Motorradreise 2012, Tag 12: Im Reich des irren Architekten
Silencer war im Juni 2012 mit dem Motorrad in Europa unterwegs. 4.500 Kilometer, über 30 Orte, 16 Tage. Dies ist das Tagebuch der Reise. Am zwölften Tag geht es durch den Piemont über Turin bis vor die Alpen, das Wiesel bekommt Höhenangst, ich schwebe gen Himmel und vermesse Marilyn Monroes Brustumfang.
Dienstag, 12. Juni 2012, B+B La Chicca, Cassine, Piemont
Ausgeschlafen und entspannt sitze ich am nächsten Morgen im Garten der La Chicca. Es hat in der Nacht ein wenig geregnet. Wassertropfen stehen auf den Blütenblättern der Rosenbüsche, die den Garten säumen und einen betörenden Duft verbreiten. Marusca balanciert ein Tablett mit einem Berg frischer Croissants und Konfitüre an meinen Tisch. “Der Frühstücksraum ist noch nicht fertig”, erklärt sie, und ich bin froh, dass es nicht regnet – sonst hätte ich wahrscheinlich im Stehen im Treppenhaus frühstücken müssen.
Wenig später ist das Motorrad wieder voll beladen. Marusca öffnet das Tor, stoppt gestenreich den Verkehr auf der Strasse um mir die Ausfahrt zu ermöglichen und ruft mir ein “Buon Viaggio!” hinterher, als die Kawasaki aus der Einfahrt rollt und auf die Landstrasse Richtung Norden abbiegt. An weiten Reisfeldern vorbei geht es durch die Ebenen des Piemont, vorbei an Dörfern mit so romantischen Namen wie “Bruno”. Das Piemont ist so, wie ich erwartet habe: Grün, voller Landwirtschaft und Spitzgiebleigen Häuser und damit ebenso ruhig wie langweilig. Echt, das hier könnte auch Region Hannover sein. Nach wenigen Kilometern halte ich an, schließe die Lüftungen in meinem Anzug und tausche die leichten Sommerhandschuhe mit dem Kevlareinsatz gegen die gefütterten Winterhandschuhe. Marusca hatte recht, heute ist es im Piemont mit gerade mal 15 Grad recht frisch.
Mein erstes Ziel ist die Stadt Asti. Kennt jeder, vom “Asti Spumante”, dem prickelnden Wein. Aber keiner weiß, wo Asti liegt, geschweige denn, wie es dort ist. Nun, Asti liegt zwischen Alessandria und Turin, und es ist schön da. Neben dem Spumante und dem tiefroten Barbera d´Asti dreht sich dort fast alles um gutes Essen.
Ich lasse die Renaissance auf dem Plaza Alfieri zurück, einem großen, dreieckigen Park- und Marktplatz. Also, groß im Sinne von richtig groß, und mitten in der Stadt, aber nicht so, dass es stören würden.
Das fällt mir sowieso auf: Alles in Asti atmet Stil und Eleganz, ohne dabei übertrieben teuer zu sein oder zu Schickimicki-prahlerisch zu wirken. Hier wohnt nicht das Geld, hier ist man nicht adelig, aber alles, was man tut, tut man elegant und mit Liebe zum Detail, und wenn es die Präsentation des Grabbeltisches eines Ladens für Kinderbekleidung ist.
Ich schlendere ziellos durch die Strassen der Innenstadt und sammele Eindrücke. Obwohl es noch vor 10 Uhr ist und manche Läden gerade erst aufmachen, ist es schon warm und sonnig. Und irgendwie wirkt die Stadt diffus… Französisch auf mich.
Plastik “Mutterschaft” im etruskischen Museum. Ich stehe gerührt davor, weil sie alles verkörpert, was eine Familie sein sollte und leider bei zu vielen nicht klappt: Die Mutter als gütige und weise Frau, die mit Geborgenheit und bedingungsloser Liebe für ihr Kind da ist.
Nachdem auch das Wiesel Eindrücke gesammelt hat fahren wir weiter. Es geht nach Turin, einer der größten Städte Italiens, und -was noch viel schlimmer ist- einer AUTOSTADT.
Autostädte erkennt man daran, dass fast nur die Wagen einheimischer Produktion gefahren werden, die Strassen breit sind und andere Verkehrsteilnehmern keinerlei Rechte eingeräumt werden, geschweigen denn Rücksicht genommen wird.
Turin steht da in einer Reihe mit Wolfsburg oder Detroit, und schon kurz nach Überschreiten der Ortsgrenze beginnt der Horror. Ich biege ab, merke, dass ich auf der verkehrten Spur bin, ordne mich nach ordnungsgemäßen Schulterblick und blinken anders ein, als aus dem nichts ein SUV mit radierenden Reifen und lautem Hupen an mir vorbeischleudert.
Im Verlauf wird das nicht besser. Turin besteht aus riesigen, mehrspurigen Strassen, teils doppellagig (eine Fahrbahnebene läuft unter der Erde). Links und rechts der Megastrassen verlaufen kleine Strassen, die nur dazu dienen, die Blechkolonnen den Anwohnerparkplätzen zuzufüttern. Jeder Arbeiter soll seinen Fiat vor der Haustür parken können! Im Zuge der Verkehrsoptimierung kommt hinzu, dass man nur rechts abbiegen darf. Links abbiegen geht bei Megastrassen nicht, was das Wenden sehr umständlich macht. Um um noch ein Fünkchen Anarchie ins geordnete Chaos zu bringen, gibt es Ampeln, die im 45 Grad Winkel irgendwo hin zeigen, und niemand, der hier nicht einheimisch ist, kann erraten, für wen die gelten. Es wundert mich Ü-ber-haupt nicht, das Friedrich Nietzsche 1888 in Turin irre geworden ist.
“Sie haben ihr Ziel erreicht”, sagt das Navi in meinem Helm. Das mag ja sein, aber einen Parkplatz sehe ich hier nicht. Ich hatte für JEDE Reisestation vorab auf Google Maps und Streetview einen motorradfreundlichen Parkplatz ausgesucht, in Turin aber keinen gefunden und letztlich gedacht: Hey, sei mal spontan, da findet sich schon was! Ja, ein Fehler. Hier findet sich mal gar nichts. Ich halte kurz an und tippe “Parkplatz in der Nähe” ein, als hinter mir ein SUV steht und hupt. Noch beim Anfahren sagt das Navi “Leider ist kein Parkplatz in Reichweite”. Ja, so siehst Du aus!
Ich kurve aus dem Viertel mit meinem Zielpunkt heraus und auf eine der Megastrassen. Die ist eigentlich ganz hübsch, Kopfsteinpflaster mit hohen Bäumen links und rechts, also eine 30 Meter breite Allee, aber sie ist endlos, und es gibt keine Möglichkeit abzubiegen. Ich steuere in die parallel verlaufende Parkstrasse, aber die Parkplätze sind nur für Anwohner. Einen Kilometer weiter ist auch parken mit Parkschein erlaubt. Zumindest tun das gefühlt hundert Schilder kund. Ich würde ja gerne einen Parkschein lösen, aber leider war nach der Montage der hundert Hinweisschilder wohl keine Zeit mehr, auch einen Parkscheinautomaten aufzustellen. Vermutlich ist das eine gute Einnahmequelle, denn durch die Strassen patrouillieren ganze Horden von Ordnungsbeamten und verteilen ein Knöllchen nach dem anderen. Zwischenzeitlich habe ich die Kawa geparkt und bin die Strasse in jede Richtung 300 Meter gelaufen – ohne einen Automaten zu finden.
Bei meiner Rückkehr zum Motorrad komme ich nur knapp einer Politesse zuvor, die schon ihr Knöllchengerät gezogen hat. Ich gebe Gas und biege rechts ab, komme an eine Ampel, die im 45 Grad-Winkel sonstwohin zeigt und rot ist. Pflichtschuldig halte ich an und warte unfassbare drei Minuten, dann hupt hinter mir ein SUV und ich fahre trotz Rot weiter in den fließenden Verkehr. Ich biege nochmal rechts und nochmal rechts ab und fahre geradeaus auf mein Ziel zu. Vermute ich zumindest, dass Navi ist schon lange nicht mehr zurechnungsfähig und erzählt mir einen vom Pferd. Erst als ich im Gewirr von Nebengassen die Orientierung verloren habe, höre ich wieder auf die Stimme in meinem Helm.
“Wie schlimm kann es noch werden?”, denke ich, biege links ab – und bin plötzlich mitten auf einem überaus belebtem Marktplatz, an einem Markttag! Man stelle sich in dem Zusammenhang den Weihnachtsmarkt einer x-beliebigen Stadt kurz vor Weihnachten vor, so dicht ist das Gedränge auf dem Markt, und ich stehe mit meinem Motorrad mittendrin. Ich drücke schnell auf die Taste am Helm, die das spiegelnde Sonnenvisier runterfährt. So kann mich wenigstens niemand sehen. Meine Güte, ist das peinlich.
In weniger als Schritttempo, nur mit vereinzelten Gasstößen zum Vorwärtsrollen, manövriere ich die Kawasaki durch die Menschenmenge. Während Marokkaner in einer dichten Traube um das Motorrad hängen und mir Tücher und Orangen verkaufen wollen, suche ich einen Ausgang aus diesem Desaster. Eine Ausfahrt entdecke ich schließlich, aber beim Durchfahren stelle ich fest, dass ich nun im Hinterhof eines Stadtschlosses gelandet bin. Privatbesitz. Ich seufze, wende und steuere zurück auf dem Marktplatz und rolle durch Menschenmassen, bis ich in eine Nebengasse gespült werden. “Sie haben ihr Ziel erreicht”, verkündet das Navi fröhlich, “bitte wenden sie jetzt”. Jaja.
Schon wieder bin ich auf der Megastrasse, aber jetzt in die Richtung zurück zum Ziel. Als ich noch zwei Kilometer davon entfernt bin, sehe ich erst einen Parkscheinautomaten, dann, als ich schon fast vorbei bin, eine Parkfläche. HALLELUJAH!!!! Ich steige in die Bremsen und rutsche mit blockiertem Hinterrad schräg in die Parklücke rein, komme zum Stehen und schiebe die Maschine noch einen Meter rückwärts. Perfekt eingeparkt!, denke ich, als hinter mir ein SUV hupt. Der Fahrer sieht es nicht ein, dass Fahrzeuge mit weniger als vier Rädern und von einer anderen Marke als Fiat hier parken dürfen. Ich fahren mit dem Handrücken unter meinem Kinn entlang, präsentiere meine Handinnenfläche und mache dann eine Schlenkerbewegung mit der flachen Hand auf Ohrhöhe. Das ist die italienische Zeichenfolge für
“FICK DICH, DU DÄMLICHER PENNER! DU BIST DOCH BESOFFEN!!!”. Der SUV-Fahrer hupt wütend und schiesst mit quietschenden Reifen davon.
Ich war noch nie so glücklich, einen Parkschein lösen zu dürfen. Aus dem Seitenfach der Kawa nehme ich den Parkscheinhalter und bringe ihn an der Scheibe an.
Dann überlege ich kurz. Turin scheint ein heißes Pflaster zu sein. Nach kurzem Zögern klappe ich das Topcase auf und benutze zum ersten Mal das Bremsscheibenschloss mit seinem neongelben Erinnerungskabel. Gäbe es einen Poller in der Nähe, HIER würde ich die Renaissance sogar an die schwere Kette legen, die ich im rechten Koffer spazieren fahre. Das ist das erste Mal im Verlauf der Reise, dass ich mich nicht ganz und gar sicher fühle.
Ich hänge mir die Motorradjacke über die Schulter und werfe noch einen Blick zurück…
…dann marschiere ich Richtung meines Ziels. Das hatte ich erst kurz vor Beginn der Reise entdeckt und nur deswegen den Urlaub um einen Tag verlängert. Ich kann sie schon von weitem sehen, die Mole Antonelliana.
“Mole” ist italienisch und heisst einfach “sehr großes Bauwerk”. “Antonelliana” ist die Referenz an den Architekten Alessandro Antonelli, dem verrückten Hutmacher unter den Architekten. Das Gebäude heisst also übersetzt “Antonellis Riesenbau”, und es gibt keinen Namen, der es treffender beschreiben könnte.
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Die Geschichte der Mole Antonelliana
Es war im Jahr 1863, als die jüdische Gemeinde von Turin bei dem damals schon 65-jährigen Architekten Alessandro Antonelli vorstellig wurde. Eine Synagoge würde man gerne beauftragen, mitten in Turin. Weil der Platz dort knapp ist, sollte sie recht hoch werden, genau 47 Meter, ob der Herr Architekt diesen Auftrag wohl annehmen wollte?
Antonelli, der zu dem Zeitpunkt schon eine ganze Reihe Stadtentwicklungsprojekte und Sakralbauten gemacht hatte und nun als Professor an der Kunstakademie lehrte, nahm den Auftrag an und begann zu bauen. Als die ursprünglichen Pläne umgesetzt waren, hielt er kurz inne, kratzte sich am Kinn – und baute dann weiter.
Und hörte nicht mehr auf.
Immer höher und höher wurde das Gebäude aus Ziegelstein. Die Auftraggeber aus der jüdischen Gemeinde versuchten den Architekten zu stoppen, und drehten ihm notgedrungen den Geldhahn ab, aber ohne Erfolg: Antonelli baute und baute und baute. In ihrer Verzweifelung zogen sich die Auftraggeber schließlich zurück und überliessen die Baustelle und den heißgelaufenen Architekten der Stadt Turin. Die wusste auch nicht, was sie mit dem Mann machen sollte, zumal sich mittlerweile eine Bürgerinitiaive für die Fortführung des Projekts einsetzte. Vermutlich wollten die einfach nur unbedingt sehen, was am Ende dabei rauskam. Wie auch immer, die Stadt finanzierte letztlich den Bau, und so baute und baute Antonelli weiter.
Auf das ursprünglich geplante, 47 Meter hohe, Gebäude hatte er eine gewaltige Backsteinkuppel gesetzt, die auch heute noch als das Äußerste gilt, was man ohne Stahlbeton bauen kann. Dabei wandte Antonelli eine genialen Trick an: Mit sogenannten Lisenen verstärkte er die Wände, liess es aber nach außen wir Mauerschmuck aussehen.
Als die riesige Kuppel fertig war, hielt Antonelli kurz inne, kratzte sich am Kinn… und baute dann einen griechischen Tempel auf die Kuppel. Als der Fertig war… naja, man kann es sich denken. Auf den Tempel kam eine Aussichtsplattform, auf die Aussichtsplattform ein Turm, auf den Turm eine Säule, auf die Säule ein Stern. Und dann fiel Antonelli im Alter von 90 Jahren tot um. Das war im Jahr 1888, vielleicht ist Nietzsche in dem Jahr auch deswegen verrückt geworden weil er den irren Turm gesehen hat.
Bei ihrer Fertigstellung war die Mole Antonelliana mit 167,50 Metern das höchste, begehbare Gebäude der Welt, sogar höher als der Kölner Dom oder der Eiffelturm. Lediglich der Obelisk des Washington Memorials war drei Meter höher, aber mal ehrlich, der zählt nicht.
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Das ist also der Grund, dass so ein irres Gebäude hier herumsteht. Nun hatte die Stadt Turin also einen Bau mit einer riesigen Kuppel, aber keine Ahnung, was sie damit anfangen sollte. Die jüdische Gemeinde wollte das Ding nicht mehr. Also baute man ein Museum für die Einigungsphase Italiens (Risorgimento) hinein, und seit 1996 ist dort das nationale Filmmuseum beheimatet. Als passionierter Filmfan kann ich mir das natürlich nicht entgehen lassen!
Das in diesem Museum so einges anders ist als, sagen wir, im Filmmuseum Frankfurt, wird schon beim betreten des klimatisierten Gebäudes klar.
Eigentümliche Farbwahl und der weitgehende Verzicht auf gerade Wände und Ecken sind ein deutliches Zeichen, und als sich die schräg laufenden und verspiegelten Glastüren hinter mir schließen und der Lärm der Strasse plötzlich verstummt, trete ich in eine sehr seltsame Welt ein.
Im Inneren des Gebäude ist es dunkel und alles wirkt leer – das kommt aber nur durch die schiere Größe des Bauwerks. Den Raum, den es überspannt, hat man nicht in einzelne Räume eingeteilt. Stattdessen ziehen sich Galerien die Wände entlang, bis unter die Kuppel. In den Galerien sind die Exponate in Lichtinseln ausgestellt. Das ganze ist ein eigentümliches Konzept, aber es wird noch besser.
Über mir erhebt sich die Backsteinkuppel, und man, ist DIE riesig! Sie wird von Innen angestrahlt, aber die Beleuchtungsmuster ändern sich ständig. In der Mitte verlaufen Stahlseile für einen Aufzug.
Weil gerade nichts los ist, betrete ich den Aufzug. Die Türen schliessen sich, und bin sehr verwundert, als ich mich umsehe: Der Fahrstuhl besteht fast komplett und rundum aus Glas! Als er abhebt, fühlt es sich an, als würde ich schweben.
Höher und höher geht es, der Kuppeldecke entgegen, und von oben kann ich schon sehen, wie absurd das Museum wirklich ist: Im Hauptraum ist ein komplettes Kino mit Liegesesseln aufgebaut, davon gehen Seitenausstellungen ab, und über all dem wacht ein fünf Meter hoher Götze.
Normalerweise passen in den Aufzug 12 Leute rein, aber jetzt fährt der Fahrstuhlführer nur mich. Ich bin froh, das sich schwindelfrei bin. Dann verschwindet der Glaskasten im höchsten Punkt der Kuppel und fährt aus der Dunkelheit in den strahlenden Sonnenschein hinaus. Wir halten im griechischen Tempel, der eine Aussichtsplattform ist. Von dort oben kann man die ganze Stadt überblicken und den Westbogen der Alpen sehen.
Das Wiesel ist neugierig, aber als es merkt, wie hoch wir sind, will es schnell wieder weg.
Der Aufzug versinkt im Boden des griechischen Tempels und kommt an der Kuppeldecke wieder heraus. Langsam schwebe ich durch die Kuppel, als diese plötzlich dunkel wird. Ich schwebe mindestens 50 Meter über dem Boden, in absoluter Dunkelheit! Plötzlich guckt mich Marlene Dietrich an. An die Kuppeldecke werden Fotos von Filmstars projiziert.
Wieder auf dem sicheren Boden, sehe ich mich im Hauptraum um. Von der großen Halle führen kleine Kammern fort, die Exponate enthalten oder in denen filmwissenschaftliche Dokumentationen gezeigt werden. Allerdings sind die Ausstellungsräume alles andere als normal. Einer der ersten ist der Cartoonraum, dessen Tür von Will E. Coyote durchbrochen ist. Der Raum selbst lässt einen denken, dass man gerade in einem Tom & Jerry-Cartoon gelandet ist, inkl. ACME-Bombe und Mauseloch! Wer sich jetzt noch die Mühe macht und sich auf den Boden legt, kann im Mauseloch Cartoons von Tom & Jerry ansehen.
Ein anderer Raum ist das Labor eines irren Wissenschaftlers, wo unter der Decke und in der Spüle Filme laufen.
Und so geht das weiter… man geht im Dunkel von einem Raum zum anderen und weiß nie, was einen hinter der nächsten Biegung erwartet. Mal ist man in einem Saloon und sieht im Spiegel hinter der Bar einen Film von John Wayne, dann findet man sich unvermittelt im Inneren eines Raumschiffs wieder und sieht einem Alien ins Gesicht. Dann kommt man in ein Spiegelzimmer, in dem ein Fernsehballett in einem Kaleidoskop tanzt, dann ein fünfziger Jahre Wohnzimmer, und, und, und…. Man kann auch einfach in einem großen Bett liegen und alte Filme gucken, die auf einem Fernseher unter der Decke laufen.
Der mit Abstand skurrilste Raum ist aber ein Minikino… in Form eines Kühlsschranks! Man betritt den Kühlschrank durch die Tür, um dann auf Toiletten Platz zu nehmen, um eine Filmdoku zu sehen!
Nach den Nebenräumen der Haupthalle nehme ich mir die Galerien vor. Die sind über einen Rundweg verbunden. Man steigt also Stück für Stück die Kuppelwände hinauf. Zwischendurch kann man immer wieder links und rechts in Sonderausstellungen abbiegen.
Die Galerien sind gespickt mit Exponaten. Natürlich auch dem unvermeidlichen Schrott den JEDES Filmmuseum braucht, wie dem notorischen Alien oder der Robocop-Rüstung.
Aber es gibt auch wunderbare Unikate, seltene Poster und Bilder.
Ein ganz besonders schönes Exponat ist das hier: Die Lieblingskorsage und -schuhe von Marilyn Monroe!
Marilyn war wirklich eine zarte Person – zum Größenvergleich halte ich mal meine Hand ins Bild:
In Alkoven der Galerien wird gespielt, bzw. die Besucher werden spielerisch an die Faszination des Mediums Film herangeführt. Das verfängt insbesondere bei denjenigen, die Film nur aus dem Fernsehen kennen. Das geschieht auf unterschiedlichste Weise: Besucher werden gefilmt und Live in Filme eingebaut, auf der großen Leinwand dargestellt oder ganz verwirrt. Beispiel: Man biegt um eine Ecke und sieht ein Loop der berühmten Lobbyszene aus Matrix, in der Trinity und Neo das Gebäude betreten und ihre Waffen rausholen… Dann fängt alles wieder von vorne an, und man steht davor und denkt sich: Ja, und nun? Was soll das?
Dann geht man weiter, guckt sich andere Exponate an, und plötzlich steht man vor einer Wand, auf der die Lobbyszene nochmal abläuft, aber diesmal ist MAN SELBST dort einmontiert, wie man vor zwei Minuten vor der anderen Leinwand stand und verwirrt die Szene angesehen hat.
Das Wiesel wird von einer Schulklasse kichernder Mädchen dabei beobachtet, wie es in eine Kamera schnuppert – und von selbiger in Schwarz-Weiß auf eine große Kinoleinwand projiziert wird.
Weil man in der Mole Antonelliana so viel Platz hat, nimmt man sich auch den Raum, an die Filmstars vergangener Jahrzehnte zu erinnern. Die Wände hängen voller interessanter Porträts großer und kleiner, nationaler und internationaler Stars und Sternchen.
Die Kuppel ist ganz der Magie des Mediums Film und den Stars gewidmet. Im Erdgeschoß findet sich dagegen die Technik, die das alles erst möglich macht. Angefangen beim chinesischen Schattentheater über die allerersten Bildapparate der Gebrüder Lumiére, optische Spiegeltricks und anaglyphische Aufnahmen bis hin zu modernen HD-Technologien wird hier alles vorgestellt, was je in der Geschichte des Films eine Rolle gespielt hat – und das auf einer Grundfläche, die locker vier Mal so groß ist wie das Frankfurter Filmmuseum. Die Ausstellung ist sogar so groß, dass ich am Ende den Ausgang nicht mehr finde und fast eine viertel Stunde durch bereits besuchte Räume wandere, um dort wieder herauszukommen.
Als die schrägen Glastüren der Mole hinter mir zugleiten und mich die Hitze des Tages und der Staub der Strasse wieder hat, bin ich immer noch geflasht von dieser unglaublichen Ausstellung. Ich setze mich in den Park, vor dem die Kawasaki geparkt ist, esse einen Apfel und höre den Strassenmusikern zu, die an einer Ampel herumfideln und bei Rot Geld von den haltenden Autos einsammeln.
Die Megastrassen in Turin haben auch ihr Gutes: Man kommt schnell wieder raus aus der Stadt. Irgendow hupt ein SUV. Ich fahre gen Nordosten. Mein Ziel liegt nur eine Stunde entfernt, es ist die kleine Ortschaft Cavaglià.
Dort habe ich ein Zimmer in einem kleinen Hotel gebucht, das in Streetview verdächtig nach Truck-Stop aussah. Der Eindruck bestätigt sich, als ich dort ankomme. Ich bin auf das schlimmste gefasst und innerlich auf versiffte Zimmer mit sich lösender Tapete, schimmelnden Duschen und einer Fernfahrerkneipe im Erdgeschoß eingerichtet.
Ich steige ab und marschiere zum Gebäude. Eine Gruppe von Jogginganzugtragenden Männern sitzt in der dunklen Hotellobby und spielt Karten. Als ich mich bemerkbar mache, springt einer der Männer auf, rennt mir entgegen und fragt aufgeregt, was ich hier zu suchen hätte. Er ist ein spindeldürren Mensch mit zurückgekämmten Haaren und Bleistiftschnurrbart. Ich muss an mich halten nicht zu lachen, der Typ sieht so dermaßen nach einem Klischee von Dorfmafioso aus, dass es einer Karikatur gleichkommt.
Ruhig erkläre ich ihm, dass ich ein zahlender Gast bin und ein Zimmer reserviert habe. Schlagartig wird der Mann freundlicher und ändert seinen Tonfall – was sich nicht ändert, ist seine hektische, zuckige Art. Er zittert ins Vordergebäude, kommt mit einem Schlüssel und einem Zettel wieder und zuckt die Treppe zum Haupthaus hinauf. Ich folge ihm in ein Treppenhaus. Alles ist etwas älter, aber blitzsauber und ohne Abnutzungsspuren. Der Gegelte schließt eine Tür auf und drückt mir den Zettel in die Hand, dann dreht er sich um und verschwindet. Ich sehe auf den Zettel. Zugangsdaten zum WLAN sowie Informationen zum Frühstück und dem Hinweis, dass man im Restaurant im Vorderhaus zu Abend essen könne. Aha.
Ich drücke die Tür zum Zimmer auf – sie sieht nach Holz aus, ist aber so schwer und dick, dass es sich um eine Panzertür handeln muss. Das aufbohrsichere Schloss und die magnetcodierten Schlüssel bestätigen den Eindruck, dass diese Tür hier entweder nicht her gehört, oder man extremen Wert auf den Schutz der Gäste legt. Wurscht, erstmal Zimmer ansehen.
Als ich den Raum betrete, haut mich der Geruch nach Lufterfrischer fast um. Das Zimmer an sich aber auch: mehr als 30 Quadratmeter, neuester Flachfernseher, modernes Bad, Badeutensilien – alles da.
Als ich zurück zum Motorrad gehe, hibbelt das Männlein darum herum. Ich könne es auch neben die Eingangstür stellen, dann könnten er und seine Kumpels ein Auge drauf haben. Ähm. Na gut.
Ich manövriere die Kawa durch ein Kiesbett neben den Eingang zur Lobby, die offenbar nicht benutzt wird, und schiebe den Blumenkübel davor.
Zurück auf dem Zimmer dusche ich erst einmal. Danach zappe ich ein wenig durch die Progamme und stelle fest, dass meine Lieblingssendung läuft. Mercante in Fiera, eine merkwürdige Gameshow bei der Kandidaten Karten tauschen und sich dann entweder freuen oder ärgern. Wie man vielleicht an dieser Beschreibung merkt: Ich habe bis heute nicht kapiert worum es geht. Aber sie eignet sich gut zum Vokabeln lernen, weil die zu tauschenden Karten jeweils einen Gegenstand zeigen, dessen Name eingeblendet und vom Moderator mehrfach ganz spannungsgeladen ausgesprochen wird.
Es kann sein dass, wenn ein Kandidat seine Karte tauscht, er die Schwarze Katze zieht. Das ist die böse Karte im Spiel, dafür gibt es eine Strafe. Die Strafe steht auf einem Zettel, der in einer Box liegt, die von der schwarzen Katze höchst persönlich gebracht wird. Und genau hier haben wir etwas absolut Anprangerungswürdigendes: Selbst diese harmlose Spielshows werden im duchberlusconisierten, italienischen Fernsehen noch vor der Sandmännchenzeit mit halbnackten Showgirls, sogenannten Veline, gespickt. Besonders erschütternd: Velina steht als Berufswunsch bei jungen Mädchen in Italien ganz oben auf der Liste. Absolut verachtenswert, dieser Sexismus! Damit sich die werte Leserschaft selbst ein Beild von dieser Abscheulichkeit machen kann, hier ein paar Beweisfotos der, für Velinaverhältnisse noch sehr bekleideten, “Gatta Nera”, der Schwarzen Katze (gespielt von Ainett Stephens). Schlimm, oder?
Außerdem gibt es in der neuen Staffel noch eine ganz liebe, weiße Katze, aber was die Gatta Bianca macht, habe ich nun wirklich nicht verstanden. Aber, ganz ehrlich: Ich habe auch damals die Regeln von “Der Preis ist heiss” nicht kapiert.
Als die Sonne untergeht schlendere ich durch die Einfahrt ins Restaurant. Dort sind nur wenige Gäste. Ein paar Männer sehen Fußball, weiter hinten sitzen einige Frauen mit einem kleinen Kind. Vermutlich gehören alle hier zum Hotel oder zum Restaurant. Ich nehme an einem Tisch möglichst weit vom Fernseher entfernt Platz und warte auf die Karte.
Aber die gibt es nicht. Stattdessen singt mir die Bedienung, eine energische kleine Frau, vor, was es heute gibt! Im Ernst, sie leiert die Karte in einem seltsam singenden Tonfall herunter, und ich muss Sie dauernd bitten, langsamer zu sprechen. Von Preisen sagt sie nichts, aber am Ende haben wir uns auf vier Gänge und einen halben Liter Wein geeinigt, und sie öffnet die Tür zur Küche einen Spalt breit und ruft meine Bestellung hinein.
Wenige Minuten später bollert es von Innen an der Tür, die Bedienung kommt angerauscht, die Tür öffnet sich einen Spalt breit und ein haariger Männerarm reicht einen Teller heraus. Dieses Ritual wiederholt sich ständig. Der Wein ist fantastisch, ein sehr leichter, hellroter Tafelwein, der hier im Ort hergestellt wurde und leicht sprudelt. Hier merkt man, dass dies Region die Region des Spumante ist.
Ich schreibe Tagebuch und genieße das Menü. Dies ist mein letzter Abend in Italien, und ich genieße ihn in vollen Zügen. Der Wein, die gemütliche Atmosphäre in der Osteria, das gute Essen… ich bin ein wenig traurig, dass ich morgen das Land verlassen werde. Aber das muss ja kein Abschied für immer sein.
Als ich zahlen will, weigert sich die Bedienung wortreich. Das würde man alles morgen früh mit dem Zimmer abrechnen. Ich bin ein wenig mißtrauisch, aber ehrlich gesagt, ist mir gerade ziemlich egal, ob hier irgendjemand betuppen will. Ich schlendere zurück in mein Zimmer, falle auf´s Bett und bin sofort eingeschlafen.
Im nächsten Teil: Ausgetrickst über die Alpen.
2 Gedanken zu „Motorradreise 2012, Tag 12: Im Reich des irren Architekten“
Wie stimmig das ist, so ein ‘verrücktes’ Museum in so ein irres Gebäude zu platzieren!