Motorradreise 2014 (12): In die Wüste
Im Juni 2014 war Silencer auf Motorradtour durch Europa. 24 Tage, 7.187 Kilometer, durch sechs ein Viertel Länder. Am 14. Tag geht es zurück in die Zivilisation, das Wiesel verpönt eine Wüste und ich verliere meine Unterkunft.
Donnerstag, 19. Juni 2014, Piana delle Selve nahe Amelia, Umbrien, Italien
Die Sonne scheint auf den kleinen Weinberg des Bauernhofs Piana delle Selve, als hätte es den Weltuntergang letzte Nacht nicht gegeben. Ganz spurlos ist das Unwetter aber nicht geblieben, in jeder Senke steht Wasser. Ich frühstücke ein wenig Zwieback mit hausgemachter Konfitüre und Honig, dann bitte ich das quirlige Dauerfeuermädchen zur Bezahlung. Sie will mich einfach nicht verstehen, und ich verstehe sie nicht – nicht mal die Zweiwortsätze, auf die wir uns am Ende reduzieren, ergeben für den anderen Sinn, auch wenn wir zumindest die Worte verstehen. Sie fragt “Möchtest Du heute Mittagessen? Abendessen?” Ich sage “Abreise. Bezahlen. Jetzt.” Sie schüttelt verwirrt den Kopf fragt wieder was, was ich nicht verstehe. Himmel!
Dann kommt sie mit eine Block wieder und malt eine Zahl auf. Ich bin etwas erstaunt, denn wenn das der Betrag ist, den ich jetzt für zwei Nächte zahlen soll, ist der doppelt so hoch wie im vergangenen Jahr. Trotzdem zahle ich ohne Wiederrede, denn mit dem Mädchen zu diskutieren dürfte herzlich wenig bringen, wenn wir einander so gar nicht verstehen. Außerdem hatten wir im Vorfeld auch gar nicht über Preise gesprochen, und zum anderen bin ich hier die letzten zwei Tage wie ein König verwöhnt worden und hatte ein riesiges Zimmer mit Bad. Besser als in einem Vier-Sterne-Hotel, und DAVON ist die Zahl noch weit entfernt. Dennoch: Später werde ich mich ärgern das ich nicht zumindest nachgefragt habe, wie die Zahl zustandegekommen ist. Ich bin ein wenig enttäuscht, weil ich nicht weiß, ob das gerade Touriabzocke war, und bis heute bin ich nicht sicher, ob mich der Agriturismo noch einmal sehen wird.
Ich sattele die Renaissance mit den schweren Koffern. Das Motorrad ist mit einer dicken Schicht aus Dreck überzogen, aber die Maschine springt ohne zu Murren an. Keine Selbstverständlichkeit nach dem Vollbad, das sie gestern genommen hat. Ich hatte schon befürchtet, dass das Wasser die Elektrik in Mitleidenschaft gezogen hat. Dann fahre ich vorsichtig vom Hof und die erste Steigung hinauf und blicke ins – Nichts! Hinter dem sonnenbeschienen Weinberg steigt so dichter Nebel aus den umliegenden Feldern auf, dass die Landschaft einfach weg ist! So habe ich mir immer das “NICHTS” in der “Unendlichen Geschichte” vorgestellt.
Vorsichtig verhandele ich das Motorrad den Feldweg hinab. Der ist nun nicht nur von noch tieferen Wasserfurchen als zuvor durchzogen, es liegen auch überall abgebrochene Äste und umgestürzte Bäume herum. Ich bekomme die Kawasaki aber unfallfrei den Berghang hinunter. Nach rechts ist die Straße bereits gesperrt – das ist die Stelle, wo gestern beim Regen die Straßendecke weggesackt ist. Ich biege nach links und fahre nach Nordwesten.
Mein Weg führt mich durch Spoleto, dessen mächtige Festung die Ebene von Umbrien überblickt.
Ich bewundere die Festung nur aus der Ferne, denn die Durchfahrtsstraße ist gerade gesperrt und ich will nicht stundenlang in den, immer noch leicht feuchten, Motorradklamotten, durch die Stadt rennen.
Stattdessen fahre ich im Tunnel durch den Burgberg und gondele dann durch Umbrien, bis ich im Norden die Grenze zur Toskana überschreite.
Hier werden die Straßen schlagartig besser, und die Landschaft zeigt sich typisch für diesen Landstrich: Weich rollende Felder und Hügel, die jetzt schon ein Bild abgeben wie normalerweise im Hochsommer, im Juli und August.
Die Hitze der letzten Wochen hat die Landschaft ausgedörrt. Aber auch hier hat es in den letzten Tagen geregnet, sagt die nette Benzinaia, die sofort herbeigesprungen kommt, um die Renaissance zu betanken. Und das obwohl ich an so einer unsäglichen Bankomatsäule stehe. Was für ein Unterschied zu Umbrien! Nette Tankwartinnen, gutes Wetter und gute Straßen – Umbrien und die Toskana liegen direkt nebeneinander, und doch ist es, als wäre ich von einer Welt in eine andere gewechselt.
Ich gondele nach Montepulciano und schaffe endlich, was mir in den zwei Jahren zuvor wegen zu großer Hitze nicht gelungen ist: Ich gucke mir das Bergdorf an, dessen Name so bekannt und synonym für guten Wein ist. Der Kernort ist winzig, und die Gässchen sind mit deutschen und britischen Touris bevölkert.
Montepulciano zieht sich einen Berg hinauf und findet sozusagen auf mehreren Ebenen statt. Die Belohnung für die Quälerei die oft saftige Steigung hinauf: Ein schöner Campo, der mit seinen interessanten Bauten und der Weitläufigkeit Ruhe ausstrahlt und zum Verweilen einlädt. Überall sitzen Leute und zeichnen auf Skizzenblöcken, schreiben in Notizbücher oder versuchen auf andere Weise diesen Platz und diese Atmosphäre einzufangen. Ich setzt mich in den Schatten, schließe die Augen und höre einem Cellospieler zu, der sich gekonnt durch klassische Werke fiedelt.
Dann geht es weiter, in die Wüste von Accona. Ja, wirklich, eine echte Wüste, mitten in Italien. In dem Gebiet fällt so wenig Regen, dass es als Wüste klassifiziert ist. Die Vegetation ist spärlich und die Hügel so versandet wie eine Mondlandschaft. Normalerweise zumindest, heute blühen überall grüne Büsche – eine Folge der Regenfälle der letzten Tage. Die Wüste ist nicht groß und durch das spärliche, aber intensive Grün heute ist nicht viel von ihr zu sehen, was das Wiesel zum Anlass nimmt sie zu verpönen. Immerhin hat das Wiesel schon mal in einer echten Wüste übernachtet, in Indien, mit Kamelen. Damit kann diese Miniwüste hier nicht mithalten.
In dem Gebiet gibt es keine Straßen, nur einen Feldweg und den kleinen Ort Asciano. Den Feldweg will ich nicht befahren. Mir reicht schon die schrecklich verdrehte Landstraße, die sich durch die Hügel schraubt und stellenweise auch abgesackt und zerbrochen ist. Trotzdem ist sie nett zu fahren. Die Luft riecht fantastisch nach Heu, die Felder liegen golden in der Sonne, und links und rechts der Straße leuchtet der gelbe Ginster.
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Kurz vor Siena erwischen mich noch zwei Regenschauer – beide nicht schlimm, nur unangenehm. Wäre auf die letzten Meter nicht unbedingt nötig gewesen. Dann komme ich endlich am Casa Brescia an, dem Haus, in dessen Foto ich mich vor drei Jahren spontan verliebte und in das ich auch jetzt zurückkehren möchte.
Als ich die Auffahrt hochgehe, kommt Stefano, der Besitzer, gerade die Treppe heruntergesprungen. “Buon Giorno”, grüße ich laut. Der Mittdreißziger reisst die Augen auf, macht “Oih”, schüttelt den Kopf und schlägt die Hände vor´s Gesicht. Nicht die Reaktion, die ich erwartet habe. Ich verziehe das Gesicht und sage: “Ja, ich freue mich auch dich zu sehen!” und kann mir schon denken was los ist. Stefano stammelt: “Aber, aber… Du kommst doch erst am neunzehnten!”
Oh, doch nicht so wie gedacht. Es ist noch schlimmer. “Mein Freund, heute IST der 19.”, sage ich. Stefano schlägt wieder die Hände vor´s Gesicht und brüllt “Cazzo!”, dann zieht er sein Handy aus der Tasche und wird hektisch.
War. ja. Klar.
Ich habe vor zehn-fucking-Monaten um eine Reservierung gebeten. Um die 8 Prozent Booking.com-Vermittlungsgebühr Stefanos Tasche zugute kommen zu lassen, hatte ich ihn direkt angeschrieben. Und ihn DANN nochmal gebeten die Reservierung zu bestätigen. Um ihm DANN vier wochen vor der Reise nochmal eine Erinnerungsmail zu schreiben. Um dann eine Woche vorher nochmal zu fragen ob alles OK sei. Und trotzdem…
“Das kommt daher, dass Du mir geschrieben hast, und nicht über Booking… Und vor so langer Zeit, da wusste ich noch gar nicht wann der 19. Juni ist. Und jetzt ist der heute und nicht morgen! Cazzo!”
Ich stehe daneben und sehe dem Treiben amüsiert zu. Mal gucken was jetzt passiert.
“Fahr das Motorrad schonmal rein. Und die Koffer hierher. Ich telefoniere. du bekommst Dein Zimmer, kein Problem!”
Ich wuchte also die Koffer die Schottereinfahrt hoch, dann fahre ich vorsichtig die Kawasaki hinterher, stelle sie unter der großen Pinie ab und harre der Dinge.
“Du hasst mich jetzt bestimmt. Es tut mir so leid! Ich habe dir ein Zimmer in einem anderen Hotel besorgt, die Straße hinunter, zahle ich, kein Problem. Entschuldige bitte, ich bin so sorry!”
Ich beruhige ihn und sage, dass es OK ist – ich hatte mich zwar auf das Casa Brescia gefreut, aber so sehe ich mal was anderes von Siena.
Das Hotel “Porta Romana” liegt kurz vor dem Stadtor. Der Parkplatz für das Motorrad soll, unnötig kompliziert, im Unterstand für die Fahrräder sein. Totaler Quatsch, ich stelle die Maschine quer auf dem ebenen Parkplatz ab. Das Zimmernchen ist OK und hat eine tolle Aussicht, und direkt gegenüber hängt ein Monster WLAN-Accesspoint. Was will ich mehr?
Später fahre ich nach Siena hinein. Wie immer esse in der schlechten, aber billigen Spaghetterie Pici mit Wildschweinsauce (Pici sind kleine, dicke Nudelstücke, die Spezialität von Siena), gönne mir ein Mousse-Eis im Caribic, sitze auf dem Campo und bin froh, dass der Tag vorbei ist.
Moment, ist er ja noch gar nicht. Als ich Abends im Hotel die Daten des Tages sichere, fällt mir auf WIE nahe das Porta Romana an der Stadt ist. Tatsächlich müsste ich dahin laufen können und so Siena endlich mal bei Nacht erleben…
Als es dunkel wird, und das dauert jetzt, zwei Tage vor der Sommersonnenwende, bis kurz vor halb Zehn, laufe ich durch die Porta Romana in die Stadt hinein. Ich trage nur Jeans und Hemd, und hätte nicht damit gerechnet das es in der Stadt so kühl ist. Ich hatte angenommen, dass in den verwinkelten Gassen die warme Luft stehen würde, aber stattdessen flattern die Fahnen der Contraden, die die Straßenzüge säumen, in einem starken Wind. Durch jede der Gassen zieht eine andere Luftströmung, so dass an einer Strassenecke die die Wimpel in zwei Richtungen wehen. Bizarr.
Ebenso merkwürdig ist das Gefühl, in der Stadt unterwegs zu sein. In den Hauptstraßen haben jetzt Bars geöffnet, vor denen die Einwohnerinnen und Einwohner flanieren oder stehen. Auf dem Campo wird Livemusik gegeben. Dagegen singen die Teilnehmerinnen und Teilnehmer der Fronleichnamsprozession an, die sich wie ein endloser Lindwurm die Rampen der Altstadt um den zentralen Campo hinaufzieht.
Viele der Straßenzüge im den Dom herum sind aber vollkommen verlassen. Außer mir sind nur wenige Menschen unterwegs. Fast allein stehe ich auf dem Domplatz, der nur von den Reflexionen der schummerig-gelben Lampen auf der Marmorfassade der Riesenkirche erhellt wird. Plötzlich taucht ein Toyota Prius auf und kurvt in Schlangenlinien herum über den Platz. “Imbecile”, denke ich noch, als das Fahrzeug neben mir hält und der Fahrer die Scheibe herunterlässt. Er ist Japaner und sieht aus wie Hiro aus der Serie “Heroes”: Ein Kreisrunder Kopf und eine Nickelbrille, durch die er mich verzweifelt ansieht . “Bitte”, sagt er flehentlich und auf englisch, “Ich möchte nur hier raus!”.
“Die interessante Frage, mein Freund, ist: Wie bist Du überhaupt hier hereingekommen?”, antworte ich ihm und erzähle ihm lieber nicht, dass ihm für die Herumkurverei in der historischen Altstadt ein saftiges Busgeld droht. Am Befahren der Altstadt wird niemand gehindert, aber das Kennzeichen wird gefilmt, und anschliessed kriegt man einen Strafgeld aufgebrummt. Ich habe schon von fällen gehört, wo jemand in vollendeter Orientierungslosigkeit 6 Mal im Kreis immer wieder durch das gleiche Kamerator gefahren ist. Gnadenlos durfte er 6 mal Bußgeld zahlen, das im Wiederholungsfall bei bis zu 120 Euro PRO RUNDE liegen kann.
Stattdessen lächele ich dem verzweifelten Mann und seiner ängstlich guckenden Begleiterin auf dem Nebensitz aufmunternd zu. Vermutlich sind die beiden in den Flitterwochen. Japaner stehen total auf Flitterwochen in Italien. Und nun haben sie sich mitten in der Nacht in einer Stadt verfahren, gegen die das Labyrinth des Minotaurus ein Kindergeburtstag war. Navis und Mobiltelefone funktionieren in den tiefen Gassen Sienas nicht oder nur sporadisch. Ich selbst habe verdammte vier Jahre gebraucht um halbwegs auf die Reihe zu bekommen, wie Dom, Campo und Supermarkt zueinander angeordnet sind, und trotzdem verlaufe ich mich noch. Ich zeige den beiden die einzige Gasse, die vom Domplatz wegführt und nicht in steilen Stufen endet und wünsche ihnen viel Glück. Sie werden es brauchen um wieder hier herauszukommen.
Dann gehe ich langsam weiter durch die nächtliche Stadt. Das Licht der Straßenlaternen ist hier nicht gelb, sondern fahlgrau und taucht die Gassen und Hauswände aus der Renaissancezeit in tiefe Schatten. Alles wirkt düster und verlassen. Die Fahnen links und rechts an den Häusern werden vom Wind hin und her gerissen, und in der Mitte gehe ich langsam die kleine Straße entlang, während mein Hemd um mich herumflattert als würden die Geister der Vergangenheit daran zerren.
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Die ganze Reise:
- Teaser
- 1. Irreparabel kaputte Luftnummer
- 2. Im Reich des Gummimanns
- 3. Nutella und Diethyphtalat
- 4. Surreal
- 5. Totes Wasser und die Kathedrale der Bilder
- 6. Das vergessene Fürstentum
- 7. Ein Lied von Eis und Käse
- 8. Die Teufelsbrücke
- 9. Energiesparkörper
- 10. Nutelleria
- 11. Die Unterwelt von Adriano dem Bäcker
- 12. In die Wüste
- 13. Der eiserne Baron
- 14. Happy Birthday, Niccolò Macchiavelli!
- 15. Der Geisterfluss
- 16. Lose Enden
- 17. Das verborgene Tal
- 18. Episches Wetter
- 19. Die Papiermacher
- 20. Heißes Eisen
- 21. Das Ende einer Reise
9 Gedanken zu „Motorradreise 2014 (12): In die Wüste“
*träller* Ohhhhhhhhhhh….. Siiiiiii-eeeeeeeeeeeee–nnnnnnnnnnnnnnnnnnnnnnna!!
Das Wiesel verpönt? Aber immer noch besser verpönen als verhöhnen.
Ähm, Ms WdW, war das nicht eher Ohhhhhhhhhhh….. Viiiiiii-eeeeeeeeeeeee–nnnnnnnnnnnnnnnnnnnnnnna??
Ich mein ja nur…
schön…. funktionieren denn die Münztelefone noch?
Ah, schön, dass Sie es erkannt haben, Mme PdC! Aber es passt doch so gut 😀
Leandrah: Keine Ahnung – und vermutlich weiß das auch sonst niemand, wer sollte die auch warum ausprobieren?
WdW & Zimt: Kennichnich 🙂
Herr Silencer! Ich bin schockiert! Diesen Klassiker kennen Sie nicht?!
https://m.youtube.com/watch?v=3DuCIGvsbMA
Hihi, lustiges Vehikel.
Und ich hielt Herrn Silencer immer für so gebildet, Mme PdC.
So kann man sich täuschen, Ms WdW.