Motorradreise 2014 (2): Im Reich des Gummimanns
Im Sommer 2014 reiste Herr Silencer mit dem Motorrad durch Europa. 24 Tage, 7.187 Kilometer, durch sechs ein Viertel Länder. Heute geht´s quer durch Frankreich.
Samstag, 07. Juni 2014, Remiremont, Region Vogesen, Frankreich
So unwirklich übersättigt die Farben der Landschaft in der Abendsonne gewirkt haben, so ausgeblichen wirken die Vogesen jetzt im kühlen, weißen Licht der Morgensonne. Erstaunlich, wie sich die Landschaft und die Stimmung durch das Licht verändert. Es ist acht Uhr, als die Renaissance Remiremont verlässt und über eine Schnellstraße nach Süden saust. Autobahnen vermeidet das Navi, weil die mautpflichtig sind. Aber auf den Schnellstraßen, die um diese Zeit noch leer sind, kommt man genauso schnell voran – und kostenlos. Auf den zweispurigen Schnellstraßen ist Tempo 110 erlaubt, auf Autobahnen geht es mit Tempo 130 nur unwesentlich schneller. Schnellstraßen werden allerdings gelegentlich gekreuzt, aber da es in Frankreich kaum Ampeln, aber jede Menge sehr guter Kreisel gibt, fließt der Verkehr fast immer flüssig.
Der Luftdruck der Reifen und die festsitzende Bremse machen mir immer noch Sorgen. Bin ich vielleicht schon mit viel zu wenig Luft gestern von Deutschland bis nach Frankreich gefahren? Die Luftmeßgeräte waren sich da ja nicht einig, und der Vorderreifen schien laut Messung sogar Luft zu verlieren. Mme. Kieffer, die eine Stunde zuvor noch um mich herumgesprungen ist, bedauerte zutiefst, nicht mit einer Luftpumpe aushelfen zu können.
Um 09.00 Uhr entdecke ich endlich eine große AVIA-Tankstation und fahre sie sofort an. Der Luftautomat funktioniert und hat sogar ein Ventil, und so stelle ich die Kawasaki davor ab und warte darauf das die Reifen abkühlen.
Warten ist nicht meine Stärke, und als nach 15 Minuten kaum noch Restwärme zu spüren ist, werde ich ungeduldig. Also den Schlauch angepöppelt und… Überraschung! Der Vorderreifen HATTE den richtigen Luftdruck. Jetzt, wo er noch ein wenig Warm ist, steht der bei 2,7 Bar. Hinten ist etwas zu wenig, ich erhöhe auf 3.2, das sollte 2,9 im kalten Zustand entsprechen. So, das Problem mit den Reifen wäre gelöst. Die Bremse quietscht noch nicht, das macht sie erst wenn sie wärmer wird, sich ausdehnt und dann irgendwann dauernd schleift, also fahre ich weiter.
Es geht durch verschiedene Provinzen, alle stark von der Landwirtschaft geprägt. Grüne Felder liegen links und rechts der Straße. Die Rapsblüte ist vorbei, für Getreide ist es noch zu früh – also ist alles grün. Plattes Land, wohin man schaut, und mitten hindurch die Straße, oft schnurgerade bis zum Horizont. Manchmal führt sie über eine leichte Bergkuppe, und aus irgendeinem Grund erwarte ich immer, auf der anderen Seite das Meer zu sehen. Es liegt wohl an dem harten Licht und dem tiefblauen Himmel, was ich beides mit Meer in Verbindung bringe, dass ich gerade Seesucht habe.
Stunde um Stunde fliegt die Landschaft vorbei, so wenig interessant, dass sich Videos davon nicht lohnen würden. Es sieht hier aus wie… überall, wo es Felder gibt. Zweimal überlege ich eine Pause einzulegen, fahre dann aber ununterbrochen weiter nach Süden. Das Fahren macht durchaus Spaß, und nicht nur mir – ich begegne oft Motorradfahrern, und viele Autos mit Motorrädern auf Hängern unterwegs, zu irgendwelchen Touren oder Events.
Ich komme ja quasi von der anderen Seite. Für mich war Motorrad fahren nie ein Sport oder ein Freizeitvergnügen, sondern Schlüssel zur Freiheit, als ich mir kein Auto leisten konnte. Ein Motor und zwei Räder öffneten mir die Welt und ermöglichten das Verlassen des Dorfes, dann einen Job in einer anderen Stadt und dadurch ein Studium. Motorradfahren, das hieß bei jedem Wetter (außer bei Schnee) unterwegs sein und IMMER mit dicken Koffern dran, um die Einkäufe verstauen zu können. Motorrad, das wurde und wird gefahren um von a nach b zu kommen, nicht als Selbstzweck. Auch heute noch setze ich mich so gut wie nie auf die Maschine um “mal ne Runde zu drehen”, sondern immer, um zu einem Ort zu kommen, den ich sehen will. Das Motorrad ist das Medium, nicht der Inhalt, wenn man so will. Ich könnte diese Reisen auch mit dem Auto machen, das wäre für mich fast genauso schön und logistisch viel einfacher, aber dann würde die Erfahrung fehlen, quasi jeden Kilometer hautnah zu erfahren – im Auto ist man auf Distanz zur Außenwelt, auf Distanz zum Inhalt.
Auf dem Motorrad erlebt man alles ungefiltert, und das ist nicht immer schön, besonders wenn einem ungefiltert was um die Ohren fliegt oder ungefiltert was in den Stiefeln rumschwappt. Lange Rede, kurzer Sinn: Bis heute sind mir die Freizeit “Sportfahrer” suspekt, die auch hier durch die Landschaft krajolen.
Gegen 15 Uhr komme ich in Clermont-Ferrand an. Die Stadt in der Region Auvergne ist vor allem dafür bekannt, dass die Reifenfirma Michelin hier ihren Sitz hat. Und das zelebrieren sie im “L´Aventure Michelin”, dem Firmenmuseum, ausgiebig. Als ich das Motorrad auf dem Parkplatz abstelleist er leer. Das ändert sich wenige Minuten später, als Dutzende Oldtimer unter lautem Hupen auf das Gelände drängen. Daraus steigen umständlich ältere Herrschaften aus, die Damen mit Koptuch, die Herren mit Nokia-Handys in Gürteltaschen, und versichern sich gegenseitig wie gut doch ihre Vehikel gelaufen sind. Unter großem Hallo geht es dann ins Gebäude des Firmenmuseums.
Schnell stelle ich fest, dass Franzosen eines überhaupt nicht können: Anstehen. Damit sind sie das genaue Gegenteil der Engländer. Was die an Disziplin und Kultur mitbringen, fehlt den Franzosen völlig. So steht man grundsätzlich nicht in einer Schlange an, sondern kreuz und quer in einer Wolke vor dem Tresen, aber nie alleine, sondern meist zu Dritt, während sie umeinander rotieren und zu einem unübersichtlichen Kuddelmuddel werden, dass auf allen Seiten Konfusion hervorruft. Vor mir steht ein Riesenpulk Menschen an, die aber eigentlich nur drei Verkaufsvorgänge haben. Trotzdem dauert das eine halbe Stunde, weil erstmal überlegt werden muss wer zu wem gehört, mit wievielen Leuten man unterwegs ist, wer welche Vergünstigungen in Anspruch nehmen kann… Opa zählt als Rentner, und Madam, bis wann gilt man als Kind? Bis 6 Jahren? Unsere Tochter ist 14, aber sie ist nicht so große, geht die noch als Kind durch? Und was ist mit meinem Mann, Madam? Der hat sich letztes Jahr den Arm gebrochen, seitdem tut das immer noch weh, geht er als Behinderter durch?
Seufz.
Die Ausstellungshallen feiern die Firma ab, bis die Leute volkommen brainwashed raustorkeln und nur noch Michelin fahren wollen. Die Austtellung ist wirklich gelungen: Von den Anfängen im Jahr 1890 bis heute gibt es viel Wissenwertes zu erfahren, z.B. das die Firma nur entstanden ist, weil eine Frau an die Zukunft von Gummi glaubte und ihren Mann und Bruder dazu drängte sich um das Thema zu kümmern.
DasMichel inmännchen heisst “Bibendum“, nach dem Firmenslogan “Nunc est Bibendum”, wörtlich “Jetzt trinken wir einen”. Erfunden wurde die Figur 1894, als dem Firmengründer Edoard Michelin ein Stapel Reifen auffiel, der fast wie ein Mensch aussah. Eines der ersten Plakate, gezeichnet von einem Satiriker, zeigte eine Zeichnung des Reifenmännchen mit Zylinder und Monokel. In einer Hand hält es eine Zigarre, in der anderen ein Cocktailglas mit Schrauben und Nägeln, darunter steht “Jetzt trinken wir einen! Der Michelin-Reifen schluckt das Hindernis!”.
Das Michelin-Männchen war die erste Werbefigur der Welt. Bald war es omnipräsent, denn die Firma positionierte es als Freund und Helfer der Autofahrer. Das Michelinmännchen zierte Broschüren mit Tips und war als Figur auf Werkzeug und Luftpumpen abgebildet. An den Stränden Frankreichs spielten in den Ferien als Bibendum verkleidete Leute auf Rollschuhen mit Kindern fangen. Ich finde den wandelnden Reifenstapel unheimlich, und das liegt nicht nur an seiner Ähnlichkeit mit dem Marshmallowman aus Ghostbusters, sondern an der Art wie er allgegenwärtig ist und sich an alle Zielgruppen, von Kindern bis Senioren, mit passenden Produkten ranwanzt.
Die Reifenfirma produzierte sogar Landkarten und Ausflugstips nur deswegen, um den Leuten Anreize zu geben ein Auto anzuschaffen und das auch zu benutzen. Der Michelinführer? Stammt genau aus der Zeit. Die Werbe- und Lobbymaßnahmen der Firma Michelin gingen so weit, dass sie im Krieg Aufklärungsflugzeuge stifteten und sich nach dem Krieg für den Wiederaufbau des Straßennetzes einsetzten, damit möglichst viele Leute Auto fahren konnte.
Bei Michelin wurde auch der Radialreifen bzw. Stahlgürtelreifen erfunden. Vorher wurden bis zu 40 Lagen Stoff übereinandereinandergelegt und mit Gummisaft versiegelt, das nannte man Diagonalreifen. Beim Radialreifen waren das erste Mal die Seite und die Lauffläche des Reifens getrennt und hatten einen Unterbau aus Stahlgewebe, die sogenannte Karkasse. Das Ergebnis was vier mal haltbarer als alle anderen Reifen. Auf die Frage, ob er sich damit nicht ins eigene Fleisch schneide, weil ein haltbarerer Reifen weniger Absatz bedeutet, antwortete der Firmenchef bemerkenswert weitsichtig: Nein, denn wenn es sich erst rumspräche, dass der neue Reifen mit X-Technologie von Michelin so gut sei, würde alle Kunden anderer Marken umschwenken. Dadurch hätte man höheren Absatz UND glückliche Kunden.
Dem war tatsächlich so, und die Technik verbreitete sich von Clermont-Ferrand aus in der Welt. Die ganze Region arbeitete für Michelin, und bald gab es Werke in anderen Ländern. Am Stammsitz wurde aber weiterhin geforscht und entwickelt. Zum Beispiel mit diesem sechsachsigen Ungetüm:
In seiner Mitte läuft ein LKW-Reifen, der Wagen selbst ist vollgestopft mit Meßgeräten und dafür gedacht, zehntausende Kilometer unter kontrollierten Bedingungen zurückzulegen.
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Eineinhalb Stunden später trete ich aus dem klimatisierten Gebäude wieder in die Hitze des Nachmittags hinaus. Wir haben über dreißig Grad, die Sonne brennt vom Himmel. So mag ich das.
Mein Tagesziel liegt nur noch 45 Minuten entfernt, in einem kleinen Ort mit dem skurrilen Namen Saurier. Unterwegs prüfe ich noch zwei Mal die Temperatur der Bremse, denn mittlerweile meine ich ein schleifendes Geräusch zu hören. Tatsächlich ist die rechte Bremsscheibe so warm, dass man sie gerade noch anfassen kann. Das ist gar nicht gut. Auf einem abschüssigen Strassenstück bocke ich die Kawasaki auf den Hauptständer, und dank des Gewichts der Koffer kann ich das Vorderad anheben und drehen.
Ja, das schleift. Nicht dramatisch, aber kontinuierlich, verschleissend und nervig. Ich kann so zwar weiterfahren, aber dieser Mist nervt und frisst Leistung und wirkt sich negativ auf das Fahrverhalten aus. Ich bin genervt, denn alles, was ich beeinflussen kann, dafür habe ich einen Plan B und einen Plan C, aber es gibt drei Sachen, da will und kann ich nicht ran: Reifen, Bremsen und Motor sind essentiell, die müssen einfach laufen. Damit das so ist, gebe ich im Jahr eine erhebliche Summe Geld aus, damit zwei Werkstätten sich um die Maschine kümmern. Und jetzt genieße ich meinen Urlaub nicht, sondern muss mich mit diesem Mist urumärgern.
Saurier ist winzig, und ich habe den Ort nur ausgesucht, weil hier ein bezahlbares Hotel mit Restaurant liegt und auf Streetview ein guter Motorradparkplatz zu sehen war. Der wäre allerdings nicht nötig gewesen, der Wirt, ein stiller, hagerer Mann, bietet mit sofort an, das Motorrad in seinen Schuppen zu stellen. Ich halte das zwar für unnötig – hier, auf dem Dorf, wird der Maschine bestimmt nichts passieren – trotzdem tue ich ihm den Gefallen. Kaum ist das schwere Tor ins Schloß gefallen, krame ich das Bordwerkzeug raus.
An einer Bremse habe ich vorher noch nie gearbeitet, aber wie schwer kann das schon sein? Wenn ich mit Verstand vorgehe, kann ich sie demontieren und die Bremsbacken auseinanderdrücken, oder vielleicht auch ganz zerlegen und reinigen… Diese Gedanken scheitern daran, dass ich weder mit dem Maulschlüssel noch mit der Knarre die Muttern der Bremse gelöst bekommt. Der Hebel ist nicht lang genug. Keine Chance.
Ich gehe auf mein Zimmer, das in einem Zeitloch festhängt. Einrichtung und Tapeten sind direkt aus den 30ern des letzten Jahrhunderts, aber es hat ein Bad, und das ist genauso neu wie die Matratze des Betts.
Während ich den Helm säubere und alle Geräte an die Ladegeräte hänge, denke ich weiter über die Bremse nach. Ich könnte die so lassen. Aber alles in mir sträubt sich dagegen.
Ich eine Liste aus der Dropbox, die ich gehofft hatte nie benutzen zu müssen: Die von Motorradwerkstätten entlang der Reiseroute. Schnell erstelle ich eine Route für das Navi, auf dem all die Werkstätten liegen. Allerdings gibt es zwei Probleme: Heute ist Samstag, und wegen Pfingsten wird frühstens am Dienstag wieder eine Werkstatt geöffnte haben. Und zweitens: Wenn ich nicht sofort drankomme, schaffe ich meine Reiseziele nicht. Ab Dienstag ist alles auf Kante genäht, es gibt keinen Spielraum für Verzögerungen. Dienstag ist zudem noch 1.000 Kilometer weit weg. Nachdem die Route fertig ist, schreibe ich einem Mail an die Werkstatt, die mir nach der Website noch am erfolgsversprechensten aussieht, beginnend mit “Ihr seid meine letzte Hoffnung”. Hoffentlich verstehen sie das Zitat. Nachdem die Mail versendet ist, habe ich zumindest das Gefühl, dass Problem angegangen zu sein. Mehr kann ich nicht tun, und so gehe ich hinunter ins Restaurant und lasse mir erst ein großes Pelforth, dann das Tagesmenü bringen.
Die Bedienung ist auf Zack, und in rascher Folge gibt es die Gänge des Tagesmenüs: Erst Aufschnitt, dann Ofenkartoffeln mit gekochtem Rindfleisch und schließlich eine Käseplatte, gefolgt von einem Erbeereis.
Um Zehn ist das Licht noch nicht weg, obwohl Saurier zwischen zwei Bergkämmen liegt. Ein warmer Wind weht über die Terrasse, und nach einem zweiten Pelforth fühle ich mich weit weg von zu Hause und mitten drin im Abenteuer.
2 Gedanken zu „Motorradreise 2014 (2): Im Reich des Gummimanns“
In zwei Dingen stimme ich dir absolut zu:
1. Das Michelin-Männchen kommt auf deinen Fotos wirklich extrem gruselig rüber. Hat was von einer Mumie aus einem Horrorfilm.
2. Franzosen in Warteschlagen sind die Pest! Ich kenne das vor allem aus dem Europa-Park, wo (un)freundlich gedrängelt, abgekürzt und sonstwie genervt wird.
Ansonsten freue ich mich, hier wieder einen tollen Reisebericht zu lesen zu bekommen!
Schön, dass Du bei Dieser Reise wieder mit dabei bist, Mic! Und gut zu wissen, dass nicht nur ich die Erfahrung mit dem “Anstellen in Knäuls” gemacht habe.