Motorradreise 2013 (19): Schöne Ecken
Im Juni 2013 waren Silencer und das Wiesel mit dem Motorrad unterwegs. 6.853 Kilometer, 22 Tage, mehr als 40 Orte. Dies ist das Tagebuch der LANGEN Reise. Am zwanzigsten Tag hat´s auch schöne Ecken, es gibt einen Schreck und das Wiesel geht einkaufen.
Freitag, 21. Juni 2013, Agriturismo Al Bagolaro, Volta Mantovana, Lombardei
Die Sonne scheint auf die Kiwifelder und die Wassersprenger klackern wieder ihren Takt. Es ist ein strahlend schöner Tag, der achtzehnte in Folge, aber zum Glück nicht mehr ganz so heiß wie gestern. Nachdem Chiara ein weiteres Grandioso-Frühstück gezaubert hat, diesmal sogar noch erweitert um Wurst und Käse, schwinge ich mich auf die Kawasaki und lade die heutige Tour ins Navi. Die ungefähren Touren für jeden Tag habe ich zu Hause am PC grob vorgeplant und im TomTom gespeichert, so dass ich sie jetzt nur noch aufrufen muss. Dadurch entfällt das Gefrickel mit der Suche nach Zielen, und auch um Parkplatzsuche brauche ich mich jetzt nicht kümmern.
Der heutige Weg führt vom Gardasee aus nach Westen, durch die satten, grünen Felder der Po-Ebene.
Dort liegt Brescia (das wird Breescha ausgesprochen), das große Industriezentrum. Der Norden Italiens ist der wirtschaftliche Motor des ganzen Landes, und die Lombardei ist die reichste der reichen Regionen – nicht nur durch Landwirtschaft, sondern vor allem durch Exportindustrie. Schlechtes, aber passendes Beispiel: In einem Vorort von Brescia stellt die Firma Beretta Handfeuerwaffen her. Ein Exportschlager.
Während das Motorrad durch die unvermeidlichen Auf-, Ein- und Umfahrten in Kreiseln, Tunneln und Brücken düst, erhebt sich Brecia Stück für Stück aus der Ebene vor mir, wie eine glitzernde Fata Morgana aus einem Kohlfeld. So eine Stadt habe ich bislang noch nicht in Italien gesehen. Ein hoher, schlanker Wolkenkratzer erhebt sich über die Stadt, und schimmert im Vormittagslicht irisierend blau. Daneben steht ein kleineres Bürogebäude, dass aussieht wie eine auf den Kopf gestellte Pyramide. Die Spitze steht auf einem kleinen Sockel, dann kommt die Pyramide, und auf derer Basis – die in den Himmel zeigt – steht das eigentliche, würfelförmige Gebäude. Solche mutigen Bauformen gibt es hier noch mehr.
Das Navi lenkt mich durch die Büroviertel hin zur Altstadt, und wenig später fährt die Renaissance eine steile Rampe hinab und verschwindet unter der Piazza Victoria. Kurze Zeit später komme ich über eine Treppe an einer ganz anderen Ecke wieder an die Oberfläche und sehe mich um.
Die Piazza Victoria ist ein Musterbeispiel für größenwahnsinngen Bau in der Zeit des Faschismus. Ich muss zugeben, dass mich solche Gebäude sowohl wegen ihrer bombastischen und strengen, einschüchternen, ja, ihrer autoritären Art anwidern – und gleichzeitig faszinieren. Um die Piazza Vittoria anlegen zu können, haben die Faschisten einen ziemlichen Kahlschlag in der Stadt veranstaltet. Zum Glück ist aber noch genug vom Centro Storico erhalten, und das ist sogar ausnehmend angenehm.
Stefano hatte mich verwundert angesehen, als ich sagte, dass ich seine Heimatstadt ansehen wollte, und verwirrt gefragt “Warum in aller Welt willst Du DA denn hin?!”. Dann hatte er mir Brescia als Industriestadt beschrieben und sie in den grauesten Farben ausgemalt. Das mag ja alles richtig sein, aber die historische Innenstadt ist schön. Oder, wie ein gewisser Podcast nicht müde wird zu beweisen: Egal wie hässlich eine Stadt ist, man wird zumindest immer über sie sagen können “Hat aber auch schöne Ecken”. Wobei das wirklich die unterste Stufe ist, die grundsätzlich Hannover und Kassel vorbehalten sein sollte. Brescia liegt deutlich über diesem Level.
In Brescia sind weit und breit keine Touristen oder Urlauber zu sehen. Hier erlebe ich einen ganz normalen Vormittag unter Leuten die ihrem Tag nachgehen. Ich trinke hier einen Kaffee, kaufe dort ein Tramezzino und schlendere ansonsten durch die Straßen. Ich suche ein Spielzeuggeschäft, aber irgendwie gibt es in Brescia nur einen Modeladen am nächsten. Selbst die sind für mich – ausnahmsweise- mal interessant anzusehen, denn alles ist überaus elegant, stilvoll und mit chique präsentiert. H&M und der Ranz, der deutsche Fußgängerzonen zukleistert, sucht man hier vergeblich.
Stattdessen finde ich den Dom, oder besser: Gleich zwei davon. Denn als der alte Dom nicht mehr groß und prächtig genug war, hat man direkt daneben den Duomo Nuovo, den neuen Dom, gebaut.
Unterschiedlicher können zwei Bauwerke, die dem gleichen Zweck dienen, kaum sein. Der alte Dom ist eine Chiesa Rotonda, eine Rundkirche. Von denen gibt es nicht viele, aber ich habe wohl ein Talent dafür die zu entdecken. Innen ist er in Naturstein und warmen Goldfarben gehalten. Der Neue Dom ist ein Barockbau, der im Inneren erhaben und streng wirkt und in grau gehalten ist.
Nach zwei Stunden verlasse ich Brescia. Eigentlich hätte ich mir heute noch das weiter südlich gelegen Piacenza ansehen wollen, aber irgendwie hat mich gerade die Lust verlassen. Ich fahre nach Norden, zum Gardasee.
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Die folgende Fahrt führt von Mantua aus nach Verona, von dort nach Brescia und dann zurück auf den Agriturismo und zu meinem Häusschen. Kreuz und quer durch die Lombardei.
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Von einem alten Castello aus genieße ich ein wenig den Blick über den See, dann will ich ein wenig daran entlangfahren – was sich als nervtötend erweist, weil alle 200 Meter Geschwindigkeitsbuckel auf der Panoramastrasse angebracht sind, und alle paar Kilometer geblitzt wird. Nee, das möchte ich nicht. Durch das ständige auf-Buckel-und-Blitzer achten komme ich gar nicht dazu die Aussicht zu genießen. Da fahre ich lieber noch eine Runde durch die Feldmark Richtung Süden, und weil Volta Mantovana auf dem Weg liegt, mache ich dort Rast und eine Stunde Mittagsschlaf. Hey, ich habe immerhin Urlaub!
Ausgeruht geht es ein letztes Mal nach Mantua. Da Wiesel will nicht mit, was ungewöhnlich ist. Es stromert über den Campingplatz es Agriturismo und kaut mal hier an Gras herum und sitzt mal da im Strahl eines Wassersprengers. Ich finde das etwas verdächtig und vermute, dass es irgendwas vor hat oder ausgeheckt, kann ihm aber (noch) nichts nachweisen und fahre deshalb achselzuckend alleine los.
In Mantua parke ich wieder am Hafen und gehe zu Fuß in die Innenstadt, allerdings diesmal ohne unfreiwillige oder freiwillige Umwege. Ich möchte mir den Palazzo Ducale ansehen. Der Sitz der Herzogsfamilie Gonzaga, und später der Habsburger, ist schon eine imposante Erscheinung, wenn man ihn von der Piazza Sordello aus sieht, aber wie groß er wirklich ist kann man nicht mal ahnen. Über die Jahrhunderte hat das Gebäude viele An- und Umbauten erfahren. Neue Gebäudeteile entstanden wie Knospen und wuchsen und wucherten, bis die ganze, mehr als 3 Hektar große, Anlage wie ein Labyrinth zusammengewürfelt war. Mehr als 500 Räume und 15 Innenhöfe hat der Palast. Einen kleinen Teil davon kann man besichtigen, manche Flügel sind aber so verwahrlost, dass niemand sie betritt. Immerhin gibt es aber einen gemeinnützigen Verein, der Spenden sammelt um das Gebäude Stück für Stück zu renovieren.
Als ich die ersten Ausstellungsräume betrete bin ich etwa ernüchtert. Die Exponate sind nett, aber Ikonen und mittelalterliche Fresken sind nicht meins. Das dazu uralte Roststücke in Vitrinen als Schwertfragmente bejubelt werden macht es nicht interessanter, sondern zieht alles auf das Niveau des Heimatmuseums von Mumpfelhausen hinab.
Zum Glück sind die ersten Räume nur zum warmlaufen. Dann kommt nämlich der Renaissanceteil, und danach die Barockanbauten, und spätestens jetzt komme ich aus dem Staunen nicht mehr heraus. Leider ist fotografieren streng verboten, und viele Wächter und Kameras achten darauf, dass das Verbot auch eingehalten wird. Aus den Fenster zu fotografieren ist allerdings erlaubt.
Ich bin nahezu allein in dem riesigen Palast unterwegs, sieht man mal vom Aufsichtspersonal ab. Es ist angenehm, durch das kühle Gemäuer zu flanieren. Alle Fenster sind geöffnet, und ein leichter Windhauch streicht durch die Räume und lässt die Vorhänge wehen. Die neueren Hallen sind von überbordendem Prunk und wirklich wunderschön. Kein Wunder, hier haben echte Meister Hand angelegt. Was die Medici für Florenz waren wollte die Familie Gonzaga für Mantua sein. Sie wollten aus der Stadt ein Zentrum von Kunst und Kultur machen und heuerten daher die größten Künstler ihrer Zeit an. Dummerweise “liehen” sich die Päpste in Rom ihnen regelmäßig die bereits teuer engagierten Künstler für ihre eigenen Aufträge aus, oft kamen die dann nie wieder.
Dann entdecke ich in einem schmalen Durchgang und bin plötzlich sehr aufgeregt. Dieser Gang, der Corridoio dei Mori, war die Blaupause für das größte Geheimnis von Florenz, den Corridoio Vasariano. Die Anregung für den Geheimgang quer durch die Stadt hast sich Baumeister Vasari nämlich hier geholt, in Mantua, wo 1580 ein Geheimgang zwischen den Gemächern der Gräfin Isabell d´Este und dem alten Palastteil gebaut wurde. Wie toll der ausgestaltet ist! Leider darf man nicht fotografieren, und überall sitzen grimmig schauende Rentnerinnen, die die Einhaltung des Verbotes überwachen. Ich lächele sie freundlich an und grüße, während ich hinter meinem Rücken auf Hüfthöhe versuche zu fotografieren…
Im Palast gab es noch einen zweiten Geheimgang, den man erst bei Restaurierungsarbeiten in den 90ern wiederentdeckte. Es handelt sich um vier kleine Räume, die nach den Elementen benannt sind. Zusammen bilden die Camera del Fuoco, die Camera dell´Aqua, die Camera della Terra und die Camera dell´Aria den Corridoi del Passerino, der heimlich zwei Gebäudeteile verbindet, zwischen denen es keine Verbindung geben sollte. Der alte Palast ist voll solcher Geheimnisse.
Nach dem Palazzo Ducale finde ich, dank iPhone, endlich ein Spielwarengeschäft, erstehe das Objekt der Begierde und esse dann noch ein Eis auf der Piazza delle Erbe. In der Gelateria “La Rotunda” gibt es die Sorta “Latte brutta ma bene” – “Milch, roh aber gut”. Ich muss lachen, als ich die bestelle, aber die Gelaterista klärt mich auf, dass das eine sehr alte und ehrwürdige Eissorte ist. Und lecker ist die! Schokoladeneis mit Stücken gebrochener Schokolade darin. Wow.
Ich verabschiede mich in Gedanken von Mantua und gehe langsam zurück zum Hafen.
Als ich wieder beim Motorrad ankomme, sehe ich etwas, was mir gar nicht gefällt.
Die Maschine verliert Öl.
Nicht viel, aber in den drei Stunden, die ich weg war, ist was zusammengekommen. Eine kleine Pfütze schimmert auf dem Asphalt unter dem Motor. Ich fasse unter die Abdeckung hinter der Lichtmaschine. Hier trieft es nur so, alles ist naß.
Man, muss das jetzt sein? So kurz vor Ende der Reise noch technische Probleme?
Ich hebe die Maschine auf den Hauptständer, damit sie senkrecht steht, und checke den Ölstand. Der ist OK, der Ölverlust kann also nicht so schlimm sein bzw. noch nicht lange passieren. Den Weg zurück zum Agriturismo mache ich mir Gedanken. Woher kann das Öl kommen? Ist es durch die Dichtungen nach außen gepresst worden? Liegt es daran, weil die Maschine den Ölwechsel bei 8 Grad Außentemperatur bekommen hat, und es nun viel heißer ist und der Motor auch wesentlich wärmer wird als sonst? Oder habe ich irgendwo ein ernsthaftes Leck? Ich bin da etwas vorbelastet. Bei meiner Honda ist mir mal ein Ölschlauch geplatzt – binnen Sekunden hatte der Motor dramatischen Ölverlust und zudem war von jetzt auf gleich unter dem Hinterrad ein veritabler Ölteppich entstanden. Passiert sowas jetzt auch? Und das ausgerechnet vor der Etappe über die Alpen! So kurz vor zu Hause. Jaja, es ist IMMER die letzte Etappe, IMMER der letzte Schritt, bei dem alles den Bach runtergeht.
Beim Agriturismo angekommen parke ich die Kawa vor dem Cassetta, bocke sie noch einmal auf und gucke mir alles genau an. Mit einer Taschenlampe aus dem Bordwerkzeug leuchte ich bis in die kleinsten Winkel – und plötzlich bin ich sehr erleichtert.
Das ist kein Öl vom Motor.
Das ist Öl aus dem Kettenschmiersystem!
Das Öl darin ist bei der Hitze viel flüssiger als es sein sollte, und deswegen fliest nicht nur mehr Öl raus als es sollte, es kann auch nicht vernünftig an der Kette haften und wird sofort wieder von ihr weggeschleudert und sammelt sich in der Ritzelabdeckung, von wo es nach unten tropft. Der Kettenschutz und die hintere Verkleidung sind ebenfalls voller Öltröpfchen, und sogar das Nummernschild ist gesprenkelt. Notiz an mich selbst: Nächstes mal bei Sommerfahrten das Hochtemperaturöl einfüllen, das hat eine höhere Viskosität und haftet auch wenn es heiß ist. Aber hey, wer hätte das ahnen können? Zu Beginn der langen Reise bin ich bei 5 Grad durch strömenden Regen gefahren!
Chiara guckt mir neugierig über die Schulter. “Alles OK?” “ja”, lache ich, “jetzt schon”.
Dann nehme ich mein letztes Abendessen in Italien ein, ein Fertigrisotto mit Oliven und Würstel und Focaccia, die ich aus dem Supermarkt mitgebracht habe.
Dann packe ich sehr sorgfältig die Koffer. Sorgfältig vor allem deshalb, weil mittlerweile der Platz etwas knapp ist, dank der ganzen Einkäufe. Zum anderen muss ich darauf achten, dass das Gewicht gleichmäßig verteilt ist. Dann fährt sich das Motorrad fast genauso leicht wie ohne Koffer, aber wehe wenn eine Seite schwerer ist als die andere – dann macht Kurven fahren keinen Spaß mehr, und schlimmstenfalls werden die Reifen ungleichmäßig abgefahren. Ich habe eine kleine Kofferwaage dabei, und nach dreimal umpacken habe ich auf beiden Seiten knapp 14 Kilogramm und bin froh, dass ich alles unter bekommen habe.
Während der Umpackaktion hat sich das Wiesel kurz blicken lassen, dann war es gleich wieder verschwunden. Ich kann mir denken, wo es bei der Wärme ist. Es zieht sich dann gerne an kühlere Orte zurück, und als ich ein Klappern aus der Küche höre, glaube ich zu wissen wo es ist. Vorsichtig schleiche ich mich an den Kühlschrank und reiße mit einem Ruck die Tür auf. Allerdings bin ich es, der sich erschrickt. Das Wiesel grinst mich aus dem Inneren des Eisschranks freundlich an. Es ist nicht allein in seinem kühlen Versteck. Irgendwie hat das Wiesel es geschafft den kompletten Kühlschrank mit einem gigantischen Vorrat Sternchenkekse zu füllen.
WWTF??? Wiesel, what the…WIE SOLLEN WIR DAS ALLES NACH DEUTSCHLAND BEKOMMEN??
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4 Gedanken zu „Motorradreise 2013 (19): Schöne Ecken“
Sicher auch schöne Rundungen, aber die hast nicht gezeigt 😉
Awwwwwwwwwwwwwwwwwwwwwwwwwwwwwwwwwwwwwwwwwww……
Tut mit leid, welche Strapazen Sie mit dem Wiesel in Itlien auf sich nehmen mussten, aber ich bin einfach der Weltgrößte Wieselfan und liege ihm nach dem Kühlschrankfoto zu Pfoten. Außerdem hat das Wiesel auf das Bild mit dem Wassersprenger einen sehr hübschen Regenbogen geniest.
schöne Ecken … Hannover ist doch ganz nett. Hast du denn die vielen Packungen Sternchenkekse noch unterbringen können? Fährst du deshalb immer wieder nach Italien um Sternchenkekse zu kaufen?
Rufus: Doch, im Video, vor der Kirche 🙂
WdW: Ja, es hat einen schönen Regenbogen geniest. Vermutlich war es schon so glücklich, weil es diesen Riesenvorrat Sternchenkekse hatte 🙂
Leandrah: Öhm… ja, Hannover hat auch schöne Ecken. Aber niemand käme auf die Idee es als schöne Stadt zu bezeichnen. Was die Sternchenkekse angeht: Wart´s ab 🙂