Reisetagebuch Rom 2013 (5): Vesuv, Neapel und Pompeji
Herr Silencer war im Oktober 2013 auch in Rom unterwegs. Aber nicht nur. Das Reisetagebuch heute mit einem langen Tag, vielen Bildern, viel Strecke und Erläuterungen zu Hundewarnungen, Katastrophen, Fahrkartenautomaten und Peperoni.
Dienstag, 22.10.2013
Als der Termin im Vatikan feststand und klar war, dass mich erneut eine Herbstreise nach Italien führen würde, konnte ich der Versuchung nicht widerstehen, die besten Teile der letztjährigen Reise wiederholen zu wollen. Die Reise Ende Oktober 2012 ging nach Florenz, und einer der Höhepunkte des Aufenthalts war ein Tagesausflug mit der Bahn und eine Bergwanderung nach Vinci, dem Geburtsort eines gewissen Leonardo. Sowas wollte ich für dieses Jahr auch!
Bei der Vorrecherche stellte sich dann heraus, dass die Entscheidung nicht leicht fallen würde:Von Rom aus kommt man mit der Bahn nahezu überall schnell hin, auch an so märchenhafte Orte wie Sorrento. Und Bahnfahren in Italien kostet, gerade im Vergleich zu Deutschland, quasi nichts. Wohin sollte es also gehen?
Zur Wahl stand nahezu jeder Ort bis runter nach Kampagnien. Letztlich konnte ich mich zwischen drei Orten nicht entscheiden, und so versuche ich heute alle drei auf einmal abzuklappern. Dieser Dienstag Morgen beginnt daher auch schon früh, um 5.45 Uhr klingelt der Wecker. Anders als sonst muss ich das Wiesel nicht wecken – es hat mitbekommen, dass es auf Reisen geht, und sich schon einen Platz im Rucksack gesichert, aus dem es mich erwartungsvoll angrient.
Eine halbe Stunde später schleppe ich meinem müden Körper in die U-Bahn-Station Lepanto, gleich um die Ecke, dann geht es zum Bahnhof Roma Termini. Von dort fährt ein Frecchiarossa nach Süden. Es ist noch dunkel draußen, als sich der Zug in Bewegung setzt.
Meine Fahrkarte hat 9 Euro gekostet, für diese “Offerta Supereconomica” hatte ich einen hölzernen Klappstuhl im Gepäckwaggon erwartet. Erstaunt stelle ich fest, dass der Preis keinen Unterschied macht – ich hatte wohl nur das Glück des Frühbuchers. Die Frecchiarossa-Züge, die mir zuvor schon als sauber und praktisch aufgefallen waren, bieten keine erste und zweite Klasse – alle Reisenden bekommen die gleichen breiten, lederbezogenen Sitzplätze (jeder mit Tisch, großer Gepäckablage und WLAN) und den gleichen Service. Dazu gehören morgens, nehme ich staunend zur Kenntnis, kostenlose Tageszeitungen und ein Frühstück, das am Platz serviert wird. OK, natürlich nur die italienische Variante, also ein Schokoriegel und ein Caffè, aber immerhin! Erste Klasse für alle!
Der Frecchiarossa ist der Hochgeschwindigkeitszug der italienischen Flotte. An diesem Morgen schiesst der knallrote Zug an nebelverhangenen Feldern und dunstumhüllten Bergen vorbei, und schon eine Stunde später hat er die 250 Kilometer geschafft und ich stehe auf dem Bahnsteig in Neapel. Unter dem Bahnhof Napoli Centrale gibt es einen zweiten Bahnhof, Napoli Garibaldi. Hier sitzt die Regionalbahn Circumvesuviana, wörtlich übersetzt “Um den Vesuv herum”. Der Name sagt alles, besser könnte man es nicht ausdrücken. Die Bimmelbahn fährt alle alle Milchkannendörfer rund um dem Golf von Neapel an, rund um den Vesuv und bis hinunter nach Sorrento. Und das zu unschlagbaren Preise zwischen 1,60 Euro (40 Minuten Ticket) und 2,90 Euro (für eine Fahrzeit von 160) Minuten. Dafür erhält man, zumindest zu Stoßzeiten, nur einen Stehplatz in einem Seelenverkäufer von Klapperzug, aber mir ist das egal, ich bleibe eh nicht länger als 20 Minuten an Bord.
In Ercolano steige ich aus, verlasse den Bahnhof und stehe inmitten eines trostlosen Hinterhofs, umgeben von dreckigen Wohnblocks. Vom Ausgang gesehen links befindet sich das winzige Büro von Vesuvioexpress. Das ist ein kleines Unternehmen, die Touristen auf den Vesuv und zu den Ausgrabungen nach Ercolaneo Scavi bringt, je nach Andrang in kleinen Taxis oder mit Reisebussen. Vor dem Büro lungern die Fahrer herum und vertreiben sich die Zeit mit Gesprächen über die Familie oder Lästereien über Franzosen.
Um 09.00 Uhr am Morgen ist noch Taxizeit. Zusammen mit drei Generationen des weiblichen Asts einer britischen Familie, zwei Franzosen und einem undefinierbaren Einzelgänger sitze ich kurze Zeit später in einem Fiat-Kleinbustaxi, den unser weißhaariger Fahrer unter lautem Grummeln und mit verkniffenen Gesichtsausdruck durch den Verkehr von Ercolano steuert.
Dann lassen wir den Ort hinter uns, und in irrer Geschwindigkeit geht es über steile Bergstrassen und schmale Serpentinen den Vesuv hinauf. Dabei scheut sich Giovanni, so heisst der Grummler, auch nicht davor zurück, ausgewachsene LKW auf dem Weg nach oben zu überholen – das dabei links und rechts nur ein paar Zentimeter Platz sind und die Strasse nicht überschaubar ist, stört ihn wenig. Dafür hupt er vor jeder Kurve, damit der Gegenverkehr gewarnt ist. Schliesslich kommen wir auf einem Parkplatz am Berg zum Stehen.
Es ist kurz nach halb zehn, und bislang stehen hier nur wenige Autos, die vermutlich den Andenkenhändlern gehören. Deren Tische mit Andenkenkrimskrams säumen bereits den Platz. Giovanni springt aus dem Bus, läuft zu einer kleinen Holzhütte und kommt eine Minute später zurück zu unserer Gruppe, die immer noch damit beschäftigt ist, die britische Oma aus dem Fiat zu hieven. Er drückt jedem von uns eine Eintrittskarte in die Hand, dann überlässt er uns unserem Schicksal – nicht ohne mir einzuschärfen, dass er in 90 Minuten zurückfährt und wer dann nicht da ist, ein Problem hat.
Da Giovanni nur italienisch spricht übersetze ich für die anderen – unter erheblichen Problemen was den französischen Part angeht. Witzig, als ich anfing italienisch zu lernen, baute mein Hirn dauernd französische Ausdrücke in die Sätze ein – selbst Vokabeln, von denen ich gar nicht mehr wusste, dass ich die mal wusste. Nun ist es anderesherum, ich bringe keinen Satz mehr auf Französisch raus ohne das sich ein italienisches Wort dazwischenmogelt.
Dann geht es den Berg hinauf. Der Anstieg ist steil und besteht aus dunkelbraunem, feinem, weichen Kies – irgendein Lavazeugs, dass sich fast verhält wie Sand, aber igrendwie mit mehr Substanz. Dieser lose Untergrund macht den Aufstieg natürlich doppelt anstrengend.
Nach 20 Minuten steilen Aufstiegs komme ich an einer Andenkenhütte an (war ja klar), von der aus man einen einen ersten Blick in den Vulkankegel werfen kann. Die ganzen französischen Touristen, die hier herumlungern und sich in ihren Brechlauten miteinander verständigen, versuche ich zu ignorieren so gut es geht.
Der Weg auf dem Vulkanrand geht aber noch weiter. Bei der Kletterei kann man zu einer Seite in den Vulkan gucken, zur anderen Seite hinab auf den Großraum von Neapel.Mit viel Staunen und Oh und Ah und Wieselbespassung brauche ich bis zum Ende des Pfads genau 45 Minuten seit Giovannis Drop-Off.
Der Vulkankegel ist wirklich beeindruckend. Senkrecht geht es in die Tiefe, an manchen Stellen dampft es oder riecht nach Schwefel, und schon die schiere Größe und das Fehlen eines Vergleichsmaßstabs verwirren das Hirn. Natürlich nicht beim Wiesel, das freut sich über die frische Luft, den warmen Sonnenschein und die Französinnen, von denen es gebührend bewundert und gestreichelt wird.
Auch die Aussicht aus rund 1.300 Meter Höhe über den Golf von Neapel ist interessant. Schön ist anders, aber beeindruckend allemal. Erstaunlich ist, dass hier zwischen drei und vier Millionen Menschen leben. So genau weiß das keiner, weil es so viele illegale Siedlungen gibt. Das Zentrum von Neapel, der drittgrößten Stadt Italiens nach Rom und Mailand, ist nur neun Kilometer entfernt, und alleine dort leben fast eine Million Menschen. Die Hänge des Vesuv sind bis auf 700 Meter Höhe dicht besiedelt. Ich finde das erstaunlich, denn es ist eine bekannte Tatsache, das der Vesuv wieder ausbrechen wird.
Wirklich, die Frage ist nicht ob, sondern wann es wieder losgeht. Dabei reden wir nicht von geologischen Zeiträumen wie “Oje, die Sonne wird verglühen – in einer Fanstastilliarde Jahren”, sondern von Zeiträumen von Wochen und Jahren. Der letzte war 1944, und seriöse Wissenschaftler meinen, dass ein neuer Ausbruchunmittelbar bevorsteht. Einen Evakuierungsplan, der seinen Namen auch verdient, gibt es nicht. Il Programma Vesuvìa – la scelta possibile (Das Vesuvprogramm – die mögliche Entscheidung) ist das Vorhaben, etwas mehr als eine halbe Million Leute aus einer Kernzone zu evakuieren.
Innerhalb von zwei Wochen.
Das dumme ist nur, dass auch mit modernster Technik ein Ausbruch nicht zwei Wochen im voraus erkannt werden kann. Nur mal zum Vergleich, wie schnell es bei so einem Ausbruch dann tatsächlich geht: 79 vor Christus, als Pompeji unterging, dauerte es von den Vorbeben und dem Ausbruch des Vulkans bis zu dem Punkt, wo ein halber Meter glühende Asche vom Himmel gefallen war, nur fünf Stunden. 12 Stunden nach Ausbruch des Vulkans ging es richtig los, es regnete glühende Steine und DANN kam eine Welle aus superheißem Gas den Berg hinabgerollt und verbrannte alles und jeden. Diesen pyroklastischen Strömen kann man nicht entkommen. In absehbarer Zeit werden wir hier also einer der größten humanitären Katastrophen Europas haben. Wer nicht aus der Geschichte lernt, ist gezwungen sie zu wiederholen.
Heute ist aber alles ruhig, sieht man mal von den Teenagergruppen ab, die jetzt den Berg hinaufgekraxelt kommen. Französisches, deutsches, spanisches und italienisches Geschnatter erfüllt die Luft, und ich bin froh, schon wieder auf dem Abstieg zu sein. Mein Knie ist dankbar, als der vorbei ist und ich wieder in Giovannis Bus sitze. Nachdem er unsere Gruppe wieder ins Tal befördert hat, steige ich wieder in einen der 35 Jahre alten Seelenverkäuferzüge der Circumvesuvia und fahre einige Stationen weiter, nach Pompeji Scavi.
Dort falle ich aus dem Zug und stehe erst einmal vor einer knallbunten Bude, die aussieht als müsste man hier Tickets und Tourguides kaufen. Verkäufer schreien die ausgestiegenen Besucher in mehreren Sprachen an, dass sie hier Warten sollen, ihre Tour beginne in wenigen Minuten.
Ich lasse mich nicht irritieren und gehe de Strasse entlang, vorbei an einem Spalier aus Andenkentischen und Restaurants, bis ich zum Eingang der Grabungen komme. Auch für hier habe ich ein vorab reserviertes und selbstgedrucktes Ticket. Das wäre allerdings nicht nötig gewesen, es gibt keine langen Schlangen. Außerdem war mein Onlineticket am Ende durch “Druckkostenzuschläge” und “Reservierungsgebühr” und “Versandkosten per Mail” doppelt so teuer wie eine normale Eintrittskarte für 11 Euro. Gegen 8 Euro und meinen Führerschein als Pfand bekomme ich einen Audioguide und eine Karte, dann betrete ich in der glühenden Mittagssonne die Stadt Pompeji.
Ich hatte einen Berghang erwartet, aus dem hier und da ein paar Steine herausragen. Eventuell noch ein oder zwei Fundamente von Häusern. Was ich nicht erwartet habe, ist, plötzlich in einer kompletten Stadt mit Häusern, Plätzen, Badeanstalten und Sporteinrichtungen zu stehen.
Beim Ausbruch des Vesuvs 79 v.Chr. wurde die Stadt verschüttet und dabei konserviert, dann geriet sie für 1.700 Jahre in Vergessenheit. Erst ab dem 18. Jahrhundert wurde sie Stück für Stück wieder ausgegraben. Es ist wirklich beeindruckend, wie viel hier noch erhalten ist. Ich wandere durch staubige Gassen und Strassen und würde mich ohne Karte schon nach kurzer Zeit verirren. So weiß ich zumindest ungefähr wo ich bin. Komplett unnütz ist dagegen der Audioguide. Es gibt nur Markierungen auf der Karte, wo man ihn benutzen soll, aber keine Hinweisschilder o.ä. an interessanten Orten. So weiß ich nie, ob ich wirklich da bin, wozu der Guide gerade seine viel zu tiefgreifenden Erläuterungen liefert. Manchmal reicht es auch, ein Gebäude durch den verkehrten Eingang zu betreten, und schon passen Realität und Erzählwelt des Geräts nicht mehr zusammen. Zudem wird vorausgesetzt, dass man die lateinischen Worte für die Zimmer und Einrichtungen der Häuser kennt, was bei mir nur teilweise der Fall ist. Das ein Vestibulum ein Vorhof ist weiß ich gerade noch, aber bei Begriffen wie cubiculum versagt mein Asterixlatein bereits.
Ein Cubiculum ist übrigens das Schlafzimmer der Sklaven – daran werde ich jetzt immer denken, wenn ich Büromenschen in ihren Cubicles sehe.
Was haben uns die Römer je gebracht?! Nun, zum Beispiel die Wasserversorgung. Um überall Frischwasser hinzubekommen, waren unter den Strassen Bleirohre verlegt. Das Abwasser hingegen wurde einfach auf die Strasse entlassen, was ein steter Strom aus Fäkalien und Brauchwasser gewesen sein muss. Deswegen gab es auch Bürgersteige, und die waren bis zu einem halben Meter hoch. Um die Strasse zu Queren gab es Fußgängersteine, über die man trockenen Fußes von einer auf die andere Seite wechseln konnte. Die Breite ist genau so bemessen, dass ein Karren darüber hinweg fahren kann. Ich frage mich nur, was das Pferd oder der Esel gemacht hat? Musste das über den Stein in der Mitte rüberklettern? Schwierig, die waren nämlich manchmal auch einen halben Meter hoch. Oder waren römische Karren immer Zweispänner? man weiß es nicht.
Wie in jeder anderen Stadt in Italien gibt es auch in Pompeji Baustellen bzw. Grabungen, die zu Strassensperren und Umleitungen führen, und so irre ich länger auf dem Gelände herum als ich eigentlich wollte – und man, Pompeji ist echt groß! Am Ende des Tages werde ich einen ordentlichen Sonnenbrand haben – kein Wunder, die Sonne brennt vom Himmel, es ist fast 30 Grad warm, und der leichte Wind treibt Staubwolken durch die Gassen der Ruinenstadt.
Das hier ist übrigens kein Wachhund, sondern ein Streuner. In den Ruinen von Pompeji gibt es Rudel verwilderter Hunde, von denen man sich besser fernhält.
Schon die alten Römer hielten Hunde als Haustiere. Tatsächlich findet sich in einem Hauseingang dieses Bodenmosaik, unter dem Steht “Cave Canem”, übersetzt “Pass auf den Hund auf” – das ist der 2.000 Jahre alte Urvater aller “Warnung vor dem Hunde”-Schild!
Pompeji beeindruckt mich ordentlich. Nicht nur, weil so viel so gut erhalten ist, sondern auch, weil es mir deutlich macht, wie wenig sich doch Menschen und ihre Bedürfnisse in den letzten 2.000 Jahren entwickelt haben. Trotz aller Erfindungen und trotz der heutigen Technik sind wir im Inneren immer noch die Menschen, die “Warnung vor dem Hund”-Schilder aufhängen.
Gegen 16 Uhr nehme ich einen Circumvesuviana zurück nach Neapel.
Übrigens: An allen größeren Bahnhöfen gibt es Drehkreuze oder andere Personenvereinzelungsanlagen, die beim Passieren automatisch diefahrkarte entwerten. Bei so kleinen Bahnhöfen wie Pompeji gibt es die nicht, hier muss man als Reisender die Augen offenhalten: Irgendwo hängt ein unscheinbarer Kasten, mit dem man seine Fahrkarte entwerten muss. Tut man das nicht, wird das bei einer Kontrolle als Schwarzfahren gewertet, auch wenn man ein Ticket hat!
Neapel. Drittgrößte Stadt Italiens und im Süden des Landes gelegen, wie sofort bei Verlassen des Bahnhofs klar wird. Der wirtschaftliche Unterschied zwischen Nord- und Süditalien ist wirklich krass. Aber es gibt noch tiefere Klüfte, denn auch im Denken der Menschen ist die Teilung in Nord und Süd so ausgeprägt, dass man von Binnen-Xenophobie sprechen muss – inländischer Fremdemhass, wenn man so will.
Neapel präsentiert sich auf den ersten Blick laut, dreckig und aggressiv. Eng stehen heruntergekommene Wohnblöcke aneinander, in den Gassen dazwischen schieben sich Autos und Menschen aneinander vorbei. Immer wieder komme ich an großen Müllhaufen vorbei, die auf Strassen und Bürgersteigen liegen.
Einmal beobachte ich eine Schlägerei, anscheinend zwischen zwei Familien. Und ständig kurven 10jährige Jungen auf Motorrollern über die Plätze der Altstadt. Manchmal gleich zu dritt auf einer Vespa, und ich sehe sogar vierköpfige Familien, die auf nur einem Roller unterwegs sind. Helme tragen die wenigsten, was mich mehr als erstaunt. In Italien gilt nämlich das Gesetz, dass Fahren ohne Helm mit sofortiger Beschlagnahme des Fahrzeugs bestraft werden kann. Aber das schert hier niemanden.
Überhaupt wirkt die Stadt, als hätte man sie sich selbst überlassen. Als hätte der Staat sich komplett zurückgezogen und Müllabfuhr, Polizei und Ordnungsamt den Kampf aufgegeben. Dazu passen die vielen Graffitti, die zum Teil mit Gedichten von Hoffnungslosigkeit und in politischen Parolen Wut über fehlende Arbeitsplätze ausdrücken. Ja, Neapel wirkt postapokalyptisch, und in den dunklen Gassen im Viertel zwischen Bahnhof und Hafen ist es das erste Mal überhaupt auf Reisen in Italien, dass ich mich nicht sicher fühle.
Bitte nicht falsch verstehen: Meine Eindrücke sind, so wie immer, keineswegs repräsentativ. Und vielleicht bin ich einfach durch Zufall in die schlechten Ecken von Neapel geraten. Vielleicht bin ich aber auch Zeitzeuge eines Versagens der Politik. Ich mag mir darüber kein Urteil erlauben, ich schreibe nur auf, was ich gesehen habe.
Das ändert sich, als ich an der Hauptstrasse entlang Richtung historischem Stadtzentrum laufe. Die Festung Castel Nuovo hatte ich auf Google Maps entdeckt, und in der Realität wirken die mächtigen Türme, die den filigranen Triumphbogen einfassen, noch skurriler.
In der Innenstadt stolpere ich durch einen Torbogen, der von einem halben Dutzend Bettler als Unterkunft und Toilette benutzt wird, und stehe plötzlich in Mailand. Zumindest fühlt es sich so an, denn ich stehe in einer Einkaufsgalerie, die ein Zwilling der weltberühmten Galleria Emannuele Vittorio in Mailand sein könnte. Die gleichen, sich überschneidenden Tonnengewölbe, die gleiche riesige Glaskuppel, die gleichen üppigen Verzierungen und ebenfalls kostbare Bodenmosaike. Es handelt sich um die Galleria Umberto I., erbaut 1890. Wie ein Fremdkörper wirkt die prächtige und mondäne Galleria im heruntergekommenen Neapel.
Allerdings ist es mit der Eleganz der Galleria nicht mehr weit her, wie sich auf den zweiten Blick erschliesst. Wo das Gegenstück in Mailand eine der teuersten Einkaufsmeilen überhaupt und das einzige Sieben-Sterne-Hotel der Welt bietet, gibt es in der Galleria von Neapel viel Leerstand. Etliche Geschäftsräume sind nicht belegt, und die Rolläden mit Grafitti beschmiert.
Die Läden die belegt sind, lassen Exklusivität zum Großteil vermissen. Schnellimbisse, kleine Cafés, Schreibwarenhändler und Ein-Euroläden machen den Großteil des Geschäftsbetriebs aus, Mittelklassemoden und ein Antiquitätenladen mit Hang zu Kitsch sind das nobelste, was es hier gibt.
Mit der viktorianischen Pracht der Architektur auf der einen Seite und dem Heruntergekommen auf der anderen wirkt das ganze hier wie Gotham City.
Direkt vor der Galleria verkaufen Strassenhändler wieder Plastikpeperoni, wie an jeder Ecke. Ich kann mir das nicht erklären, später werde ich dann herausfinden, das Neapel mehrere Symbole hat, die die Stadt repräsentieren:
1. Pulcinella, den weißgekleideten Spassmacher aus der Comedia dell´Arte, der die Volksseele von Neapel verkörpert
2. die Pizza Napoli
3. Fußball
4. Das Horn, einen Glücksbringer und Mittel gegen den bösen Blick. Dieses wird repräsentiert durch eine Peperoni.
Das erklärt, warum man wirklich überall rote Peperoni sieht – echte, welche aus Plastik und als Abbildung auf allerlei Alltagsgegenständen und Andenkenkitsch.
Ein Paar Schritte von der Galleria liegt der Kern der Altstadt, der gepflegter wirkt als die Strasse, durch die ich gerade gekommen bin. Hier entdecke ich die Piazza del Plebiscita mit dem großen “Volkspalast”.
Langsam arbeite ich mich wieder in Richtung Bahnhof vor, durch viele Umleitungen und durch den mörderischen Stadtverkehr. Man sagt ja, dass derVerkehr in Neapel einer der irrsten der Welt ist, aber nachdem ich vor zwei Jahren vollkommen ohne Probleme und Aufregung mit Modnerd einmal durch die Stadt gekreuzt bin, hielt ich das für üble Nachrede. Die Neapolitaner, so schien es mir, fahren wie überall in Italien: Schnell, aber umsichtig und sicher. Jetzt muss ich diese Meinung noch einmal revidieren.
In Neapel wird Auto gefahren wie bei uns Autoscooter auf dem Jahrmarkt. Dazu gehört das ständige Hupen, was aber im Gegensatz zu Deutschland meist nicht “Geh weg da du Arsch” bedeutet, sondern “Pass auf, hier bin ich”. Trotz dieser Echolotortung kracht es dauernd, gerade in den engen Strassen der Altstadt. Ehrlich, ich sehe KEIN EINZIGES Auto ohne Kratzer. Alle Wagen sind rundherum eingedrückt, verbeult, zerkratzt. Bei etlichen hängen Verkleidungsteile und ganze Scheinwerfer herab, manche Karosserieteile werden nur von Klebeband zusammengehalten,und selbst Nobelautos der Marke Bently sahen aus, als wären sie in einen Schredder gefallen.
Ich laufe die Modemeile der Stadt entlang, alles niedrig- und mittelpreisige Geschäfte. Was hier angeboten wird, unterscheidet sich in Stil und Chique erheblich von dem, was in Deutschland zu kriegen ist. Während man sich bei uns in einer fürchterlichen Neuauflage der 80er ergeht, gibt es hier tragbare und moderne Kleidung. Mit mehr Zeit würde ich wirklich in Versuchung geraten entgegen meiner sonstigen Gewohnheiten in Modegschäften zu stöbern. Da mein Knie schon wieder signalisiert, dass das alles ein wenig viel war heute, laufe ich langsam und vorsichtig.
Am Bahnhof angekommen stelle ich fest, dass auch italienische Züge nicht vor Verspätungen gefeit sind. Der Frecchiarossa fährt zwar pünktlich, für diese Fahrt habe ich mir aber einen IC gebucht.
Mit 40 Minuten Verspätung geht es schließlich die Küste entlang nach Rom. Mein Abteil teile ich mit zwei italienischen Nonnas, die die ganze Zeit schwatzen und sich auf Ihren Smartphones Bilder ihrer Enkel zeigen. Außerdem ist noch eine sonnenverbannte Kanadierin und ein Kanadier mit unfassbar aufgepumpten Muskeln im Abteil. Beide sind Anfang 20 und Backpacker, ich vermute Bruder und Schwester. Sie machen sich ein leicht absurdes Abendmahl aus Fladenbrot mit Käse und Pesto, zum Nachtisch verteilen sie an alle Datteln. Das ist das erste Mal, dass ich Datteln am Zweig sehe und direkt davon abpflücke. Viel zum Reden kommen wir nicht, denn darauf habe ich gerade keine Lust. Die Eindrücke aus Neapel haben mich nachdenklich und Maulfaul gemacht.
Als ich endlich wieder in Rom ankomme, beschliesse ich zu Fuß durch die Stadt zu laufen. Ich will noch ein paar Eindrücke sammeln. Und so laufe ich die Hügel der Stadt hoch und runter und entdecke die Stadt bei Nacht.
Am Trevibrunnen ist auch nachts um halb zwölf noch Hochbetrieb. Rom schläft nie.
Als ich nach der nächtlichen Wanderung gegen Mitternacht wieder in mein Zimmer komme, versuche ich noch ein wenig Tagebuch zu schreiben, breche das dann aber irgendwann ab. Der Tag war zu lang, als das ich ihn heute Nacht noch in Worte fassen könnte. Ich genehmige mir ein Peroni und gucke dabei die Vorstellung neuer Apple-Gadgets, dann falle ich auf´s Bett und bin sofort eingeschlafen.
8 Gedanken zu „Reisetagebuch Rom 2013 (5): Vesuv, Neapel und Pompeji“
Och. Das Wiesel an der Fontana di Trevi, ohne Anita-Ekberg-Pose? Ich bin enttäuscht. Sehr enttäuscht.
DAs IST die Anita-Eckberg-Pose, man beachte das geraffte Kleid und die neckisch zurückgeworfene Kinnlinie.
Was haben uns die Römer je gebracht?! Den Aquädukt!
Verzeihung. Das muss mir in der Hektik des Augenblicks entgangen sein.
Ts,icht mal die blonden Haare sind Ihnen aufgefallen 😉
Was du über die Sprache schreibst, geht mir mit Spanisch genauso. Ich bekomme keinen Satz mehr auf Französisch raus, ohne dass sich Spanisch dazwischenmischt, am Anfang war es genau umgekehrt.
Und ist dieser Teil eigentlich ein Aufmerksamkeitstest für deine Leser_innen? Zwei der Vesuvbilder sind gleich dreimal vorhanden.
Ansonsten wieder mal unglaublich spannend, dich zu begleiten! Die Nachtbilder von Rom mag ich sehr.
Katja: Boah, ich schmeiss mich weg!! Das mit den dreifachen Bildern habe ich wirklich nicht gemerkt… Danke für den Hinweis, die Tripletten sind zusammengeschrumpft!
Danke für den Artikel !