Motorradreise 2012, Tag 10: Geisterfahrer bei Oma Norma
Silencer war im Juni 2012 mit dem Motorrad in Europa unterwegs. 4.500 Kilometer, über 30 Orte, 16 Tage. Dies ist das Tagebuch der Reise. Am zehnten Tag geht die ligurische Riviera entlang, ich esse das beste Eis der Welt gleich zweimal und werde aus voller Absicht zum Geisterfahrer.
Sonntag, 10. Juni 2012. Le Grazie, San Giusta Parrana, Livorno, Toskana.
Um 5.00 Uhr bin ich das erste Mal wach, weil die Sonne wie ein Laser durch das runde Giebelfenster strahlt. Der Lichtpunkt, der durchs Zimmer wandert, ist so hell, dass man damit bestimmt auch die Bundeslade finden könnte denke ich bei mir, während ich die Schlafmaske aus meiner Kulturtasche ziehe und über die Augen fummele. Dann drehe ich mich auf die andere Seite und schlafe noch zwei Stunden weiter.
Im Frühstücksraum der Le Grazie ist fast jeder Platz besetzt, das Haus und die Ferienwohnungen in den Bungalows drum herum waren wohl ausgebucht. Ich teile mir einen Tisch mit einem miesepetrig guckenden Ehepaar, dessen Nationalität ich aus den Grunzlauten, die die beiden absondern, nicht ableiten kann.
Das Frühstück in der “Grazie” hat sich seit meinem letzten Besuch stark verbessert. Es gibt nicht nur Zwieback, sondern tatsächlich auch Weißbrot und für jeden eine Scheibe Käse und eine Scheibe angetrockneten Schinken. Gradezu luxuriös für die italienischen Cargo-Cult-Verhältnisse. Ich habe aber keinen großen Hunger und esse nur einen Keks und nehme eine Tasse Filterkaffee zu mit.
Nach dem Schnellfrühstück setze ich mich wieder an die Fehlersuche bei der Verbindung zwischen Navigationsgerät und Helm. Beide verbinden sich mit dem iPhone, defekt ist also nichts, aber eine Direktverbindung ist nicht möglich. Zum Glück habe ich die Handbücher für beide Geräte im iPhone gespeichert und kann nachschauen, welche kryptischen Tastenkombinationen zum Neustart führen. Beim Helm muss man dazu gefühlt 20 mal die drei Tasten in einer bestimmten Reihenfolge drücken, was in Kombination mit Piepgeräuschen ein wenig was von “Memo” hat, dann startet er schließlich neu. Beim Navi ist der Reboot einfacher, allerdings fürchte ich, dass es dabei die gespeicherten Ziele der nächsten Etappen verliert. Egal, wer nicht wagt… Ich mache einen Hardreset.
Das Display des TomToms geht aus und bleibt kurz tot. Dann startet es neu – und bleibt beim Booten im Textmodus hängen. Der Bildschirm friert ein bei etwas, was aussieht wie ein PC-Start. Also noch ein Versuch. Wieder läuft weiße Schrift auf schwarzem Grund durch und bleibt dann stehen. Nach ewig langen 40 Sekunden erscheint plötzlich das Logo meiner Kawasaki – das Navi läuft wieder, alle Karten und Ziele sind noch da, und aus dem Helm tönt es “Sie befinden sich in einer Sackgasse, bitte wenden Sie!”
Das mache ich doch gerne, nachdem ich mein Gepäck zum Motorrad geschafft habe. Ich bin super zufrieden damit, wie sich die Maschine in der Einfahrt schieben lässt. Obwohl sie schräg aussieht (die Einfahrt, nicht die Maschine), muss sie absolut eben sein. Solche Perspektivverzerrungen passieren, wenn die Landschaft drum herum krumm und schief ist und in alle Richtungen Gefälle hat.
An meiner Perspektive ist an diesem Morgen offensichtlich auch was etwas verdreht. Als ich den Helm über den Seitenspiegel hängen will, ziele ich daneben. Der Helm fällt herunter, ich kann ihn noch mit dem Fuß etwas abfangen, aber dann poltert er auf den Beton. Nicht so stark, dass sich das Schaumpolster im Inneren verform haben dürfte, aber stark genug, dass vorne und hinten zahlreiche Macken und Kratzer im “Ultra Bright Silver Metallic”-Lack sind. Ich fasse es nicht! Geht das jetzt heute genauso schlimm weiter wie gestern?? Ich fluche auf italienisch vor mich hin. Das tue ich zuhause auch, aber anders als in Deutschland versteht es hier jeder, und einige der Gäste, die gerade abreisen, drehen sich um.
Ich beschließe, mir davon nicht den Tag versauen zu lassen – besonders als mir auffällt, dass ich mich gerade benehme wie ein Passatfahrer, der den ersten Kratzer in seiner Leasingschleuder entdeckt hat. Zum Glück sind die Mechanik von Kinnstück und die Sonnenblende des Helms heil geblieben, und auch die Elektronik muckt nicht. Also eigentlich alles gut, aber wieder so unnötig. Wie der Umfaller gestern.
Egal.
Ich hab neue Kraft geschöpft, die Niedergeschlagenheit von gestern ist nicht ganz weg, aber sie bestimmt nicht mehr meine Gemütslage, sondern pocht nur noch, wie diffuser, mentaler Zahnschmerz, in weiter Ferne. Ich habe sie angenommen, aber ich lasse mich von ihr nicht unterkriegen.
Auf dem Weg zur Verabschiedung von Joan treffe ich auf den hünenhaften Zweimetermann mit dem Wikingerhelm und seine Begleitung, die gerade mal 1,60 große Blondine. Die beiden machen sich ebenfalls zur Abfahrt bereit. Ich spreche die beiden an und bedanke mich noch einmal für die Hilfe gestern. Nancy und Mark kommen aus der Nähe von Eindhoven. Sie fahren eine riesige, feuerwehrrote Harley. Marc steuert den Koloss aus Milwaukee, während Nancy hinten auf und in einem Berg von Gepäck sitzt wie eine hofhaltende Königin. Die Harley zieht einen Anhänger hinter sich her, der die Gestalt eines riesigen Bierfasses auf Rädern hat. Vermutlich voll mit Ersatzteilen. Zuverlässigkeit von Harleys, kennt man ja. Von hier bis zur Eisdiele geht gerade noch, deswegen werden die Dinger so gerne von Zahnärzten gefahren, aber für ernsthafte Touren nicht zu gebrauchen, es sei denn, der Fahrer ist versierter Bastler. Marc ist das offensichtlich, denn der Bierfassanhänger und die Harley sind Eigenbauten, und trotz des rustikalen Äußeren sind beide vollgestopft mit moderner Elektronik, von lichtstarken LED-Leuchten über ein Kamerasystem bis hin zur Gegensprechanlage ist alles vorhanden.
Ich hätte ja nicht gedacht, dass man mit einer Harley auf Tour gehen kann, aber Nancy und Mark sind hart drauf. Nancy lacht, dabei kann man die komplizierte Zahnspange sehen, die fast ihren ganzen Mund ausfüllt. Seit mehr als drei Wochen seien die beiden schon unterwegs, erklärt sie mir auf deutsch mit diesem niedlichen, niederländischem Lispeln. Mal im Zelt, mal in mobilen Heimen, mal in Hotel oder Pensionen. In Rom, Neapel und Venedig sind sie schon gewesen.
Marc verzieht das Gesicht “650 Kilometer Etappen. Ich weiß nicht mehr, wie ich noch sitzen soll”, lispelt der niederländische Wikinger wehleidig. Tja, 650 Kilometer sind deutlich zuviel für einen Tag. Ich mache nur 250 auf der Landstrasse und maximal 550 auf der Autobahn, aber das auch nur, wenn ich muss. “Aber jetzt nur noch ein paar Pässe fahren und ab nach Hause”, sagt Marc. “Ich muss die Pässe Filmen!” “ICH filme, Du fährst”, lacht Nancy. Ich kann mir zwar nicht vorstellen, wie ein Motorrad mit diesem Radstand UND Anhänger durch Kehren fahren soll, aber ich wünsche den beiden noch eine gute Fahrt. “Und nicht wieder legen!”, lispelt mir Marc zum Abschied zu, lacht und schlägt mir auf die Schulter. Ich bedanke mich zähneknirschend für den tollen Ratschlag. Wäre ich allein ja nie drauf gekommen.
Wenig später sitze ich auf dem beladenen Motorrad und rolle auf das schwere Metalltor zu, dass vom Haupthaus aus geöffnet wird. Ich steuere die Kwasaki hinaus auf den Weg und die Bergstrasse hinab und genieße kurze Zeit später wieder das Gefühl alleine auf Landstrassen unterwegs zu sein. Heute werde ich die Toskana verlassen. Ich freue mich auf die Etappe die vor mir liegt, gleichzeitig ist mir auch ein wenig mulmig zu Mute, denn es steht – wieder mal – eine Herausforderung bevor.
Die Strecke ist nicht ohne, die Straße wird der Maschine und mir ganz gut zusetzen.
Um ehrlich zu sein: Vor dem, was mich erwartet, habe ich einen Heidenrespekt. Besonders vor dem letzten Teilstück. Ich hoffe, dass das Wetter gut sein wird – wenn es dort regnet, bin ich geliefert.
Aber so weit sind wir noch nicht. Erstmal geht es über Landstraßen an Pisa und Lucca vorbei. Wunderschöne Städtchen mit tollem Flair, heute lasse ich sie links liegen. In Lucca war ich 2010 und in Pisa sogar 2010 und 2011. Als erstes Ziel steht Carrara an. Die Gegend ist geographisch nicht nur in Ortschaften unterteilt, sondern auch in Abbaustellen von Marmor. Ich steuere hinter Carrara in die Berge, zum Steinbruch Miseglia. Dort will ich das Museum von Walter Dainesi besuchen, einem Bergmann, der dort alles über Marmor und historische Abbautechniken ausstellt. Aus Carrara hat schon Michelangelo den Marmor für seine Skulpturen geholt. Die Landschaft sieht ein wenig so aus als hätte sie Karies. Überall klaffen weiß leuchtende Abbaustellen von Marmor im Grün der bewaldeten Berge.
Als ich in Miseglia ankomme finde ich sofort einen Parkplatz. Aber sonst nichts. Kein Museum. Nicht mal einen Wegweiser gibt es. Nur einen kleinen weißen Hund, der seine Nase verdöst durch einen Zaun steckt.
Ich laufe durch die Straßen des Ortes (alle drei!) und treffe auf eine Prozession. Klar, Sonntag, katholische Gegend, alle sind in der Kirche. Und bei genauer Betrachtung… soooo dringend will ich eigentlich doch nichts über Marmor wissen. Lieber will ich weiter durch die Berge fahren, auch wenn mein rechtes Handgelenk über jede Sekunde froh ist, die es nicht am Gasgriff drehen muss. Es tut mittlerweile einfach permanent schweinemäßig weh, und manchmal kann ich kaum eine Kaffeetasse damit fassen.
Ich finde mein Rhythmus wieder, und wedele die Kawasaki durch die Berge hinter Carrara. Es geht durch die Berge, hinab und hinauf, links und rechts. Das Gebiet ist urig, grüne Wälder und große Berge wechseln sich mit tiefen Tälern und breiten, trockenen Sturzflussbetten voller Geröll ab.
Die Gegend ist vom Klima verwöhnt: Die hohen Berge kurz vor der ligurischen Riviera schützen vor der Kälte der Alpen, und die Nähe zur See tut ihr übriges zu einem mediterranen Klima. Hier stehen überall Palmen und andere subtropische Pflanzen.
Früher, in viktorianischer Zeit, kam der russische und britische Adel hierher um den Winter zu verbringen. Vom Glanz der Zeit ist wenig übrig – die Orte und Bauten künden zum Teil noch von der alten Grandezza, aber blätternde Farbe und der schlechte Zustand hinterlassen eher einen wildromantischen Eindruck von “beautiful decay”, romantischem Verfall.
Plötzlich komme ich an einem Ortsschild vorbei. “Carrodano”.
…
Carrodano?!
Carrodano!!!
Hier war die erste Station von ModNerds und meiner ersten gemeinsamen Reise! Hier haben wir im großartigen Ponte Antico übernachtet!
Ich muss einfach anhalten und erkunden, dass mir damals verborgen blieb: Wie man vom Nebenhaus, das weit oben auf dem Berg liegt und wo wir damals übernachteten, zu Fuß zum Haupthaus kommt. Ich finde die Treppen und erkunde den Ort. An dem hängen ganz tolle und mittlerweile legendäre Erinnerungen, und es ist schön wieder hier zu sein. Ich besuche den winzigen Dorfplatz und entdecke Blumen in Mustern auf dem Boden. Was feiern die Katholiken denn jetzt schon wieder?
Nachdem ich ein wenig durch Carrodano Superiore gelaufen bin und die Ausicht in die wilden, ligurischen Berge genossen habe, steige ich wieder den Berg hinab und fahre die Straße entlang Richtung Küste. Zunächst geht es durch Serpentinen, deren Zwischenräume mit Olivenbäumen bepflanzt sind, dann durch ein enges Tal mit schroffen Felswäden links und rechts. Unvermittelt weichen die zurück, und geben den Blick auf das Meer und den Ort Levanto frei.
In Levanto habe ich vor zwei Jahren das gefühlt beste Eis der Welt gegessen, und heute will ich wissen, ob das wahr, oder nur eine verklärte Erinnerung ist, weil ich damals vielleicht völlig überdreht und übermüdet war.
Auf der Strandpromenade finde ich vor dem “Due Lune” einen Parkplatz. Als wäre es gestern finde ich sofort den Weg zur Eisdiele, die mich damals so umgehauen hat.
“Il Porticciolo”, das “Häflein”, ist ein kleiner Laden, winzig, eigentlich, aber immer voller Leute. Leider schlägt mein Bad Luck wieder zu: Blaubeer oder “Mora”, was mich damals so umgehauen hat, gibt es gerade nicht, nur zusammen mit anderen Früchten in der Geschmacksrichtung “Basco di Frutta”, Fruchtkorb. Na, nehme ich halt den. Und dazu Yoghurt Greco, Waldfrucht, Erdbeer und Banane. Ich zahle und steige die Treppe zur Strandpromenade hinauf, hinter die sich der Eisladen schmiegt. Bei herrlichem Blick aufs Meer koste ich das Eis und… Es hat haut mich wieder aus den Socken. Reich, fruchtig, cremig einfach unfassbar gut!
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Die Geschichte von Eis in Levanto
Tatsächlich gibt es in Levanto besseres Eis als sonstwo, und das hat zwei Gründe. Zum einen liegt Levanto relativ isoliert – es hängt mit dem Hintern im Meer und mit der Nase in den Bergen. An abgelegenen Orten haben Handwerker die Ruhe, ihre Kunst zu perfektionieren. Dazu kommt, dass es in Levanto gleich drei perfektionistische Familien gibt, die die Kunst der Eisherstellung seit Generationen betreiben und dabei versuchen, sich gegenseitg zu übertreffen. Konkurrenz belebt das Geschäft und bringt bessere Produkte hervor! Außerdem ist in Italien das Eis generell cremiger und anders als in Deutschland, weil wir hier verschiedene gesetzliche Regelungen haben, wie z.B. die Mindesttemperatur, die der italienischen Eiskunst entgegenstehen. Außerdem arbeitet man in echten Gelaterias traditioenell und mit täglich frischen Zutaten der Saison – etwas, was man in Deutschland meist nicht findet.
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Im Künstlerbistro trinke ich einen Kaffee, dann sehe ich mir den Ortskern an und beschließe sehr schnell, dass ich mir noch ein Eis gönnen werde. Diesmal gibt es Kirsch, Schokolade, Nocciola und Stracciatella. Wieder auf der Strandpromenade merke ich, dass man hier Fruchteis wesentlich besser kann, aber auch das Milcheis ist gut. Mehr als zwei Stunden bleibe ich auf der Strandpromenade, freue mich an dem Wetter, dem aufgewühlten Meer, der Gischt, die durch die Luft weht, den zahlreichen Surfer/-innen und Sonnenanbeter/-innen.
Dann fahre ich weiter. Das Navi rechnet uns einen Weg über die Berge, was sich nach sehr kurzer Zeit als schwierig herausstellt: Was in 2-D gut aussieht, erweist sich in der dritten Dimension für Motorrädern als schwer fahrbar. Steil ziehen sich 180 Grad-Kehren den Berg hinauf. Ich danke zum wiederholten Mal dem ADAC für das Stützgastraining.
Aber dann kommt sie doch, die eine Kurve, die ZU steil ist. Ich merke schon bei der Fahrt in die Kehre hinein, dass das nichts wird. Die Strasse ist sehr steil und schmal, zudem habe ich Gegenverkehr und kann deshalb nicht weit nicht ausholen. Diese Kehre zu kriegen wäre quasi wie Wenden auf der Stelle. Dummerweise fahre ich keinen Panzer, der sowas kann, sondern ein Motorrad.
Trotz Fahrens im ersten Gang und mit Hinterradbremse kriege ich die Kurve nicht und werde außerdem zu langsam. Schon beginnt die Maschine in die Kehre hineinzukippen und ich verliere den Halt. Die Situation ist urplötzlich kritisch. ich beginne aus dem Sattel zu rutschen.
In diesem Moment läuft die Zeit plötzlich langsamer und ich sehe parallel vor meinem inneren Auge die beiden möglichen Ausgänge dieser Situation: 1. Ich versuche das Motorrad mit dem Bein abzustützen. Oder 2.: Ich gebe Gas und fahre die Kehre weiter aus. Mein Hirn kalkuliert wie wild. Um mich mit dem Bein im Inneren der Kehre abzustützen muss ich soweit runter, dass ich die Maschine nicht mehr halten können werde und sie bestenfalls kontrolliert auf die Straße legen kann. Andererseits: Weiter auszuholen bedeutet: Ich steuere in den Gegenverkehr.
Der Sekundenbruchteil, den ich zum Nachdenken hatte, ist vorbei. Plötzlich läuft die Zeit wieder normal schnell. Und meine Entscheidung steht. Ausschlaggebender Faktor: Ich bin in in Italien. Ich gebe Gas und steuere das Motorrad über die Mittellinie. Das bisschen Mehr an Geschwindigkeit und Platz reicht aus, dass ich um die Kehre komme. Leider bin ich jetzt auf der Gegenspur und von vorne kommt ein Fiat. Der Fahrer schaut mich an, dann drückt er voll auf die Bremse und zieht seinen Kleinwagen noch näher an die Felswand heran. Er war langsam und vorsichtig unterwegs und steht quasi sofort. Ich gebe noch mehr Gas und nutze den Schwung um noch weiter auszuholen, bis zu dem Punkt, an dem ich nicht mehr Gefahr laufe zu stürzen, dann schwenke ich rum, bis ich frontal und mittig auf den Fiat zu fahre. Am Kurvenausgang kippt die Kawasaki in einer flüssigen Bewegung in eine starke Schräglage und schiesst 30 Zentimeter am Kotflügel des Fiat vorbei, schwenkt zurück auf die eigene Fahrspur und ist nochmal davongekommen.
Mir klopft das Herz bis zum Hals, aber im gleichen Moment bin ich stolz darauf, wie souverän und überlegt ich gehandelt habe. Wenn es bloß nicht so scheissend knapp gewesen wäre! In Gedanken huldige ich dem Fiatfahrer und generell dem italienischen Autofahrkönnen. Alle gucken, alle passen auf und reagieren super. Puh.
Die nächsten Kehren sind nicht so schlimm. Höher und höher schraubt sich die Straße, und bald sehe ich aus mehreren hundert Metern Höhe auf die ligurische Rviera hinab. Das Navi zeigt Straßen schon übereinander an, so eng schmiegen Sie sich in Kehren an den Berg. Die merkwürdige Darstellung führt dazu, dass ich die verkehrte Straße nehme und versehentlich noch höher in die Berge fahre. Die Straße wird erst einspurig, dann immer schlechter, und am Ende ist es nur noch ein Geröllweg, der auf einem Berggrat verläuft und den es rechts und links hunderte von Metern in die Tiefe geht. Nicht einmal Leitplanken gibt es.
Ich will nur noch hier weg und nehme die nächste Abzweigung ins Tal. Ich bin froh, als ich wieder erste Häuser entdecke, Anzeichen der Zivilisation. Noch etwas weiter unten schiebt sich eine Blechkolonne die Küstenstrasse entlang. Campingmobil an Campingmobil schiebt sich durch endlose, ineinander gewachsene Orte. Wie es hier zur Hauptferienzeit zugeht will ich gar nicht wissen. Das Fahren ist langweilig und es geht nur langsam voran. So langsam, dass die Kühlung nicht ausreicht und die Kawasaki wieder aus allen Öffnungen heiße Luft bläst. Aber ich beklage mich nicht. Das hier ist vielleicht langweilig und nervig und Materialmordend, aber wenigstens nicht tödlich, wie die Straßen in den Höhen.
Hinter dem kleinen Örtchen Menglia stoße ich auf Ampeln mit der längsten Rotphase, die ich je erlebt habe. 15 Minuten! Ich wundere mich, aber weil ich hinter einem Camper hänge, kann ich nur die Ampel sehen und nicht den Grund. Der offenbart sich mir schließlich, als die Ampel endlich grün wird: Ein Loch im Fels. _”Tunnel” kann man sowas nicht nennen.
Es gibt nur eine Fahrbahn – daher die Einbahnstrassenregelung: Alle zwanzig Minuten wird die Fahrtrichtung durch Ampeln geändert. Der Tunnel ist vielleicht gerade mal etwas mehr als drei Meter breit und 4 Meter hoch. Tempo 60 ist erlaubt, aber die Autos heizen mit unfassbaren 80 bis 100 Stundenkilometern da durch. Ich auch. Das ist ein sehr merkwürdiges Gefühl, denn wenn links und rechts die Tunnelwände in gerade mal einem Meter Entfernung vorbeirauschen, fühlt sich die gefahrene Geschwindigkeit viel höher an. Mit gefühlten 600 Stundenkilometern schießt die Kawassaki durch die Dunkelheit – und das im wahrsten Sinne, denn nach den ersten hundert Metern gibt es keine Beleuchtung mehr. Eng, unbeleuchtet, keine Lüftung, keine Rettungswege – sowas darf heutzutage eigentlich nicht mehr erlaubt sein. Ein winziger Unfall reicht, und es gibt hier eine Katastrophe. Manchmal sehe ich im Scheinwerferlicht bröckelnde Ziegelsteine. Wie alt ist der Tunnel wohl? 150 Jahre bestimmt, vielleicht älter.
Tiefer und tiefer geht es in den Berg. Ich konzentriere mich auf die Rücklichter des Campers vor mir und versuche das Gefühl zu verdrängen, dass mich die vorbeizischenden Tunnelwände magisch ansaugen. Endlos lange Minuten vergehen. Ein paar Mal sieht es so aus, als ob der Camper die Wände touchiert.
Irgendwie scheint es auch immer enger und dunkler zu werden. Obwohl es im Berg kühl ist, fange ich an zu schwitzen. Wie Jim Knopf fühle ich mich, der im Augsburger Puppenspiel mit seiner Emma durch einen engen Berg saust. Genauso ist es hier auch gerade. Oder wie in einem dieser Blade-Runner-Rennspiele in der Zukunft, wo man auch mit irrsinniger Geschwindigkeit… oh. Ich bekomme einen Tunnelblick, glaube ich.
Nach mehr als sechs Kilometern im Fels spuckt mich der Tunnel im Ort Riva Levante wieder ans Tageslicht. Weiter geht es an der schroffen Steilküste. Rechts Felwsände, links das glitzernde Meer. Trotz der schönen Ausblicke fühlt sich alles unwirklich an und abweisend an. So sehr ich mich in der Toskana willkommen gefühlt habe, so fühle ich mich hier als Fremder. Nicht nur ortsfremd, sondern seelenfremd.
Im Örtchen Recco halte ich unter der absonderlichen Eisenbahnbrücke. Das monströse Bauwerk teilt den Ort in zwei Hälften. Hier war ich auch schon mal, damals kauften Modenerd und ich Fabrikbrot im Supermarkt, nicht wissend, dass in den Bäckereien nebenan die beste Foccaccia der Welt gemacht wird. Das Versäumnis, Foccaccia nicht dort probiert zu haben wo sie erfunden wurde, will ich heute nachholen.
Leider schlägt auch jetzt mein Bad Luck wieder zu. Es ist Sonntag, und alle Läden haben geöffnet – nur die Bäcker nicht.
Na gut, auch egal, lange will ich mich hier eh nicht aufhalten, es sieht ohnehin nach Regen aus. Die bisherige Strecke war schon anstrengend, aber was noch vor mir leigt, lässt mich schaudern. Dagegen war ALLES bisher Ringelpiez mit Anfassen. Jetzt wird es richtig Hardcore, vor mir liegen 27 Kilometer Kotze aus der Hölle, wie eine Bekannte immer so schön sagt.
Ich starte das Motorrad und verlasse Recco in Richtung Berge. Die Strasse ist breit und gut ausgebaut und zieht sich in sanften Kurven durch die Bergwälder, die irgenwie ein wenig nach Dschungel aussehen. Nach wenigen Kilometern ist es aber mit dem gemütlichen Dahingleiten vorbei. Die Kurven werden enger und zu Kehren, die Strasse windet sich die Berge mal hoch und mal hinunter. Unglücklicherweise hängen an den Bergen Wolken fest und regnen sich da ab, so das zwischen dem zaghaften “Pling” der ersten Regentropfen auf dem Helm und der Volldusche gerade mal wenige Minuten liegen.
Genau das ist der Worst Case: Ich habe schon zu Hause auf der Karte gesehen, wie der Straßenverlauf ist und in welchem Zustand sie sich befindet. Sie ist ein fürchterlich verdrehter Flickenteppich, schwierig zu fahren und bei Regen die absolute Katastrophe. Es gibt auf der Strasse kein Teilstück, dass mehr als zehn Meter am Stück geradeaus geht. Kurve reiht sich an Kurve an Kurve, die Strasse ist eng, der bröckelige Asphalt oft mit Steinen oder abgeschlagen Blättern übersät. Oder – und das ist das Schlimmste – mit Bitumen geflickt. Bitumen erreicht, wenn es nass wird, ähnliche Reibungswerte wie Glatteis. Das fehlt mir noch, mich auf Bitumen langzulegen und gegen eine Leitplanke donnern. Nee, nee.
Ich fahre vorsichtig weiter, mit maximal 30 Km/h, meist sehr viel langsamer. Ich friere in den nassen Klamotten, gleichzeitig läuft mir der Schweiß vor Anstrengung den Nacken hinab. Ich bin so verkrampft, dass ich meine Gashand vor Schmerzen nicht mehr spüre, aber hier gibt es einfach auch keinen Grund entspannt zu sein. Ich bin froh über jede kleine Kurve, die ich zurücklege, nur um festzustellen, das die nächste schon wieder vor mir liegt. Hinauf und hinab, links und rechts, hier einem Flicken ausweichen, dort an Steinen vorbei, das Ganze bei eingeschränkter Sicht, frierend, schwitzend, verkrampft. Nach fast einer Stunde bin kurz davor anzuhalten und zu schreien ICH WILL NICHT MEHR! This is my own private hell, dies ist meine ganz eigene Hölle. Sowas kann ich nicht leiden. Zudem ist meine Konzentration nach den letzten Stunden fast am Ende, und das hier, wo jeder Meter eine neue Gefahr birgt.
Nach gefühlt mehreren Ewigkeiten zeigt das Navi des Motorrads an, dass ich nur noch wenig hundert Meter von meinem Ziel entfernt bin. Allerdings ist kein Ort zu sehen – verdammter Mist, bei meinem Glück befindet er sich ein paar hundert Meter höher, und ich muss nochmal stundenlang Kurven fahren! Zum Glück kommt es anders. Hinter einer letzten Kehre tauchen ein paar Häuser auf einem Plateau auf, und in einer Nebenstrasse finde ich meine Unterkunft für heute.
Ich erkenne das Haus sofort, und auch den Grund dafür, dass ich es ausgesucht habe: Davor befinden sich, direkt an der Strasse, fünf nagelneu gepflasterte, absolut ebenerdige, großzügige Parkplätze. Ich rolle auf einen davon, stelle den Motor ab und bocke die Kawasaki auf. Ein junger man mit Vollglatze kommt mir entgegengelaufen, begrüsst mich und deutet nach hinten. Hinter dem Haus, da hätte er einen trockenen Unterstand für das Motorrad, ich müsste es nur den steilen, mit Schotter bedeckten Fußweg hinunterbalancieren. Ich bedanke mich für das Angebot und lehne exzessiv ab. Keinen Meter will ich heute mehr fahren, und schon gar keinen Schotterweg der fast senkrecht verläuft. Und überhaupt, dem Ort bin ich noch böse, weil er sich bis zur letzten Sekunde am Berghang versteckt hat.
Der Glatzkopf bittet mich hinein in die “Locanda Lalla Norma e Nonno Puìn”. Das uralte Steinhaus ist frisch Saniert und ganz neu eingerichtet. Während der junge Mann mit der Kredikarte rumhantiert, steckt eine sehr alte Frau den Kopf hinter seinem Rücken hervor. Vorsichtig lugt sie um die Ecke und sieht dabei ein wenig aus wie ein kleiner, zerrupfter Vogel. Sie ist villeicht noch 1,50 Meter groß und sieht zerbrechlich aus. Meine schlechte Laune verfliegt schlagartig und weicht Neugierde, so skurril wirkt die Dame.
“La Casa e bella!” sage ich und lächle sie an. Sie guckt mich an, dann geht ein breites Lächeln in ihrem Gesicht auf wie ein kleine Sonne. “Si, si, tutto e nuovo”, alles sei neu, sagt sie auf itaienisch, und dann kommt sie hinter der Rezeption hervor, greift meinen tropfnassen Arm und führt mich an eine Fotowand. “Siehst Du, so sah das noch vor einem Jahr aus, alles alt, nur die Wände, immer kalt im Winter und das Dach war kaputt. Und dann haben wir ganz viel gemacht, und jetzt ist alles schön im Haus von Lalla.”
Das Wort kenne ich nicht. “Was ist Lalla?”, frage ich, und daraufhin legt die alte Frau den Kopf in den Nacken und bricht in lautes Gelächter aus. “Das bin ich!”, sagt sie, als sie wieder Luft bekommt, “ICH bin Lalla Norma”. Ach klar… “Locanda Lalla Norma e Nonno Puìn”…. Das Haus von Oma Norma und Opa Puìn. Ungewöhliche Namen.
Oma Norma zeigt mir mein Zimmer. Ein großzüger Raum im Erdgeschoss mit einem Doppelbett und einem riesigen, ganz neuen Bad. Aus den Fenstern kann ich Berghänge sehen, die in den tiefhängenden Wolken verschwinden. “Wo kann ich etwas essen?”, frage ich und hoffe, dass es eine Osteria, ein Landgasthaus, in fußläufiger Entfernung gibt. “Wenn Du was essen möchtest warte bis 19 Uhr, wir haben ein Restaurant im Keller, das macht dann auf”. Ich muss nicht mehr aus dem Haus! Ich könnte die kleine Vogeloma umarmen, aber dann würde sie vermutlich in der Mitte durchbrechen.
Ich koppele die Koffer von der Kawasaki ab und trage sie durch den dichten Regen ins Haus. Dann schäle ich mich aus den Motorradklamotten. Sie sind vollkommen durchnässt, un dort wo ich stehe, bildet sich eine Pfütze, aber im Inneren sind sie absolut trocken. Ich hänge alles zum Trocknen auf, dann nehme ich eine lange, heiße Dusche, lege mich auf´s Bett und bin sofort eingeschlafen.
Nach einer Stunde im Dämmerschlaf bin ich wieder halbwegs bei mir und schlüpfe in Jeans und Hemd und gehe eine Etage tiefer, wo im gemauerten Keller ein schön eingerichtetes Restaurant ist. Eine alte Frau namens Paola kommt lustlos angeschlurft und nimmt meine Bestellung entgegen. Als sie merkt, dass mein italienisch nicht toll ist, versucht sie sich auf französisch mit zu unterhalten. Ich wehre lachend ab – wie soll ich denn italienisch lernen, wenn alle immer einen Weg drum herum suchen? Jetzt ist sie entzückt und gibt das gleich an alle anderen weiter. Im Laufe des Abends kommt Stück für Stück das ganze Personal an und will den verrückten Deutschen sehen, der versucht italienisch zu lernen. Von der Bedienung bis zum Koch kommt jeder an und wechselt zwei, drei Sätze mit mir. Dabei sprechen sie LAUT UND DEUTLICH und wiederholen die Sätze auch, wenn ich sie nicht auf Anhieb verstehe. Was für ein lustiges Volk, diese Ligurier.
Während ich auf das Essen warte, schreibe ich schonmal Tagebuch. Die Tintenfischringe sind offensichtlich aus der Tüte, aber die Penne Arrabiata sind gut, und der Rotwein des Hauses ist überaus entspannend.
Gegen 22 Uhr falle ich ins Bett und schlafe sofort ein. War ein anstrenger Tag und ich bin froh, die Etappe hinter mir zu haben. Morgen wartet eine neue Herausforderung: Motorradfahren in einer vertikalen Stadt und die sexiesten Toten alive. Äh.
Lesen Sie im nächsten Teil: Friedhof, Flirtrennen und Frau mit Nüssen am Tag, den es nicht gibt
Ein Gedanke zu „Motorradreise 2012, Tag 10: Geisterfahrer bei Oma Norma“
Du solltest deine Reiseberichte echt als Buch herausbringen! Ich hab gerade bei der Kurvenfahrt im Berg vergessen weiterzuatmen, so mitreissend sind deine Beschreibungen.
“Nicht nur ortsfremd, sondern seelenfremd.”
<3 Die Formulierung gefällt mir unheimlich gut, vor allem aber auch die Umkehrung davon. An manchen Orten kommt man ja an und fühlt sich direkt aufgehoben und sehr als man selber. Dass das wohl auch eine Art Seelenverwandtschaft ist, wie bei manchen Menschen, und damit einen griffigeren Namen hat, hatte ich nicht im Sinn.