Motorradreise 2013 (14): Bücherflut im Monat der Schildkröte
Im Juni 2013 waren Silencer und das Wiesel mit dem Motorrad unterwegs. 6.853 Kilometer, 22 Tage, mehr als 40 Orte. Dies ist das Tagebuch der LANGEN Reise. Am fünfzehnten Tag wird es künstlerisch wertvoll.
Sonntag, 16. Juni 2013, Casa Brescia, Siena, Toskana
Und es ist… Sonntag. Da geht in Italien mal gar nichts, nicht mal tanken. Oh, natürlich steht überall in großen Lettern “APERTO” – geöffnet – aber das hat nichts zu sagen. Das steht auch an Läden, die nachweislich seit mehreren Jahren geschlossen sind. “Aperto” steht auch an Tankstellen, was aber nur die halbe Wahrheit ist. 24-Stundenbetrieb kennt man hier nur halbautomatisch, das heißt: Die Tankstellen, selbst die meisten der großen an den Strada Statale, sind von 07.00 bis 12.00 und von 15.00 bis 19.00 Uhr besetzt. In den restlichen Zeiten muss man an einem Automaten die Zapfsäule und die Kraftstoffart und oft auch vorab die zu tankende Menge einstellen, der Betrag wird dann von einer Karte abgebucht. Exakt da beginnt mein Problem… im Beneluxraum und in Frankreich ist dieses halbautomatische Modell auch bekannt und funktioniert gut. Man steckt seine Kreditkarte in die Zapfsäule, folgt den Anweisungen auf dem Bildschirm und am Ende wird das Konto mit der getankten Menge belastet. So weit, so gut. In Italien hat man sich aber zielgerichtet von einfacher Bedienung und Kundenfreundlichkeit verabschiedet. Tanken an italienischen Automatentankstellen ist für ausländische Motorradfahrer nachgerade nicht möglich. Kreditkarten werden an den Automaten in der Regel nicht akzeptiert. Die einzigen Zahlungsmittel sind die Carta Banca und Bargeld. Die Carta Banca ist ein nationales Zahlungssystem, so ähnlich wie die deutsche EC-Karte, sowas hat kein Ausländer. Die Slots zur Annahme von Banknoten sind häufig defekt, und wenn sie mal funktionieren, ist der Mindesteinwurf 20 Euro. Selbst bei den hohen Benzinpreisen in Italien ist dieser Betrag mit einem Motorrad nicht oder nur schwer zu erreichen.
Ich habe für heute so geplant, dass ich nicht tanken muss und trotzdem ein wenig rumkomme. Die letzte Tat am gestrigen Abend war, die Maschine bis zum Stehkragen vollzutanken. Damit hat sie eine Reichweite von ungefähr 300 Kilometern, danach kann ich noch auf den Reservetank umschalten, der nochmal 50 Kilometer halten sollte. Mehr als genug. Wobei ich, so langsam und niedertourig wie ich hier durch die Gegend eiere, mit den aktuellen Verbrauchsdaten sogar auf 420 Kilometer Maximum kommen müsste. Aber das will ich nicht ausprobieren.
Heute will ich keine Rekorde aufstellen, sondern nur ein wenig herumgondeln.
Uns so sieht Herumgondeln (und sich auf Schotterwegen verfahren) im Bewegtbild aus:
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Ich fahre von Siena aus Richtung Westen, über kleine Dorfstraßen und über Bergketten, die eine fantastische Aussicht bieten und so perfekt kurvig sind, dass hier die Freizeitrennfahrer hoch und runter karriolen. Folgerichtig gibt es für Motorräder ein eigenes Tempolimit, ein deutliches Zeichen, dass sich die Kleinhirnstrategen hier gerne überschätzen. Tatsächlich sehe ich ein paar Motorradfahrer am Wegesrand herumstehen, habe aber zum Glück keine direkte Konfrontation mit so einem Möchtegernrennfahrer.
Ich fahre Richtung Arrezzo. Das ist ein weitläufiges Oberzentrum, das ein ganzes Tal und die angrenzenden Berghänge überwuchert hat. Modnerd und ich standen da mal im Stau bzw. mussten durch einen Feierabendverkehr, der meinen Fahrer einige graue Haare gekostet haben dürfte. Am Sonntag ist es da bestimmt ruhiger, und ich will mal gucken, ob die Stadt das nicht besser kann…
Im Kern der riesigen Wucherung liegt eine kleine Altstadt, die zumindest auf Bildern so wirkt, als könnte sie interessant sein. Ich erkunde die gleichmal auf die harte Tour und hoppele mit der Kawasaki mitten durch die Gassen. Hoppeln deswegen, weil die engen Wege mit Steinplatten ausgelegt sind, die sich gegeneinander verschoben haben und in absurden Winkeln aus dem Hang stehen. Ja, aus dem Hang. Denn wie Call-me-Jeff neulich beim Kochen mit Nonna Ciana schon so schön bemerkte: Everything looks flat on Streetview – ist es aber meistens nicht.
Die Altstadt von Arrezzo ist in einen Berhang gebaut und die Strassen sind irre steil. Die Kawa pustet wieder heiße Luft aus allen Rohren, und ich bin ziemlich am Fluchen, zumal das Navi etliche Male wieder in Straßen möchte, die entweder Einbahnstraßen oder nicht vorhanden sind. Irgenwann hat es sich ausgehoppelt, die Maschine steht auf den zuvor am heimischen Bildschirm ausgeguckten Koordinaten und ich sitze in einem schönen Park, genieße das Wetter und bin nebenbei mit dem mobilen Hotspot im Internetz unterwegs. Das Wiesel versucht indes neue Freunde zu finden.
Dann erkunde ich die Stadt. Gestern war wohl Waschtag, denn alles hängt noch voller Wäsche. Die berühmte schräge Piazza mit der Kirche Santa Maria delle Pieve ist mit Sand ausgelegt. Es sieht aus, als sollte hier auch ein Pferdrennen nach dem Vorbild von Sienas Palio durchgeführt werden.
Tatsächlich ist Arrezzo eine Stadt mit vielfältigen Kunst- und Kulturaktionen. Alle paar Meter gibt es Musseen und Ausstellungen. Aus einer nahegelegenen Bibliothek klingt immer wieder Applaus – dem Aushang ist zu entnehmen, dass hier heute Morgen Geschichtsprofessoren referieren. Und mitten in der Stadt findet sich dieses Kunstwerk:
Mit Lust auf mehr Kultur mache ich mich auf zurück nach Siena. Ich will den Parco Scultura di Chianti besuchen. Letztes Jahr hatte das nicht geklappt, eine giftige Alte hatte sehr rüde erklärt, dass sie die Öffnungszeiten mache und jetzt halt nicht offen sei, basta. Nunja, vielleicht klappt das heute besser.
Tatsächlich treffe ich genau die Frau wieder, als ich den Berg zum Skulpturenpark emporsteige, und heute ist sie freundlicher. Ich bin alleine hier oben, die anderen Besucher, die am Kassenhäusschen anstehen, sind etwas… künstlich.
In aller Ruhe erkärt mir die Frau in einem großen Zeltpavillion das Konzept des Parks, weist mich auf besondere Sehenswürdigkeiten und hin, erklärt noch dies und das und nimmt anschliessend sogar meine schwere Jacke in Verwahrung.
Dafür bin ich sehr dankbar, denn wir sind auf dem Berg, in der Nachmittagshitze. Die Wetterstation Siena sagt, es sind fast 35 Grad im Schatten, und ich trage, wie immer, die hohen Stiefel und den kompletten Fahreranzug.
Ich beginne den Rundgang durch den Park, und versuche zu erfühlen was die Künstler dazu gebracht hat, genau dieses Werk an diese Stelle zu bauen. Das ist nicht ganz einfach, zum einen, weil es sich um abstrakte Kunst handelt, zum andern, weil das Wiesel Aufmerksamkeit will und dauernd Quatsch macht. Aber egal, es gibt kein Kunstwerk auf der Welt, dass durch Hinzufügen eines Wiesels nicht besser würde.
Der Besuch des Parks ist wirklich sehr empfehlenswert, und es ist schade, dass ich relativ schnell rum bin. Aber Moment… 40 Kilometer von hier gibt es doch noch einen Park. Dreamwood, der Traumwald. Hier hat jemand Steine gesammelt und zu irren Kunstwerken aufgestapelt! Das will ich mir ansehen!
Will ich mir das wirklich ansehen? Frage ich mich eine Stunde später, als kleine Steine unter den Reifen des Motorrads wegplongen und immer wieder das Hinterrad ausbricht, während ich die Maschine duch Kehren aus Schotter und 15 Zentimeter tiefen Schlaglöcher steuere. Als dann auch noch die Beschilderung aufhört, habe ich keine Lust mehr, wende und fahre zurück.
Wenn die, wer auch immer “die” sind, wollen, dass man ihren Park besucht, dann sollen sie das Ding richtig ausschildern. Und vielleicht mal die tiefsten Schlaglöcher mit ihren Steinen stopfen, fährt ja nicht jeder Gast einen Geländewagen. Pöh.
Nee, da fahre ich lieber zurück nach Siena und esse ein Eis. Ist auch besser, in der Hitze muss ich ein wenig mit meinen Kräften haushalten. Immerhin bin ich schon zwei Stunden durch die Sonne gelaufen und fünf Stunden Motorrad gefahren.
In meinem jugendlichen Übermut – und weil ich ja Zeit habe – stelle ich das Navi auf “kurvenreiche Strecke”. dann rechnet es kleinere Strassen, alles dauert etwas länger, aber in der Regel hat man mehr Spass am Fahren. Tja. Hier nicht. Wenige Minuten später geht mit die Strasse unter den Reifen aus, und ich finde mich auf einem viel schlimmeren Schotterweg wieder als eben. Hier sind die Schlaglöcher tief wie Bombenkrater, die Steigungen steiler und die Steine fasutgroß. Kurvenreiche Strecke, my ass. Ich muss TomTom echt mal schreiben, das Kartenmaterial ist in manchen Regionen echt unfassbar schlecht. also, geografisch ist es natürlich schon korrekt, die Wege sind schon da wo sie eingezeichnet sind, aber oft sind sie halt nicht fahrbar. Was mit dem Auto schon ärgerlich ist, ist bei eine Motorradnavi echt gefährlich.
Ich huckele und schuckele den Feldweg entlang. Richtig gefährlich ist das hier nicht, so lange von vorne keiner kommt, aber mir tut die Seele weh, wenn ich daran denke, was für eine Belastung das für´s Motorrad ist. Hinter mit höre ich das Topcase klappern, unter mir schlägt immer wieder der Hauptständer gegen den Rahmen. Kann man Navihersteller eigentlich verklagen, wenn die einem die Karre kaputtfahren? Vermutlich nicht.
Als ich endlich, nach 6 Kilometern klappern und hoppeln, eine geteerte Strasse erreiche, schwöre ich, in Zukunft in diesem Land die Finger von der “Kurvenreiche Strecke” Option zu lassen.
In Siena angekommen stelle ich die Renaissance wie immer in der Viale dei Mille ab, dann setze ich mich in den Park auf der dicken Mauer der Medici-Festung, mache ein wenig Pause. Ein alter Mann setzt sich nach einiger Zeit dazu, und wie reden darüber, dass das Wetter schön ist und die Sonne scheint. Jaja.
Die lokale Nudelspezielität heisst Pici, die sind 15 Zentimeter lang, rund und haben einen Durchmesser von 1,5 Zentimetern. Die probiere ich heute in meiner Spaghetteria. “Meine” deswegen, weil ich da jedesmal der einzige Gast bin. Der Wirt schaut Fußball oder der Gameshows im Fernseher über der Tür, und eine kleine Frau ohne Gesichtsausdruck, die mit Kittel und Haube ein wenig wie eine Nonne aussieht, bereitet die Speisen zu. Und das nicht besonders gut, die Pizza ist erbärmlich, und das Fleisch in der Soße muss man mit der Lupe suchen, aber dafür ist es günstig und die Pasta ist gut. Das ist schon ein komischer Laden, zumal man hier nur einen “Primo” bekommt, also einen Nudelteller oder eine Pizza, aber sonst keinen weiterne Gang. Ganz an den Bedarfen der eiligen Tagestouristen orientiert. Mit soll es recht sein, ich werde hier satt, ich mag die Pasta und billig ist es auch.
Nach dem Essen werde ich Zeuge eines Aufmarsches auf dem Campo. Zum Glück nicht so einem wie gerade in Frankfurt oder der Türkei, wo man mit Wasserwerfern auf Demonstranten schiesst, sondern eines Prachtumzugs der Contrade der Schildkröte.
Eine Contrade ist die Gemeinde eines Stadtteils und stellt eine Organisation und ein soziales Zentrum da. Das System von Siena ist einzigartig. Die Stadtviertel haben alle eigenen Farben und Wappentiere, sie treten zweimal im Jahr im härtesteb Pferderrennen der Welt, dem Palio, gegeneinander an, und sie kümmern sich um Alte und Arbeitslose. Dank dieser sozialen Nachbarschaftssysteme gibt es in Siena, im Vergkleich zu anderen Städten ähnlicher Größe, sehr viel weniger Kriminalität. Dieser Juni ist der Monat der Contrada della Tartuca, der Contrade der Schildkröte, und das feiert sie mit Aufmarsch und Krach. Vorneweg kommen die Trommler und Fahnenschwenker in ihren historischen Kostümen, die sie stolz an den Reihen der staunenenden Touristen entlangtragen. Dann, als der offizielle Teil vorbei ist, folgen die Bürgerinnen und Bürger des Viertels, kleine Kinder, alte Menschen, Rollstuhlfahrer, Familien, Jugendliche. Alle mit dem Halstuch mit der Schildkröte, und alle singen aus vollem Hals die Hymne der Contrade.
Interessant.
Ich mogele mich durch die Menschenmassen, laboriere an einem Eis mit den Sorten Mousse Au Chocolat, Tiramisu und Straccitella herum und mache mich dann auf den Weg zurück zum Motorrad. Später sitze ich bei offenem Fenster in meinem Zimmer im Casa Brescia. Die schweißnassen Klamotten hängen zum Trocknen aus, die Geräte summen beim Aufladen an den Netzteilen. Ich schreibe Tagebuch auf dem kleinen Acer Aspire, während die Sonne langsam untergeht und die Frösche im Teich der Nachbarn ihr Quakkonzert anstimmen. Apropos Quakkonzert. Neben dem melodiösen Geflöte der italienischen Sprache fallen andere nur unangeehem auf. Der französische Gutturalbrechdurchfall, gestern, in Florenz, der war schon schlimm genug. Aber nun höre ich eine Gruppe Leute, die nicht nur die Türen schlagen als wären sie allein auf der Welt, sondern sich auch in einer Art Bellen mit einem nörgelnden Unterton unterhalten. Ich sehe von meinem Notebook auf und blicke mich im Spiegel über dem Schreibtisch erschrocken selbst.
Ach. Du. Scheiße.
Das sind Deutsche!
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2 Gedanken zu „Motorradreise 2013 (14): Bücherflut im Monat der Schildkröte“
Also da gab’s einiges zu lernen, ich kannte bislang nur den Guido von A. 🙂
Oh, den kannte ich wiederum noch nicht, danke für den Hinweis!