hier absolut deplatziert. Hier ist alles so friedlich und weit und leer, das ich die meiste Zeit nur mit Tempo 60 oder 70 unterwegs bin, weil ich die leeren Strassen und die Landschaft so genieße.
Die Crete sieht aus wie eine Mondlandschaft, zumindest wen die Felder gepflügt sind, und es herrscht ähnlich viel Publikumsverkehr wie auf dem Mond. Ich bin unterwegs nach Pitigliano. Das ist eine kleine Stadt, die wie ein Schwalbennest in einem Tuffsteinfelsen klebt. Als ich mal einen Bekannten besuchte, fiel mir der Plan der Stadt an der Wand seines Wohnzimmers auf. “Das”, sagte er damals, “ist für mich der schönste Ort der Welt. Dort würde ich mich gerne zur Ruhe setzen.” Und ich meinte: “Na, dass werde ich mir mal ansehen. Wenn ich tatsächlich dort bin, schreibe ich Dir eine Karte von da.”
Solche Versprechen muss man halten, oder?
Die Landschaft wird Kilometer für Kilometer immer großartiger. An leuchtenden Getreidefeldern geht es vorbei, durch Tunnel und über Berge. Es ist warm, und recht windig. Von einem Bergrücken aus sehe ich, wie der Wind in Wellen durch Grasfelder rauscht und alles wie ein grünes Meer aussehen lässt. Wenige Kilometer weiter jagen große Staubwolken über das Land. Für einige Minuten bin ich in einem Sandsturm, es prasselt auf den Helm und ich kann kaum noch was sehen. Dann ist der Spuk genauso schnell wieder vorbei, wie er begonnen hat. Ein Sandsturm, mitten in Italien? Das glaubt mir doch wieder niemand. Ich brauche eine Kamera für´s Motorrad, zur Beweissicherung.
Kurz nach dem Sandsturm windet sich die Strasse durch eine geradezu absurd schöne Landschaft voller Blumenfelder. Mohn, Kornblumen, Klee – alles blüht und bildet zauberhafte Wiesenblumenteppiche, die sich über die Hügel ziehen. Der Wind weht sanft über die Wiesen und bildet Wellenbewegungen.
Nach fast zwei Stunden erreiche ich Pitigliano. Die Stadt liegt da wie in den Fels gebacken.
Es ist sehr heiss, über 35 Grad, und obwohl ich eifrig gegen den Hitzekollaps antrinke, ist mir schlecht und der Kopf schmerzt. Ich kaufe schnell eine Karte, versehe sie mit ein paar Zeilen und werfe sie in einen Briefkasten. Dann sehe ich mich noch ein wenig um.
Der Ort ist alt, das sieht man deutlich. Noch nirgendwo habe ich eine Aneinanderreihung so vieler, hübscher Lädchen gesehen.
Mehr als eine Stunde lasse ich mich durch die Gassen der Altstadt treiben. Dort steht die Luft, und die Sonne brennt so unbarmherzig, dass ich mir gut vorstellen kann, wie es sich im Inneren eines Backofens anfühlt. Vermutlich liegt es daran, dass sich zu meinen Kopfschmerzen auch noch Schwindel hinzugesellt. Ein Signal, jetzt ganz schnell aufzubrechen.
Zurück in Siena parke ich die Kawa auf dem paradiesischen Motorradparkplatz und beschliesse, mich im Park der alten Medici-Festung auszuruhen. Die Aussicht dort ist schön…
…und meistens ist es dort sehr ruhig. Heute nicht. In Italien pflegt man einen recht lockeren Umgang mit Kulturgütern. Sie werden geachtet, aber weil es so viele davon gibt, kommt man nicht darum herum sie auch zu nutzen. Heute wird die Festung als Rummelplatz für den “Luna Park” genutzt, eine Kombination, die sich merkwürdig und irgendwie… falsch anfühlt.
Ich genieße noch einen Moment die Aussicht…
…dann gehe ich Richtung Stadt. Dabei komme ich an einer modernen Kawasaki vorbei. Das Design finde ich ziemlich schlimm:
Alles ist dreieckig, die Proportionen scheinen nicht zu stimmen und überhaupt sehen die meisten Motorräder aktueller Baujahre aus wie… gewollt und nicht gekonnt, so möchte ich es mal umschreiben, dann brauche ich keine Fäkalwörter.
Ganz anders meine ZZR. Deren Design stammt zwar aus den 90ern, für mich drückt es aber gleichzeitig Kraft wie Eleganz aus, eine gewisse Bulligkeit mit der Leichtigkeit von Kurven und Farbspiel gesehen. Modernes Motorraddesign wirkt oft wie das Werk von Picasso oder einem Kubisten. Dagegen ist meine Kawasaki das Werk alter Meister, aus einer Zeit, in der Form und Proportion den Gegenständen ihren Sinn gab.
All das geht mir durch den Kopf, während ich vor dem gelben Motorrad stehe. Und in diesem Moment, hier in Siena, beschliesse ich, dass meine Kawasaki und ich jetzt genug erlebt haben, um die Probezeit abschließen zu können. Sie hat sich bewährt, und damit hat sie sich einen Namen verdient. Wenn sie schon bei mir Assoziationen an Werke alter Meister weckt und weil sie in einer Phase der Selbstfindung zu mir gekommen ist, die mich als Mensch wieder in den Mittelpunkt gestellt hat, taufe ich sie in diesem Moment auf den Namen RENAISSANCE. Und ja, ich hatte schon Fahrzeuge mit schlimmeren Namen.
Zum Abendessen gönne ich mir Seidensegel, das sind ganz dünne Pastataschen, mit Genoveser Pesto. Dann lungere ich noch ein wenig auf dem Campo herum und beobachte Menschen.
Als es Dunkel wird, durchstreife ich die Seitenstrassen auf der Suche nach einer Künstlerin. Der war ich in den vergangenen Tagen mehrfach begegnet und habe sie “Zauberfrau” getauft, weil sie in einem langen Gewand und mit einem Turban auf dem Kopf auf der Strasse sitzt und einem Digeridoos oder einer Violine ätherische Musik entlockt. Heute wollte ich mir die Zeit nehmen und ihr zuhören. Leider ist sie nicht da – in der Nähe ihres bevorzugten Sitzplatzes wird heute Basketball gespielt, direkt vor und auf den Stufen einer Kirche. Hatte ich schon erwähnt, dass man in Italien ein unverkrampftes Verhältnis zu seinen Kulturgütern pflegt?
Ich verabschiede mich in Gedanken von Siena, als ich durch das Stadttor rolle und Kurs auf das Casa Brescia nehme. Das Tor des Anwesens steht offen, in der Einfahrt hibbelt Stefano herum. Er ist aufgeregt – seine Familie ist zum Abendessen vom knapp 350 Kilometer entfernten Gardasee angereist. Stefanos Eltern sind Akademiker, die sehr skeptisch und mit hochgezogener Augenbraue die Aktivitäten ihres Sohnes beobachten. Sie können sich nicht vorstellen, dass er die Pension erfolgreich führt – anscheinend haben sie noch nicht mitbekommen, dass Stefanos von früh morgens bis spät abends den ganzen Betrieb alleine schmeisst, und die Bewertungen im Netz sagen übereinstimmend, das er das ausgezeichnet macht. Ob ich seinen Eltern mal sagen soll, dass er ein guter Gastgeber ist? “Nein, nein”, lacht Stefano. “Die würden dir sowieso nicht glauben sondern denken, ich hätte dir Geld bezahlt, damit Du das sagst.” Er lacht, guckt dabei aber ein wenig geknickt. Ist bestimmt nicht leicht, dass schwarze Schaf in einer bildungsbürgerlichen Familie zu sein.
Ich gehe die Treppe zu meinem Zimmer hinauf, dusche mir den Staub ab und und beginne die Koffer zu packen. Ausserdem überlege ich, eine Bandage um mein rechtes Handgelenk zu legen, in dem mittlerweile ständig ein stechender Schmerz pocht, verwerfe den Gedanken aber wieder. Dann nehme ich mir die Flasche Wein, die ich heute Mittag in Monteriggioni gekauft habe, und setze mich vor das Casa Brescia. Die Sonne ist schon fast untergegangen, und es wird rasch kühler. Aber noch ist die steinerne Bank und die Hauswand in meinem Rücken warm. Ich blicke über die Felder und Hügel. Hinter dem Tal leuchtet Siena von seinem Berg herüber. Grillen zirpen, und ein Igel raschelt und schnauft im Gebüsch herum.
Ich trinke einen Schluck Wein. Heute war leider schon mein letzter Tag in Siena. Für dieses Jahr, denn das ich mit Stefano in Kontakt bleibe und ich wiederkomme, weiß ich jetzt schon. Trotzdem schade – die Zeit verging wie im Flug. Und ich Doof hatte den Aufenthalt hier in der Planung um einen Tag verkürzt, weil ich fürchtetet, Langeweile zu bekommen, wenn ich zu lange an einem Ort verweile. Naja.
Die morgige Etappe wird lustig – ich freue mich schon seit einem Jahr darauf, Joan wieder zu sehen.
Lesen sie im nächsten Teil: Der Fall
9 Gedanken zu „Motorradreise 2012, Tag 8: Blümchenpflücker im Backofen“
Na, dann weiß ich ja jetzt endlich, wer mit mir auf den Michel klettert. Wann kommst du nach Hamburg?
Will ich ja so, aus der Entfernung, gerade eher nicht. Aber ich weiß genau: Wenn Du mich davor stellst, werde ich das Ding angucken und sagen: “Oh, guck, ein Turm, lass uns mal draufklettern!”
🙂
Nach Hamburg komme ich spätestens im Sommer, hoffentlich früher.
Dabei hat der Michel einen astreinen Fahrstuhl 😉
Also Auusichten sind das 😉
Und das erste Bild? Ist das aus Gladiator?
WdW: Sie sind dann doch mit dabei, oder?
Rufus: Nicht wahr?
Und: Das finde ich das tolle an Italien, da siehts zum Teil noch genauso aus wie vor hundert oder tausend Jahren.
Nur, wenn ich den Fahrstuhl nehmen darf 😀 Und wenn das Wiesel mitkommt!
Also nun will ich doch endlich mal Lob, Respekt und Anerkennung aussprechen, und zwar für deine Art die Bilder geistig einzufangen und sie so malerisch mit Worten wieder zu geben, das du im Grunde die echten Fotos hättest sparen können. (Also für mich gesehen 😉 ) Es ist so verführerisch das Ein oder Andere wiedergegeben, das ich noch immer Kino im Kopf habe. Einfach wundervoll trifft es, in menschliche Worte gekleidet, nur peripher!!!
Nun zum kleinen inhaltlichen “empfinden”: die ER6n is doch ein schnüggelisches Teilchen… *hüst* ich werde in Kürze ne ganz ähnliche Maschine unter meinem knaggischen Hintern haben. *hüst hüst* 😀 Meine wird allerdings schwarz sein und nicht ganz so skurril aussehen!!!
Und die Didg Spielerin hätte mich ja riesig interessiert!!! Spiele nämlich selberst auch!
Fazit, Herr Silencer: noch einmal LOB, RESPEKT und ANERKENNUNG!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!! 😀
WDW: Abgemacht!
Queen: Wow…. vielen Dank! Das motiviert zum weiterschreiben!
Wenn die Maschine zwischen Deinen Strammen Schenkeln surrt, werden wir ja evtl. mal die Chance haben gemeinsam auszufahren.
Jaaaaaaaaaaaa werter Herr Silencer 😀 tue er das, also weiterschreiben!
Und nun ja ich denke schon das die Gelegenheit mit Sicherheit sich bietet, das wir mal gemeinsam ausreiten. Hm ich denke auch, das wird sich auch unter diesen gewissen Umständen 😉 wohl kaum vermeiden lassen 😀 Du weißt sicher was ich meine. *grins*