Motorradreise 2013 (5): Carlo und das Regenbogenhaus
Im Juni 2013 waren Silencer und das Wiesel mit dem Motorrad unterwegs. 6853 Kilometer, 22 Tage, mehr als 40 Orte. Am fünften Tag der LANGEN Reise geht in die Höhle des Windes, das Navi schmiedet finstere Pläne und irgendwas quietscht immer noch.
Donnerstag, 06. Juni 2013, Rio Salso-Bernardi, Region Marchè, Italien
Ich kann kaum noch gerade sitzen, und nach dem großzügigen Abendessen bin ich träge. Der schwere Tafelwein, ein Montepulciano d´Abruzzo, tut sein übriges zum Gemütlichsein. Ein Montepulciano d´Abruzzo, so erklärt Mauro, der Wirt, hat übrigens nichts mit dem Ort Montepulciano in der Toskana zu tun. Er redet schnell, aber präzise, und erstaunlicherweise kann ich alles, was er sagt, verstehen.
Dabei bin ich froh überhaupt hier zu sein. Hier, dass ist der Bergbauernhof “la Vecchio Fontana”, der alte Brunnen. Und hier, das ist mitten in den Bergen, in den Abruzzen. Fast 12 Stunden hat es gedauert hier her zu kommen, aber die Reise war es wert. Der Tag ist wieder so ein überlanger, übervoller gewesen. Nicht mit Programm, aber mit Eindrücken und Menschen.
Sechszehn Stunden vorher
Alles beginnt um kurz nach Sieben. Ich bin auf den Beinen, meine Gastgeber leider noch nicht. Der Agriturismo Rio di Salso liegt in der Morgensonne. Der Pool plätschert, auf den Feldern vor dem Fenster tackern die Wassersprenger vor sich hin, nur die Tür des Frühstücksgebäudes ist fest verschlossen.
Nicht schlimm, so packe ich halt zuerst zusammen und belade das Motorrad, das nass vom Morgentau ist.
Als Koffer und Topcase befestigt sind, ist auch La Signora auf den Beinen und hat ein schönes Frühstücksbuffet aus Cornetti, Kuchen und Joghurt aufgefahren sowie – ein Zugeständnis an die österreichischen Gäste und Werbung für den Hofverkauf – Käse, Wurst und Brot, alles aus eigener Herstellung.
Mir fällt ein Bild von Al Pacino über der Rezeption auf. “No, No, No!”, entgeget La Signoria. Wenn man in Italien etwas ernst meint, muss man es dreimal hintereinander sagen. “Non al Pacino, es Dustin Hoffmann!”, sagt sie tadelnd und beendet den Satz mit einem breiten Lächeln. Achja, stimmt. Ich verwechsele die immer. Tootsie und Scarface, die sehen sich halt recht ähnlich. Auf einem Bild hält Hoffmann mit ausdruckslosem gesicht einen Korb Wurst in die Kamera, während er an jeder Schulter von einem grinsenden Mann umarmt wird. Auf einem anderen trägt er Sonnenbrille und grinst im Leerlauf in die Kamera, während er in irgendwas essbarem herumrührt. La Signoria erklärt, dass die Region Marche ihn vor ein Paar Jahren eingekauft hat, um Werbung für den Tourismus zu machen. Dabei kam der berühmte Signor Hoffmann auch ins Agri Rio. Nunja, sozusagen, er war zwei Kilometer von hier, aber Global gesehen ist das ja quasi der Agri Rio.
Ich grinse und frühstücke zu Ende, dann verabschiede ich mich von La Signoria, und los geht´s. Ich biege in die Dorfstrasse ein und gebe Gas, und die Kawasaki bockt erst ein wenig, dann zischt sie ab. Über kleine Bergstrassen geht es bis auf eine Hügelkette, und hier hauen die Marken mir urplötzlich ihre geballte Schönheit ins Gesicht. Die Landschaft unter mir leuchtet in einem satten Grün. Weiche Hügel gehen ineinander über, Schafe weiden auf grünen Wiesen, und mittendrin gibt es immer wieder kleine Teiche und Bauerhäuser. Das sieht alles gar nicht nach Italien aus, zumindest nicht nach dem, was ich damit verbinde. Das hier ist anders und… sinnlich.
Aus den grasbewachsenen Hügeln werden dicht bewaldete Berge, durch die sich die Schnellstrasse zieht. Immer wieder kommen lange Tunnel, und mache ich schnell Kilometer. Bei Fossombrone fahre ich ab, denn hier möchte ich unbedingt durch die Furlo-Schlucht fahren. Das ist ein tiefer Einschnitt, wo sich der Fluss Furlo ins Gestein gegraben hat. Hier sieht es aus, als wäre ein Berg in zwei Teile zerbrochen. Die kleine Straße in der Schlucht ist nicht stark befahren, und links und rechts des Flusses ragen steile Felswände auf. Als ich anhalte und den Motor der Kawasaki ausstelle, ist es ganz still. Nur das Zwitschern der Vögel und das Rauschen des Flusses ist zu hören, sonst nichts. Der Felseinschnitt ist einigermaßen spektakulär:
[wpvideo KO8eNKtd]
Gegen kurz vor 10 Uhr erreiche ich die Stadt Gubbio. Wieder werde ich überrascht: Ich hatte gedacht, das dies eine Bergstadt sei, stattdessen liegt die Stadt im Tal, und nur die Altstadt zieht sich den Berg hinauf. Ich stelle das Motorrad auf einem Bezahlparkplatz ab und gehe Richtung Markthalle und Berg.
Vor der Markthalle hockt eine buckelige Horde dicker, schwitzender, alter Männer in Motorradklamotten. Die Maschinen stehen in der Nähe. Kreis Mettmann, den Kennzeichen nach, und so benehmen die sich auch. Sie sind anzüglich der Bedienung gegenüber und verhalten sich auch sonst wie eine Bande Primaten. Schon erstaunlich, wie ekelhaft sich manche Leute benehmen, wenn sie 1. woanders als zu Hause sind 2. sie im Rudel unterwegs sind und 3. sie denken, dass sie niemand versteht.
Ich meine, wie dumm muss man sein? Es ist geradezu wahrscheinlich, dass IMMER jemand in der Nähe ist der einen versteht. Und gerade in der Fremde sollte man sich doppelt gut benehmen um einen vernünftigen Eindruck zu hinterlassen. Und letztlich: Dieses bekloppte Rudelverhalten nachzuvollziehen gelingt mir gar nicht. Da bin ich aber auch eher die Ausnahme. Ich mag es nicht in der Gruppe zu reisen (zumindest nicht mit dem Motorrad) und ich komme mir auch nicht vor wie der Held, nur weil ich einen Motor mit zwei Rädern bewegen kann.
Ich wandere bis zum Palazzo dei Consoli, dem Priorenpalast, der kunstvoll in den Hang gebaut ist und die Landschaft überblickt, dann steige ich eine Treppe wieder hinab in die Altstadt.
Doch dann entdeckt das Wiesel einen Aufzug, der Ober- und Unterstadt miteinander verbindet. Ich kenne das aus Colle di Val d´Elsa, aber das Wiesel nicht, und das will unbedingt Fahrstuhl fahren. Damit die liebe Seele Ruh hat, fahren wir also im Inneren des Bergs wieder hoch und gehen noch ein paar Schritte um den Palazzo dei Conseil. Aber was ist das? Zwischen den Häusern ist NOCH ein Aufzug. Wo der nur hinfähhrt?
Wir steigen ein und ich drücke “aufwärts”. Die Türen schließen sich, und als sie sich wieder öffnen, blicken wir auf den Palazzo dei Consoli hinab. Hoch oben am Berg befindet sich nämlich der Dom. Ein Zeichen mit Symbolwert: Die Kirche steht über der Politik.
Und der Ausblick ist wirklich toll:
[wpvideo 1zbxkwMP]
Im Winter verwandelt sich das mehrebige und in den Hang gebaute Gubbio in den größten Weihnachtsbaum der Welt:
Zurück geht es in Richtung Motorrad.
Kurz darauf nehme ich noch eine Ladung Benzin auf, dann geht es gen Osten. Durch grüne Bergtäler und über Brücken geht es durch den ruppigen Teil der Marken. Hier sieht es aus, als hätte ein hauptberuflicher Designer von Fjorden den Auftrag bekommen, Hobbington zu designen und als hätte er dabei nicht aus seiner Haut gekonnt. Grün ist alles, ja – aber HOCH. Das sind grüne Berge, grüne Wände, überall um mich herum.
Hinter dem Ort Genga finde ich, was auf allen Karten im Internet verkehrt eingezeichnet ist, und mich eine Stunde Bild-für-Bild-Recherche auf Google Streetview gekostet hat: Den Zugang zur Frasassi Höhle. Eigentlich ist es ein großer Hier-gibts-alles-Platz mit dutzenden Buden, an denen Erwachsene Kitsch kaufen und Kinder ihr Taschengeld investieren können. Hier ist aber auch die Bushaltestelle, von der aus man bis zur größten Höhle Italiens kommen kann.
Ich parke die Renaissance auf dem großen Parkplatz, als mich ein weißhaariger Herr anspricht. Er fragt mich, ob ich an einem Ratschlag für die Wahl eines Restaurants interessiert sein. Ich danke freundlich und sage, dass ich nicht hungrig sei. “Nein, nein, nein”, sagt der ältere Herr, “nicht jetzt! Für später!”. Nein, auch später will ich nicht. Faszinierend – der Mann hat sein Anliegen mit so viel Ruhe und so beiläufig vorgebracht, dass er mehr wie ein Berater und Mentor denn ein Flyerverteiler wirkt.
Ich packe Helm und die Handschuhe ins Topcase, als er plötzlich wieder neben mir steht. Woher ich denn komme, will er wissen. Deutschland? Von dort bin ich mit dem Motorrad bis hierher gefahren. Wirklich? Incredibile! Er sei ja mal auf dem Roller von hier ins 180 Kilometer entgfernte Viterbo gefahren und dabei fast gestorben dabei, meint er, und dabei wirft er die Arme in die Luft und ruft “Morire! Morire!”, Gestorben!. Wie die Stadt heisst, in der ich arbeite. Es entspinnt sich ein nettes Gespräch, in dessen Verlauf Carlo – so heisst der ältere Herr – meint, dass das Dorf, in dem er hier in den Bergen wohnt, nur vier Einwohner hätte. Aber sein Haus, sein Haus sei ja so schön! Aufgeregt wühlt er plötzlich in seinen Hosentaschen herum und holt ein Nokia-Smartphone heraus. Ich mustere ihn etwas genauer. Er hat eine fast aristokratische Haltung, aber die Kleidung ist verschlissen und schmutzig und stellen- bzw. Büschelweise ist er nicht oder schlecht rasiert. Carlo ist die Art von verrücktem alten Mann, für die das Verteilen von Flyern eine Mission ist.
Nichtsdestotrotz ist Carlo nett und geradezu kindlich freudig und zeigt mir auf dem Nokia Fotos seines Hauses, das er erst gekauft hat, der Umgebung und – von einem Regenbogen, den er gestern fotografiert hat, über SEINEM Haus! Wie wunderschön!
Ich bewundere alles gebührend, muss aber dankend ablehnen, als er mich für heute abend zu sich einlädt. Heute Abend, so erkläre ich, werde ich in Penne erwartet. Carlo wirkt verwirrt und fragt, ob das auch in der Nähe von Urbino sei. Ich muss lachen. Es ist normal, dass Italiener sich gerade noch in ihrem eigenen Landkreis auskennen, alles hinter dessen Grenzen aber als Terra Inkognito ansehen und sich dort auch nicht auskennen.
Ich gebe Carlo die Gelegenheit mir zu helfen und frage ihn, wo denn wohl die Ticketbude sei. Carlo weist mir den Weg, und freut sich etwas tun zu können, und verabschiedet sich mit “Komm einfach später mal, Du bist immer willkommen und ich bin immer hier!”
Die Höhle liegt ein paar Kilometer in einem Tal, dass so eng ist, dass nur eine einspurige Strasse dorthin führt. Deshalb hat man hier, wo sich das Tal weitet, einen großen Platz gestaltet, von wo aus Busse die Touristen zur Höhle bringen. Der große Platz ist wie ein Rummel, vollgestellt mit Verkaufsbuden für Andenken und Snacks. Ein Jahrmarkt, mitten in den Bergen.
Am Sammelpunkt warten bereits andere Höhlenbesichtigungswillige. Die meisten sind „mittleren Alters“, wie man so schön sagt, aber auch eine junge Familie mit zwei Kleinkindern ist dabei. Ich finde das seltsam – warum schleppt man so kleine Kinder in dunkle, feuchte und kalte Höhlen? Aber das die Familie nicht viel oder oft nachdenkt, sieht man schon daran, dass sie in Sandalen und T—Shirts unterwegs sind. Das ist vielleicht gute Kleidung für den Aufenthalt in der Sonne, aber nicht unter der Erde ist. Eine weitere Familie trifft ein und geht mir ebenfalls sofort auf die Nerven. Der Papa, ein Brite namens James, versucht ein Vorschulkind in Zaum zu halten. Allerdings versucht er das mit antiautoritärer Erziehung und macht allen Ernstes Vorschläge wie „Das ist jetzt aber keine so gute Idee da lang zu laufen, Justin, schau, das ist eine Busspur und da fahren Busse.“ Oder „Justin, meinst Du dem Mann gefällt es, dass Du gegen seinen Rucksack trittst?“ während das Muttertier den Vater allen ernstes für seinen passiv-aggressiven Unterton rügt. Meine Güte, wie ich solche Eltern hasse. Kinder brauchen Orientierung und klare Ansagen, nicht so ein homöopathischen Schwafelbullshit.
In Gegenwart der Antiautoritären ziehen sich die Minuten zu Ewigkeiten, und es ist eine Erlösung als der Bus kommt und die Familienbagage, die Mittelalterlichen und mich einsammelt.
Die Fahrt dauert nicht lange, nur ca. 10 Minuten geht es durch ein tiefes Tal im Felsmassiv, dann hält der Bus und entlässt uns vor einer, in den Fels gebauten, Betonrampe, die gesäumt von Bars und Andenkenläden ist. Am Ende der Rampe findet sich ein großer, leere Raum aus Beton, an dessen einer Wand Personenvereinzelungsanlagen, sprich: Drehkreuze, stehen. Das ganze hat den Charme einer U-Bahn-Station.
Hier werden alle Neuankömmlinge nach der Nationalität befragt. Ich bevorzuge eigentlich immer englischsprachige Fühungen, weil die meist besser sind, aber in Anbetracht der Tatsache, das sowohl die Antiautoritären als auch die Sandalenkleinkinder Engländer sind, schließe ich mich der deutschen Gruppe an. Das war genau die richtige Entscheidung, denn die Gruppe ist überaus angenehm. Es gibt keinen Dummschwätzer und Klugscheisser, keine „Oh gugge Mols“. Lediglich ein mittelaltes Paar schwäbische Turteltäubchen, Typ Chef auf Tour mit Sekretärin, könnte ein wenig leiser die Welt an ihrem Glück teilhaben lassen. Egal, meist lauschen auch die konzentriert den Erklärungen unserer Führerin. Durch zwei große Luftschleusen geht es ins Innere des Berges. Die Schleusen sind nötig, weil die Höhle einen natürliche und diesen künstlichen Eingang hat, und es, wenn beide offen wären, ziehen würde, was das Ökosystem, insb. die Fledermäuse, stören würde. Auch so pfeift durch manche Gänge der Höhle ein Luftzug, weshalb sie auch Höhle des Windes genannt wird.
Beim Passieren der zweiten Schleuse wird es schlagartig klamm und kalt, und die Schwaben kuscheln sich eng aneinander, als wir den ersten Raum betreten. Der wirkt unspektakulär, und selbst als die Beleuchtung angehoben wird, reisst es mich nicht vom Hocker. Wir stehen auf einem metallenen Laufsteg am Fuß eines Abbruchs in einer wenig beeindruckenden Halle. „Was schätzen sie, wie groß ist dieser Raum“, fragt unsere Führerin lächelnd. Ich schätze die Höhe auf 20 Meter, die Länge auf vielleicht 50.
„Ja“, sagt die Führerin, „Das denken die meisten. Sie können das nicht richtig einschätzen, weil ihnen der Maßstab fehlt. Sehen sie den Stalagmiten dort? Wie groß ist der?“ Sie leuchtet mit ihrer Lampe an die Höhlenwand, wo ein weißliches Objekt zu sehen ist, das vielleicht 50 Zentimeter hoch ist. Vielleicht auch nur 20, was weiß ich.
„Das ist unsere Maria, und die ist 3 Meter groß.“
WAIT , WHAT?! Habe ich mich verhört?!
„Dieser Raum, in dem wir hier stehen“, sagt die Führerin, „ist 240 Meter hoch und damit so groß, dass der Mailänder Dom ganz locker hier rein passt.“
____________________________________________________________________________________
Die Geschichte der Frassassi-Höhle
Es war 1971, als Rolando Silvestri und Umberto di Santo ein kleines, zugewuchertes Loch im Nordhang des Monte Vallemontagnana entdeckte. Die beiden waren Speläologen und Mitglieder des Club Alpino Italiano von Ancona und gerade in den Bergen unterwegs. Das Loch im Berg erregte ihre Aufmerksamkeit, weil daraus ein starker Luftzug strömte. Sie gruben das Loch auf, und standen plötzlich vor einem bodenlosen Nichts. Kein Seil war lang genug um den Boden zu erreichen, und von den ersten Steine, die sie in das Loch warfen, war kein Aufschlag zu hören. Die beiden hatten ein Loch in der Decke der heutigen Hauptkammer gefunden, und das bedeutete, dass ihr Loch rund 200 Meter tief war. Weiter unten im Berg gab es noch eine Höhle, die 1948 entdeckt worden war, die Grotte di Fiume (Flußhöhle). Es ging das Gerücht, dass das Wasser in der Höhle alles tötete, was in seine Nähe kam. Genau untersucht hatte das aber noch niemand. Das holten die Speläologen jetzt nach. Unter erheblichen Anstrengungen stellten sie fest, dass es sich nicht um verschiedene Höhlen handelte, sondern eine große, die durch viele, enge Kamine miteinander verbunden war. Der Luftzug kam daher, dass Luft unten am Berg ein- und oben wieder ausströmte. Und tatsächlich brachte der Fluss im unteren Teil alles um. Es handelt sich um Schwefelwasser, dass alles zersetzt und nach Pups riecht. Dennoch haben sich nur hier tatsächlich Lebewesen entwickelt, die in dieser Umgebung leben können und den Schwefel sogar brauchen.
_________________________________________________________________________________________
Im Verlauf der nächsten Stunde höre ich immer wieder entferntes Schreien und Weinen der Kinder aus den tiefen der Höhle, während unsere Gruppe die bizarren Felsformationen, tiefen Schächte und Tropfsteine und -fahnen bewundert. Natürlich sehen wir nur einen kleinen Teil, insgesamt hat die Höhle eine Ausdehnung von 35 Kilometern. Ich bin in meiner Motorradkluft mit der dicken Jacke, der Fahrerhose und den schweren Stiefeln übrigens der einzige der Besucher der nicht friert. Die Höhle sieht übrigens auch kalt aus, mit den vielen, weißen Kristallen wirkt sie an manchen Stellen wie ein Winterwunderland.
Nach etwas über einer Stunde verlassen wir die Höhle wieder auf dem Weg auf dem wir sie betreten haben. Kurz nach uns kommt die englischsprachige Gruppe heraus. Die Sandalenträger sind durchgefroren, die Kleinkinder am weinen und James möchte von Justin, dass der darüber nachdenkt, warum es keine gute Idee war in Schwefelwasser zu plantsche, wofür er vom Muttertier dafür gerügt wird, dass er durch solche Einschränkungen Justins Entwicklung beeinträchtige. Was bin ich froh, dass ich mit den Napfnasen nicht durch die Höhle musste!
Man darf in den Höhlen nicht fotografieren, und daran habe ich mich gehalten. Deshalb kaufe ich jetzt noch ein Buch mit Bildern der Höhle, dann bringt mich der Bus zurück zum Rummelplatz. Von Carlo ist keine Spur zu sehen, als ich das Motorrad startklar mache. Es hat in der Zwischenzeit einen ordentlichen Regenschauer gegeben, aber als ich losfahre nieselt es nur noch leicht und die Sonne kommt wieder heraus. Bestimmt gibt es über Carlos Haus jetzt wieder einen Regenbogen, denke ich, und bei dem Gedanken muss ich lächeln. Dann gebe ich Gas und fahre durch die Täler zurück nach Westen, über 50 Kilometer exakt den Weg zurück den ich gekommen bin. Bei Guaido Tadino biege ich nach Süden ab.
Die Strassen hier sind extrem schlecht, und wieder einmal fahre ich hinter wechselnden Lastwagen her. Lässt sich leider nicht ändern, ich muss jetzt Strecke machen und habe keine Zeit Nebenstrassen zu fahren. Zumal es die in dieser abgelegenen Gegend im Süden der Marken auch nicht wirklich gibt, und selbst die Hauptstrassen eher klein sind.
Bei Spoleto biege nach Osten und steuere direkt in die Abruzzen hinein. Von hier hat man einen irren Blick über Umbrien, das ausgestreckt unter mir liegt. Spoleto selbst nennt man auch den “Balkon Umbriens”, bei dem Ausblick verständlich.
Stunde um Stunde geht es jetzt auf kleinen Strassen durch die Berge. Das Navigationsgerät habe ich ausgestellt. Es hat vielleicht noch für eine Stunde Restladung im Akku, die ich bestimmt noch brauchen werde. Jetzt fahre ich erst einmal nach Schildern und den Ansagen des iPhones, das wieder drahtlos mit dem Helm verbunden ist. Fast drei Stunden hält es durch, bis der Akku leer ist. Noch bin ich weit vom Ziel entfernt, deshalb fahre ich erst einmal nach Sicht und Schildern weiter, bis es keine Schilder mehr gibt. Einsam ist die Gegend. Die kleine Strasse zieht und windet sich an den grasbewachsenen Hängen entlang, und als ich um eine Kurve biege, bleibt mir fast die Luft weg.
Vor mir öffnet sich eine weites Tal, über dem tief die Wolken hängen. Und aus diesen Wolken ragt EIN GEBIRGE. Nicht einfach nur Berge, sondern ein riesiges Felsmassiv, dass schroff und hoch aufragt, in der Wolkendecke verschwindet und oben wieder herauskommt. Ich habe den Gran Sasso, wörtlich den Großen Fels entdeckt.
Das Navi führt mich in die Berge, und tatsächlich muss ich jetzt wieder das TomTom benutzen. Nicht nur, weil nach Wegweiser überhaupt kein Weg mehr zu finden wäre, sondern auch, weil die Kommunikation im Helm sich mit einem traurigen Piepslaut ins Nirvana eines leeren Akkus verabschiedet hat. Ich fahre jetzt nach den optischen Anweisungen des kleinen Bildschirms, der immer wieder ausgeht um Strom zu sparen. Andauernd muss ich ihn aufwecken, um sicher zu gehen, dass ich auch wirklich richtig bin. Denn richtige Strassen gibt es nicht mehr. Die Fahrbahn enthält zwar Reste von Asphalt, ist aber nur noch so schmal wie ein Fiat und schlängelt sich so absurd die Berge hoch, dass auf dem Bildschrim das entsteht, was Modnerd gerne “Navikunst” nennt: Der angezeigt Weg sieht eher nach der Zeichnung eines Palsteks aus als nach etwas, auf dem man fahren könnte.
Die letzten 50 Kilometer führen durch nahezu menschenleeres Gebiet. Das hier ist die am wenigsten besiedelte Region Zentraleuropas. Hier und da steht vereinzelt ein Gehöft in den grünen Hängen, aber Orte gibt es hier nicht, und in den zwei Stunden, die ich für die Strecke brauche, weil schneller fahren nicht drin ist, begegnet mir kein Auto. Oft geht es nur im Schritttempo durch Kurven mit absurden Winkeln und Steigungen. Manchmal habe ich das Gefühl ich fahre Wände hinauf und hinab. Das kostet Kraft und ist irrsinnig anstrengend, und als sich nach einer besonders schwierigen Kurvenkombination eine weitere öffnet höre ich einen lauten Schrei. Ich zucke zusammen und bin wieder wach. Offenbar habe ich selbst gebrüllt, aus Frust und vor Müdigkeit, und das für einen Sekundenbruchteil nicht begriffen.
Ich bin heilfroh, als ich endlich eine Stelle der Strasse entdecke, dich in von Streetview kenne. Genau wie auf den Aufnahmen von Google steht hier ein windschiefer Wegweiser aus Holz, und so verlasse ich die Straße und steuere das Motorrad einen steilen Feldweg an einem Berghang hinab. Grün ist es hier. Das liegt nicht nur an dem grünen Gebüsch, dass links des Wegs wächst an einem , sondern auch an dem Blick auf grasbewachsene Hügel rechts von mir. Leider habe ich keine Zeit die Aussicht zu würdigen, denn dieser steinige und schlammige Wirtschaftsweg hier erfordert alles, was nach Stunden auf schwierigen Straßen noch von meiner Konzentration übrig ist.
An einer Stelle ist der Hang weggespült worden und mit ihm ein Teil des Wegs, aber es ist noch genug übrig um sicher weiter fahren zu können. Ich weiß, dass ich mein Ziel gefunden habe – und das ist auch gut so. Nicht nur, weil die Akkus der Navigation leer sind, sondern auch mein eigener. Ich kann einfach nicht mehr. Muss ich aber auch nicht, denn vor mir liegt ein kleines Bauernhaus, vor dem eine schwarzhaarige Frau steht. Sie hat die Arme um die Schultern geschlungen und blickt mir entgegen, wie ich erst den Weg entlang fahre und dann die Renaissance auf einem graden und steinigen Stück abstelle. “Willkommen, Gast!”, Begrüßt mich die Schwarzhaarige und zeigt mir dann einen Parkplatz hinter dem Häuschen. Um da hin zu kommen muss ich lediglich einen steilen Schotterweg hinauf… nein, ich fahre heute keinen Meter mehr. Und ob das Motorrad nun vor oder hinter dem Haus steht ist piepegal, diese Gegend hier ist total menschenleer, da vergreift sich niemand dran.
Monia, so heisst die Dame des Hauses, begrüßt mich und stellt eine Frage, für die ich ihr beinahe um den Hals falle: Ob ich denn Hunger hätte und etwas essen möchte. Ja, MÖCHTE ICH!! Dann zeigt sie mir das Innere des kleinen Bauernhauses. Es ist gemütlich eingerichtet, und auch wenn die Flaschenbodentüren und das meiste Inventar aus den Siebzigern stammen, alles ist super sauber und gepflegt. Ich habe ein Schlafzimmer mit eigenem Bad, und selten war ich so meinen verspannten Körper unter einer Dusche parken zu können. Im Nacken schmerzt mir jeder Muskel, aber das ist auch kein Wunder. Ich war jetzt mehr als 10 Stunden auf dem Motorrad unterwegs, und das keineswegs durchgehend auf entspanntem Terrain.
Es ist halb neun, als ich mich in die Gaststube, den zentralen Raum des Hauses, begebe. An den Wänden hängen Andenken aus alten Zeiten, Orden aus dem Unabhängikeitskampf, schwarz-weiß-Fotografien streng blickender Männer mit Schnurrbärten und alte Liremünzen, fein säuberlich in Serien und hinter Glas.
Durch die Küchentür balanciert ein drahtiger Endreißiger mit wettergegerbten Gesicht Tabletts mit Wurst, Pecorino und eingelegten Artischocken und Tomaten. Dazu stellt er einen Korb Brot und einen Krug Wein auf den Tisch. Mauro, so heisst der Mann, ist der Besitzer der Vecchia Fontana und der Ehemann von Monia. Ich freue mich über das karge, aber sättigende Abendessen und lange ordentlich zu.
Ich begreife erst, dass das nur der erste Gang eines voll ausgewachsenen Abendessen ist, als Mauro mit einer Platte dampfender Spaghetti durch die Tür kommt. Monia hat richtig gekocht hat, und was ich für ein Bauernabendessen gehalten habe, ist nur die Vorspeise. Auf die handgemachten Spaghetti folgt etwas Huhn und Truthahn, dann selbstegbackender Kuchen. Während ich esse sitzt Mauro am anderen Ende des Raums und unterhält sich mit mir. Ab und zu springt er auf und stürmt in die Küche, nur um gleich darauf wieder durch die Schwingtüre zu tänzeln und ein neues Thema anzufangen. Und so kommt es, dass wir erst über das Haus, dann über Radfahrer reden und schließlich bei einem Diskurs über die Folgen der Wirtschaftskrise und der deutschen Finanzpolitik unter Merkel landen. Erstaunlicherweise reicht mein italienisch aus um Mauro zu verstehen und eine Unterhaltung am Laufen zu halten.
Irgendwann verabschiedet sich Mauro und geht ins Bett, und ich hole das Netbook aus meiner Zimmer. Ich kann kaum noch gerade sitzen, und nach dem großzügigen Abendessen bin ich träge. Der schwere Tafelwein, ein Montepulciano d´Abruzzo, tut sein übriges zum Gemütlichsein. Aber auch wenn ich gar keine Lust mehr zum Tippen habe, dieser lange Tag will aufgeschrieben werden. Schlafen könnte ich vermutlich eh nicht sofort, zu aufregend war dieses gefährliche Stück Weg heute.
Ha, von wegen gefährlich. Gegen das, was mich Morgen erwartet, war das heute alles ein Witz. Aber davon weiß ich noch nichts, als ich in dieser Nacht in dem kleinen Bauernhof mitten in den Abruzzen Tagebuch schreibe.
Im nächsten Teil wird es lebensgefährlich: Es geht nicht mehr weiter, ich will die Bergwacht rufen und das Wiesel macht Regenbögen.
Zurück zu Teil 4: Der mit der appen Nase
Weiter zu Teil 6: Das Schlimmste und das Beste
8 Gedanken zu „Motorradreise 2013 (5): Carlo und das Regenbogenhaus“
Habe ich die Navi Reparatur jetzt schon versäumt oder kennst Du Dich auf einmal aus in Italy? Bin ganz verwirrt – ach dieser Huhu…
Ist irgendwas mit den Videos nicht gut? Hier bei mir spielen sie nicht, anders als die bisherigen Filme (gleiches Setup bei mir…).
@Modnerd: bei mir laufen sie tadellos.
Rufus: Navi lädt immer noch nicht, deshalb muss ich mit dem Strom haushalten.
Modnerd: Bei mir laufen sie, auf allem Geräten. Geht das gar nicht bei Dir?
Nochmal für so ganz doofe wie mich zum Verständnis: Das Navi lädt nicht unterwegs während der Fahrt, aber abends am Ladegerät an der Steckdose schon?
Bah, diese Art supermegasonstwasantiautoritärer Eltern kenne ich noch aus meinem Studentennebenjob. Da wurde dann immer mit anderthaltjährigen ausdiskutiert, ob sie denn eventuell mal sich die Füße ausmessen lassen oder Schuhe anprobieren möchten oder vielleicht heute lieber doch nicht. Gaaaaaaah! Drehste dorsch!
Mit Flash? Gerade rausgefunden, dass sie in Chrome laufen, dann da aber nur im Flash-Player. Die alten liefen auch so, ist ja vermutlich H264, oder? Komisch.
(BTW: Großartige Musikauswahl im ersten Film, und Danke für das Easteregg!)
Zimt: Ja, genau. Es lässt sich an der Steckdose laden und hat dann für max. 6 Stunden Strom.
Modnerd: kann kein Flash sein, bei mir laufen die auch im Safari auf dem iPhone und auf der PS4. Nur in Reeder klemmen die.
Wow, die Höhlen sind ja mal krass! :O Sehr tolle Aussicht!