Reisetagebuch Prag 2014 (2): Das bimmelnde Skelett und der Golem
Am Tag der Deutschen Einheit, 25 Jahre nach dem Fall der Mauer, machten Modnerd und Silencer in den Osten rüber. Einmal falsch abgebogen, und schon fanden sie sich in Prag wieder, der Stadt an der Moldau.
Samstag, 04. Oktober 2014
Familienfotos in schwarz-weiß, sepiafarbene Aufnahmen von alten Autos, Öllampen, eine gußeiserne Schreibmaschine, Kochlöffel, Schallplatten, verschiedene Sorten von Uhren, eine Gasmaske und das Innenleben eines Konzertflügels schmücken die Wände des Frühstücksraums in der Pension 15. Hier hat jemand den Inhalt seiner Rumpelkammer zum Konzept erklärt.
Heute macht nicht die Frau Frühstück, sondern eine andere, aber gut ist es trotzdem. Eine halbe Stunde später stehen Modnerd und ich auf dem Kopfsteinpflaster des Wohnviertels und trotten Richtung Westen.
Es ist noch ein wenig diesig und mit 10 Grad auch kühl, aber das bleibt nicht so – als wir um eine Ecke biegen, grüßt über die Hausdächer schon das größte Reiterstandbild der Welt von seinem Gedenkberg herab, und dahinter: Blauer Himmel.
Der Berg ist der Vitkov, und seine Kuppe trägt das Nationalmuseum. Von dort hat man, klar, eine tolle Aussicht:
Der Typ auf dem Pferd ist Jan Žižka, einen Heerführer, der an dieser Stelle vor 600 Jahren Kreuzfahrer vermöbelte. Wenn man davor steht, wirkt die Pferdestatue gar nicht so groß, aber mit neun Meter Höhe und mit 16,5 Tonnen Gewicht gibt es keine von vergleichbarer Größe in der Welt.
Umgeben sind Pferdemensch und Museum mit einem Park, in dem an diesem Morgen nur vereinzelt Leute herumjoggen. Ein gewundener Weg führt hinab in den Stadtteil nördlich des Vitkov.
Hier ist das “normale” Prag. Touristen verirren sich nicht hierher, hier gehen nur Anwohner ihrem Leben nach. Die großen Bürgerhäuser aus der Gründerzeit sind auch hier imposant und schön anzusehen, aber weniger farbenfroh gestrichen und wenig gepflegt als im Zentrum. Die Läden sind kleiner und spezialisierter, und die Kneipen und Restaurants haben ihre Karten nur auf tschechisch in der Auslage, und nicht wie im Zentrum auch auf englisch.
Sprachlich hat man in Prag übrigens gar keine Probleme. Jeder hier spricht Englisch, viele auch Deutsch. Deutsch ist besonders bei älteren noch verbreitet, die jüngeren lernen es meist nicht mehr.
Prag war übrigens seit immer ein Sammelbecken mit einer deutschen und einer tschechischen Bevölkerung. Ich sage bewusst nicht “ein Schmelztiegel”, denn vermischt hat sich da gar nichts. Die Deutschen waren immer die mit dem Geld, die gebildete und arrogante Oberschicht. Die Tschechen stellten die Arbeiterklasse. Das änderte sich erst, als nach Ende des zweiten Weltkriegs die Deutschen aus dem Land geworfen wurden. Diese Abschiebung der “Sudentendeutschen” wird von deren Organisation gerne als Vertreibung bezeichnet. Heute liegt der deutsche Bevölkerungsanteil bei 0,2 Prozent.
Unversehens geraten Modnerd und ich in einem Markt, der die freundliche Atmosphäre eines kleinen Stadtfests oder eines Open-Air-Cafés hat. In einem Park vor einer Kirche stehen Wagen und Wägelchen, an denen Obst, Gemüse und Wurst verkauft werden. Dazu gibt es Stände, die Essen anbieten. Hier drehen sich auf großen Grills lecker aussehende Würste, dort wird selbstgebackener Kuchen verkauft. Eine sehr entspannte Atmosphäre liegt in der Luft. Die Leute schlendern über den Markt, kaufen Kartoffeln, dann setzen sie sich auf eine Wurst und einen Kaffee an die Tische. Generell ist Prag sehr angenehm locker, und hier ist es einfach nur super relaxed.
Über den Fluss liegt das Messeviertel. Hier ist zu merken, dass der sozialistische Planbau viel gestaltet hat. Alles ist groß und protzig, gleichzeitig aber stellenweise auch grau und weniger gepflegt als andere Ecken der Stadt. Insbesondere der Messepalast ist eine Beleidigung für´s Auge.
Im Inneren des Messepalast ist eine Ausstellung von Alfons Mucha zu sehen. Den kennt man wegen seiner Plakate, die maßgeblich den Jugendstil in den 1890er Jahren geprägt haben. Die sehen z.B. so aus:
Im Messepalast hängen leider nicht seine Plakate, sondern der Gemäldezyklus “Der slawische Epos”. Zwanzig Bilder sind hier versammelt, die Geschichte und Szenen slawischer Geschichte und Kultur zeigen. Jedes Gemälde ist eine Collage. Und jedes ist riesig, über 6 Meter hoch und bis zu 12 Metern breit:
Die Szenen wirken teils fremdartig, und manchmal wie Stilleben. Allen gemein sind die blassen Farben und die Frauengesichter, die aus dem Vordergrund fast jedes Bilds die Betrachter anstarren. Mal zornig, mal konzentriert, mal entsetzt, mal :
Lange halten wir uns nicht im slawischen Epos auf. Etwas weiter die Straße des Messeviertels entlang kommt man wieder vorbei an prächtigen Bürgerhäusern, aber auch skurrilen Bauten, wie dieser kleinen Kunstgallerie.
Am Ende der Straße liegt das skurrilste Überhaupt: Ein Lapidarium. Darin werden, ganz lapidar, Steine ausgestellt. Das Gebäude liegt auf dem alten Messegelände, das vollgestellt ist mit alten Gebäuden aus Viktorianischer Zeit.
Über eine Berg, auf dessen Spitze ein Park liegt (wie auf jedem Berg von Prag), führt der Weg zurück in die Altstadt. Es ist schon zu merken, dass es langsam Herbst wird:
Traditionell werden Flüsse, die ineinander fließen, nach dem Längeren benannt. Das Recht des stärkeren Gilt wohl auch bei fliessenden Gewässern. Bei der Moldau ist das anders. Sie ist länger als die Elbe, tritt aber trotzdem ihren Namen ab. Sonst würde Hamburg an der Moldau liegen.
Im Norden der Altstadt liegt das jüdische Viertel. Hier soll im 16. Jahrhundert der weise Rabbi Löw den Golem erschaffen haben, jene mythische Gestalt aus Lehm, die von heiligen Worte auf einer Schriftrolle in seinem Kopf zum Leben erweckt wurde. Der Golem arbeitete ununterbrochen für den Rabbi und schützte die jüdische Bevölkerung. Nur am Sabbat wurden die Worte aus seinem Kopf genommen, und der Golem ruhte. Als der Rabbi einmal vergaß die Schriftrolle am Sabbat aus dem Lehmkopf zu nehmen, lief der Golem Amok und zerstörte fast das ganze jüdische Viertel, bis man ihn stoppen konnte. Es heisst, dass die Reste des Golems noch immer auf dem Dachboden der alten Synagoge liegen. Den Rabbi Löw gab es wirklich, weshalb die Geschichte mit dem Golem sicherlich auch genau so passiert ist.
Heute liegt im jüdischen Viertel eine Synagoge an der nächsten. Die schönste ist sicherlich die spanische Synagoge mit den maurischen Verzierungen. Leider ist sie an diesem Tag geschlossen.
Überhaupt, die Bauwerke. Prag ist reich an wundervollen Häusern, fast jede Straße der Innenstadt ist ein Kunstwerk für sich. Manche Fassaden gibt es so nur hier, denn in der Prager Architektur hat sich eine spezielle Art des Expressionismus herausgebildet, eine besondere Form des Kubismus. Und darauf aufbauend sogar Rondo-Kubismus, also Kubismus mit runden Elementen.
Kubismus ist toll, aber ich mag Jugendstil lieber.
Eines der tollsten Jugenstilhäuser ist das Hotel Europa. Das ist bankrott und normalerweise geschlossen, aber gerade wird dort eine Austellung aufgebaut. Modnerd und ich mischen uns zwischen die Arbeiter und streifen so unauffällig wie möglich durch das Gebäude. Die überbordende Pracht und Grandezza der Einrichtung lässt sich schwer in Worte fassen, und leider ist auch fotografieren schwierig, weil auffällig…
Das Hotel Europa liegt am Wenzelsplatz. Dort hat auch gerade jemand Kubismus gemacht.
Vom Wenzelsplatz ab geht eine der vielen Passagen, prächtige Einkaufsmeilen, die ebenfalls die Großartigkeit vergangener Zeiten atmen.
Es hält sich ja hartnäckig das Gerücht, dass bei Reiterstandbildern erkennen kann, wie der Reiter gestorben ist. Hat das Pferd einen Huf in der Luft, starb der Reiter im Kampf, hat es alle Beine am Boden, starb er im Bett, usw. Nette Theorie, was sagt die wohl hierzu?
Das ist natürlich eine weitere Plastik des notorischen David Cerny.
Die Innenstadt von Prag ist sauber und aufgeräumt. Dazu trägt nicht nur das Heer von Straßenfegern bei, sondern auch ein strenges Alkoholverbot. Zwar gibt es überall Mini-Supermärkte, die traditionell und nach dem universellen Gesetz von grimmig guckenden Asiaten geführt werden, und die nichts anderes verkaufen als Sekt, Wein, Bier und Hardgas, aber der Konsum der Alkoholika ist auf der Straße untersagt. Wer es trotzdem tut, der muss Strafe zahlen – so wie diese deutschen Jugendlichen, die ein Mal cool sein wollten und die Dose Bier nun mit bis zu 1.000 Kronen Strafe (ca. 36 Euro) bezahlen dürfen.
Wieder und wieder versetzt mit die Prager Innenstadt in erstaunen. Mal sind es die kleinen Geschäfte un Bars, dann wieder die kopgsteingepflasterten Gassen, die Kirchen und Türme oder einfach die liebevollen Hinterhöfe und Passagen: Alles ATMET Stil und Eleganz.
Traditionelles, tschechisches Restaurant: Hooters.
Nur eine Enttäuschung gibt es. Die weltberühmte Astronomische Uhr. Die ist wunderschön anzusehen, und bis ich die Uhrzeit ausgeknobelt habe vergeht ein Moment. Die Uhr ist praktischerweise nicht an einem Turm oder so befestigt, sondern auf Straßenhöhe. Zur vollen Stunde versammeln sich hunderte Menschen davor, halten ihre Kameras und Smartphones in die Luft und warten auf den Stundenschlag.
Als der Zeiger vorrückt passiert…
…nicht viel. Das Skelett oben rechts zupft an der Bimmel, zwei Türchen fleigen auf, dahinter rotieren drei Figuren, Bumm, Tür wieder zu, das war´s. Das Ganze dauert nur Sekunden und ist so unspektakulär, dass ich fast lachen muss.
Nunja. Dann eben andere Kunst, in Prag steht genug davon rum.
Überall gibt es Stände mit Trdelnik. Das ist ein süßer Teig, der um einen Holzstab geschlungen und dann über offenem Feuer gebacken wird. Sieht traditionell aus, ist es aber nicht. Tatsächlich gibt es die Trdelnik-Buden erst seit ein paar Jahren. Witzigerweise sehe ich eine Woche nach dem Besuch in Prag einen solchen Wagen in Einbeck, auf dem Eulenfest. Auf Deutsch heisst das Gebäck “Kaminstrietzel” und kommt, so erklärt mir der Bäcker, aus Ungarn. Die Tschechen haben das nur übernommen. Allerdings noch zu Königs Zeiten, einer der tschechischen Herrscher hat wohl mal den Bäcker des ungarischen Fürsten entführt, um den zu ärgern.
Am Abend, nach fast 25 Kilometern zu Fuß durch die Stadt, gibt es traditionelles tschechisches Essen im “Kobra Nostalgie“, einem urigen Restaurant mit Bar und Disko, das gerade von Gothgirls heimgesucht wird. Es gibt Knödel, Entenbraten, Sauerkraut, dazu ein Pilsener Urquell, dass ich mittlerweile für das zweitbeste Bier der Welt halte. Prag ist übrigens immer noch günstig. Die Übernachtung mit Frühstück hat ca. 23,- Euro gekostet, ein großes Bier einen Euro, und ein gutes Essen um die 10 Euro.
Und das war es auch schon mit Prag. Zwei Tage und drei Nächte waren gerade genug Zeit, um insgesamt fast 70 Kilometer durch die Stadt zu laufen und einen Eindruck davon zu bekommen, wie diese Stadt tickt. Besonders gefallen hat mir, dass hier nichts überlaufen ist. Auf der Karlsbrücke und vor der astronomischen Uhr tummeln sich die Touristen, aber ansonsten ist alles angenehm normal. Auch die Geschäftchen und Andenkenläden sind angenehm anders. Normalerweise findet man in jeder Touristenstadt in Europa die immer gleichen Läden im Dutzend, die den immergleichen Tant verhökern. In Prag gibt es auch Andenkenläden, aber die haben sich einen gewissen Stil bewahrt – einer bietet er Laubsägearbeiten an, ein anderer hat sich auf böhmisches Kristall spezialisiert. Nur Figuren vom kleinen Maulwurf, die bekommt man überall.
In zwei Tagen lässt sich natürlich nur an der Oberfläche kratzen. Prag ist bezaubernd und hat mehr zu bieten als nur Architektur und schöne Fassaden. Die zahlreichen Museen und Kunstgalerien hebe ich mir für das nächste mal auf. Ich bin mir ziemlich sicher, dass ich nochmal wiederkomme.