Reisetagebuch Prag 2014 (1): Der Anfang vom Ende
Am Tag der Deutschen Einheit, 25 Jahre nach dem Fall der Mauer, machten Modnerd und Silencer im tollsten Oktober aller Zeiten in den Osten rüber. Auf den Spuren der Geschichte ging es nach Prag, der alten Metropole an der Moldau.
“Wollen Sie nicht erstmal gucken?”, hatte Eva gefragt und skeptisch die Augenbrauen hochgezogen. “Gehen Sie erstmal hin, gucken sie das Frühstück von der Frau an, dann entscheiden Sie, ob sie das wollen”.
Irgendwie schien die Rezeptionistin vom Frühstück der Frau nicht überzeugt gewesen zu sein, trotzdem hatte ich es gleich gebucht und im voraus bezahlt. Schlimmer als italienisches Frühstück kann ein tschechisches nicht sein. Diesen Vertrauensvorschuss hatte Eva mit einem tadelnden Blick geahndet.
Keine Ahnung woher ihre Skepsis kommt. Das Frühstücksbuffet, dass die Frau am nächsten Morgen in einem Kellerraum der Pension bereitstellt, ist zwar einfach, aber mehr als ausreichend. Kaffee, Brötchen, Cornflakes, Wurst, Streichkäse, vier Sorten Konfitüre – so fängt der Tag doch gut an! Als ich wenig später vor die Tür der Pension 15 trete bin ich zufrieden, vollgefuttert und unternehmungslustig.
Im strahlenden Sonnenschein liegt der Straßenzug mit dem groben Kopfsteinpflaster dar. Die Pension 15 ist ein großes Haus aus der Gründerzeit, in dessen Hinterhof früher mal eine Autowerkstatt war. Das Wohngebäude ist jetzt ein Hotel, die ehemalige Werkstatt ist zu Appartements ausgebaut. Eines davon belegen Modnerd und ich.
Irgendwie waren Modnerd und ich zeitgleich auf die Idee gekommen mal Prag sehen zu müssen, und so nutzen wir das Wochenende und den deutschen Nationalfeiertag für eine Kurzreise in die tschechische Hauptstadt. Letzte Nacht sind wir angekommen, mit einem Eurocity. Der Hauptbahnhof liegt nur zwei Kilometer entfernt. Ein entspannter Spaziergang durch die Nacht, und schon hatten wir unsere Unterkunft gefunden.
Nun ist es Tag. Tag der deutschen Einheit, um genau zu sein. Vor genau 25 Jahren und drei Tagen hat die hier, in Prag, begonnen. Welchen besseren Ort könnte man jetzt besuchen? Bevor es geschichsträchtig wird geht es erstmal auf den Prager Fernsehturm. Der überragt die ganze Stadt und die umliegenden Berge, an deren Hängen sich die Häuser hochziehen.
Der Fernsehturm steht quasi direkt vor unserer Haustür, und weil ich auf alle Aussichtspunkte draufklettern muss, versteht es sich von selbst, dass ich hier keine Ausnahme machen kann. Wenn man genau hinsieht, bemerkt man die Figuren von Babys, die die Fassade des Turm hinauf- und darauf herumklettern.
Das ist das Werk von David Černý. Die Wikipedia weiß über ihn, dass er immer wieder provoziert – und damit “ungewöhnlich produktive Kontroversen sorgt”. Er hat die Stadt in den letzten Jahren entscheidend geprägt – durch seine Kunst UND seine Fähigkeit, Leute zu verarschen. So hatte beispielsweise die tschechische Regierung einen Wettbewerb gestartet: Europäische Künstler sollten Prag verschönern. Černý bewarb sich mit einem Künstlerkollektiv, dass er aus Ländern ganz Europa zusammengestellt hatte. Erst als die Kunstwerke standen, kam raus, das Černý die allein gebaut hatte – die Identitäten und Lebensläufe der anderen 27 Künstler hatte er frei erfunden. David Černýs Werke werden mir noch öfter begegnen, aber erst einmal geht es auf den Fernsehturm.
Das Aussichtsdeck befindet sich auf 93 Metern Höhe, der Turm selbst ist mit 266 Metern aber bedeutend größer. Als sich die Türen des Lifts öffnen, stehen Modnerd und ich in einer abgefahrenen Spacelounge.
Von der gehen drei weitere Lounges ab. Durch große Fenster hat man einen tollen Blick über die Stadt.
Prag liegt zum großen Teil im Moldautal und ist umgeben von Bergen. Im Westen, hinter der Moldauschleife, ragen die Burgberge auf. In einer Flußschleife liegt die Altstadt, etwas südlich davon die Neustadt. Umliegend ragen immer wieder Hügel mit grünen Kuppen aus dem Häusermeer. Sie markieren die Wohnviertel der Millionenstadt. 12 Prozent der 10 Millionen Tschechen leben hier, wobei Tschechien selbst nur etwa so groß wie Bayern ist.
Während man den Blick über Prag schweifen lässt, kann man es sich entweder auf großen Ledersofas bequem machen oder in diesen spacigen Sitzeiern:
Wieder auf dem Boden geht es in Richtung Innenstadt. Prag hat im zweiten Weltkrieg keine Verwüstungen erfahren müssen. Die einzigen Bomben, die hier gefallen sind, stammten von einem amerikanischen Verband, der sich verflogen und Prag mit Dresden verwechselt hatte. Auch die Sozialisten haben sich nur wenig an der Stadt vergriffen, und das ist zu merken. Prag besteht aus wunderschönen Bauten. Gothische Kirchen mit ihrer himmelwärts strebenden Architektur stehen neben echten Renaissancegebäuden, geschaffen von italienischen Architekten. Barockhäuser mit ihren verschnörkelten Zuckerbäckerfassaden stehen neben klassizistischen Prachtbauten, und drum herum viele, viele Gründerzeithäuser aus dem 19. Jahrhundert, die oft ungewöhnlich verspielte Fassaden zur Schau tragen.
Dazwischen ziehen sich mit Kopfsteinen gepflasterte Alleen hindurch. Die Straßen außerhalb der Altstadt sind allesamt breit und großzügig, was der Stadt einen offenen und luftigen Eindruck verleiht.
Natürlich gibt es auch eher so mittelhübschhässliche Gebäude aus der Zeit des Sozialismus oder danach, aber das sind erstaunlich wenige.
Mitten durch Prag fließt die Moldau, und an einer der Brücken tanzen Ginger und Fred. So nennen die Prager das merkwürdige Haus Tanici Dum von Frank Gehry, das ein wenig an ein tanzendes Paar erinnert und deswegen auch Tanzendes Haus genannt wird.
Es ist mit 16 Grad und im Sonnenschein angenehm warm, besseres Wetter könnten wir uns gar nicht wünschen. Beim Queren der Brücke fällt aber auf was fehlt. Über dem Fluß geht ein leichter Wind, und der macht bewusst, an ws es Prag mangelt: Frische Luft. Die Luft in der Stadt ist staubig und mit Abgasen belastet, obwohl hier fast nur moderne Autos fahren. Die Lage im Tal und die Menge an Fahrzeugen macht das wohl. Ich möchte mir gar nicht vorstellen, wie das hier im Winter sein muss, denn viele der Häuser hier haben noch Kohleöfen als Heizung.
Auf der anderen Seite des Flusses liegt Smíchov, das altes Fabrikviertel. Das ist mittlerweile zur hippen Wohnsiedlung umgebaut, aber eine Fabrik gibt es hier noch. Hier wird Prags Stolz produziert: Staropramen. Die Firma gehört inzwischen InBev, trotzdem halten die Tschechen ihrem Staropramen die Treue. Und Pilsner Urquell. Aber nur, weil das auch aus Tschechien kommt.
Etwas nördlich liegt der Stadtteil Mala Strana. Der ist zunächst sehr schmal, weil er sich zwischen Fluß und Berg quetschen muss.
Den steilen Aufstieg kann man sich sparen, wenn man mit der Standseilbahn hinauffährt. Das ist unspektakulär, schont aber die Füße, und nur 5 Minuten später steht man vor dem Eiffelturm.
Einem Eiffelturm für Zwerge, denn der Petřín ist gerade mal ein Fünftel so hoch wie das Original.
Der Blick über die Stadt ist… toll.
Durch einen weitläufigen Bergpark kann man bis zur legendären Prager Burg schlendern.
Die Prager Burg, die Pražský hrad, ist ganz anders als wir Burgen normalerweise kennen. Sie ist kein Mittelalterliches Ungetüm aus rohem Stein, sondern wirkt eher wie ein Stadtviertel aus Häusern aller möglicher Epochen. Tatsächlich ist sie die größte, zusammenhängende Burganlage der Welt. So große, dass ein ganzer Dom ziemlich verloren in einem der zahlreichen Innenhöfe rumsteht, und so groß, dass eine ihrer Straßen zu eigenständiger Berühmtheit gekommen ist. Die Burg ist noch in Benutzung: Sie ist der Sitz des Tschechischen Staatspäsidenten.
In die Burghöfe kommt man einfach so, aber wenn man in die Tiefen des Veitsdoms will, oder ins goldene Gäßchen, oder eine der vielen Kunstgalerien in den Nebengebäuden, dann muss man Tickets lösen. Für den Veitsdom reicht auch schon der Blick in die im allgemein zugänglichen Bereich, um die Größe und Erhabenheit des Bauwerks mitzubekommen.
Spaziert man auf der anderen Seite aus der Burg hinaus, steht man in einem Weinberg. Der leuchtet schon in kräftigen Herbstfarben.
Ein sanft abfallender Weg führt bis zum Fuß des Bergs. Hier werden tschechische Würste vom Grill verkauft, und spiralförmig aufgeschnittene und frittierte Kartoffel-am-Spieß. Die ist lecker, könnte aber etwas Salz vertragen und trieft, wie alles aus der tschechischen Küche, vor Kalorien.
In der Nähe des Flusses liegt das Kafka-Museum. Davor grüßt ein weiteres Kunstwerk: Zwei männliche Figuren mit elektrisch schwenkenden Penissen, die auf das Relief von Tschechien urinieren. Eine weitere Provokation von David Černý.
Kurz dahinter quert die Karlsbrücke, angeblich eine der schönsten Brücken der Welt. Ich finde sie, ehrlich gesagt, nicht spektakulär. Nur total überlaufen. Während es ansonsten überall entspannt und unstressig zugeht, drängt sich auf der Brücke ein dichtes Gewusel aus Touristen, fliegenden Händlern und Portraitzeichnern.
Die Hauptstraße der Touristen führt über die Brücke und auf den Burgberg zu. Hier ist dichtes Gedränge, Straßenkünstler machen Straßenkunst und überall flitzen Segways herum. Die sind in Prag mittlerweile eine solche Plage, dass es eigene Verbotsschilder für sie gibt.
Nichtsdestotrotz ist die Burgstadt alt und ehrwürdig, und etwas weiter die Kopfsteinpflasterstraße hinauf gibt es schon keine Touristen mehr. Eigentlich gibt es so gut wie gar keine Fußgänger mehr. Ein einzelnes Auto, das die Straße passieren will, wird von einem Polizisten gestoppt. Der Fahrer muss aussteigen und die Motorhaube öffnen, während ein zweiter Beamter mit einem großen Handspiegel den Unterboden des Fahrzeugs kontrolliert.
Während ich das Schauspiel beobachte, merke ich plötzlich, wie ich selber gemustert werde. Ein Wachman und eine Wachfrau in schwarzen Uniformen gucken gelangweilt, aber professionell wachsam in meine Richtung. An den Schultern tragen sie die Flagge der USA. Natürlich! Das muss das Botschaftsviertel sein! Etwas weiter die Straße hoch liegt die diplomatische Vertretung Italiens, die es sich in einem ehemaligen Kloster gemütlich gemacht hat. Gegenüber dem kleinen Kloster steht ein klotziger, ausladener, fünfstöckiger Barockbau: Das Palais Lobkowitz.
Hier hat es angefangen. Hier suchten vor 25 Jahren Bürger der DDR Zuflucht und harrten wochenlang im Garten des Anwesens, das seit 1973 die Botschaft der BRD ist, aus. Bis am 30. September 1989 der Außenminister Hans-Dietrich Genscher auf den Balkon des Hauses trat und sagte:
“Liebe Landsleute, wir sind zu Ihnen gekommen, um Ihnen mitzuteilen, dass heute Ihre Ausreise…”
Der Rest ging in Jubelgeschrei unter. “… in die Bundesrepublik Deutschland möglich geworden ist.” hätte Genschman wohl sagen wollen. Am nächsten Tag wurden die erschöpften und glücklichen Menschen per Zu über Dresden ins bayrische Hof gebracht. Der Weg über Dresden musste sein, damit die DDR behaupten konnte, es hätte sich um eine legale und von ihr genehmigte Ausreise, und nicht um Republikflucht, gehandelt. Das war der Anfang vom Ende der DDR.
Fünf Wochen später, am 09. November 1989, öffnete die DDR ihre Grenzen. Der Rest ist Geschichte.
Ich war damals 14, und ich verfolgte all das im Fernsehen und in den Zeitungen. Es war eine spannende und aufgewühlte Zeit. Erst die große Anspannung und die Frage, ob wohl alle die Nerven behalten würden oder ob es zu einer Katastrophe käme. Und dann die Maueröffnung, mit der sich all die Anspannung in Tränen der Erleichterung und des Glücks entlud, als sich wildfremde Menschen mit wirklich schlimmen Frisuren in den Armen lagen und Karawanen von Trabis gen Westen tuckerten.
All das begann hier, und 25 Jahre später stehe ich am Tag der Deutschen Einheit vor der Deutschen Botschaft in Prag und bin immer noch erleichtert und froh, dass alles so gekommen ist wie es ist.
Schweigend wandern Modnerd und ich zurück zur Moldau, durch enge Gässchen mit einem Buchladen, dessen Regale außen angebracht sind.
“Kampa” ist ein Künstlerpark mit Museum auf der Kleinseite der Stadt. Hier steht Kunst rum, natürlich auch wieder was von David Černý, der eines seiner Riesenbabys beigesteuert hat.
Überhaupt steht in Prag an jeder Ecke Kunst rum. Oder hängt. Oder sitzt…
Dann beginnt die goldene Stunde. Die Sonne steht tief, und die Gebäude, insbesondere viele der Türme, die aus hellem Stein gebaut sind, fangen an golden zu leuchten. Nicht lange, aber das ist der Grund, weshalb Prag auch die goldene Stadt genannt wird.
Im Licht der untergehenden Sonne grüßt ein letztes Mal eine Černý-Plastik:
Modnerd und ich streifen auch nach Einbruch der Dunkelheit weiter durch die Stadt, bis die Füße nicht mehr wollen. Unterwegs entdecken wir fantastische Jugendstilbauten, wie das Hotel Central, oder das Palladium, ein Einkaufszentrum von einer Größe und einem Luxus, wie ich es bislang noch nicht gesehen habe.
35 Kilometer sind wir am Ende gelaufen und haben uns das Pilsner Urquell, bei dem wir den Tag dann endlich ausklingen lassen, redlich verdient.
3 Gedanken zu „Reisetagebuch Prag 2014 (1): Der Anfang vom Ende“
Und das war nur ein Tag? Herrje!
warst Du denn bis ganz oben? Es gab einen Fahrstuhl habe ich gelesen, das ist auf jeden Fall entspannender als laufen. Lt. meiner Tochter die auf Klassenreise in der 8.schon mal da war, ist Prag eine beeindruckende Stadt.
Leandrah: Ja, klar war ich ganz oben! Den Fahrstuhl gibt es, aber der kostet nochmal genauso viel wie die Eintrittskarte.