Motorradreise 2014 (18): Episches Wetter

Motorradreise 2014 (18): Episches Wetter

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Im Juni 2014 war Silencer auf Motorradtour durch Europa. 24 Tage, 7.187 Kilometer, durch sechs ein Viertel Länder. Am 20. Tag komme ich nicht vom Fleck und es gibt kein Wiesel. Dafür episches Wetter.

Mittwoch, 25. Juni 2014, Castelluccio, Umbrien

Gegen 04.30 Uhr schrecke ich aus einem unruhigen Schlaf hoch. Regen prasselt auf das Dachfenster über meinem Bett im “Guerrin Meschino”. Erschöpft von der Kotzorgie vor einigen Stunden schlafe ich sofort wieder ein.

Als ich um 08.00 Uhr im Frühstücksraum sitze und zaghaft an einem Stück Zwieback herumknabbere, haben sich Magen und Wetter ein wenig beruhigt. Es regnet nicht mehr, und mir geht´s einigermaßen. Durch die großen Fenster vor dem Frühstückstisch kann ich über die Hochebene schauen. Rasend schnell ziehen dunkle Wolken darüber hinweg kommt. Es sieht so aus, als ob jemand den Zeitraffer eingeschaltet hat. Wenn die Sonne durch die Wolken bricht, gibt es einen Lichtfleck auf der Ebene, der schnell darüber hinweg wandert. Wenn man längere Zeit die Muster auf der Ebene ansieht, sieht es aus wie der Welt größte Lavalampe.

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Das Kinn auf auf die Hand gestützt blicke ich aus dem Fenster und überlege. Soll ich mich auf´s Motorrad wagen? Es ist stürmisch, aber richtig regnen soll es erst später, und es besteht zumindest die Chance das es bis zum Nachmittag trocken bleibt. Aber will ich bei dem Wind wirklich vor die Tür? Schließlich siegt die Neugierde, und ich mache das Motorrad fertig für eine Fahrt in den, eine Stunde entfernten, Ort Ascola Pienca, der angeblich den schönsten Platz Mittelitaliens vorzuweisen hat.

Vorsichtig steuere ich die Kawasaki von dem Felsen herunter, auf dem Castelluccio liegt. Am Fuß des Berges geht der Motor aus. Zum Glück startet die Maschine gleich wieder, aber da war ich wohl zu sparsam mit dem Choke. Ein deutliches Zeichen dafür wie kalt es hier ist – das kleine Thermometer zeigt 15 Grad, vermutlich ist es aber kühler. Etwas weiter oben am Berg liegt noch Schnee, und ich trage die dicken Winterhandschuhe.

Die Renaissance zischt über die Hochebene, biegt dann nach Nordosten ab und folgt der Passtrasse aus dem Talkessel heraus. Es ist sehr windig. Wieder und wieder reißen Windböen an der Kawaski herum, die durch ihre Vollverkleidung eine breite Angriffsfläche bietet. Ich muss sehr aufpassen, aber fahrerisch lässt sich das gerade noch machbar. Das ändert sich, als die Paßstrasse durch eine Lücke in der Bergkette, die die Hochebene umgibt, führt. Kaum habe ich den ersten der schützenden Berge umfahren, wird das Motorrad von der vollen Wucht des Windes getroffen. Die Maschine wird hin- und hergeworfen, und kann nur mit Mühe den Blick nach vorn gerichtet halten, weil eine unsichtbare Kraft den Helm von links nach rechts reisst.

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An einem Aussichtspunkt kurz hinter der Bergkette halte ich an – der Ausblick in die umliegenden Täler ist ehrfurchtsgebietend, schon deshalb weil es fast senkrecht eineinhalb Kilometer in die Tiefe geht – ohne Leitplanke! Leider liegt die Kamera liegt wasserdicht verpackt im Topcase, deshalb gibt es davon kein Bild. Aber selbst wenn ich sie jetzt in Griffweite hätte, würde ich mich nicht trauen sie zu benutzen. Der Sturm hier schüttelt mich so dermaßen durch, dass ich keine Hand vom Lenker nehmen kann. Fasziniert beobachte ich die Plexiglasscheibe des Motorrads, die so schnell im seitlich einfallenden Wind vibriert, dass sie fast nur als Schemen zu sehen ist.

Vorsichtig setze ich den Weg fort. Der Sturm greift in Böen und mit Fallwinden an, und trotz des nicht ganz langsamen Tempos reisst es das Motorrad immer wieder quer über die Straße, und ich kann sie nur mit Mühe halten. So muss es sich anfühlen, wenn man auf einem bockenden Pferd sitzt.

Nein, beschließe ich, dass geht zu weit. So fahren zu müssen ist selbst auf der relativ breiten Passstrasse gefährlich, und später wird die Straße schmaler und hat wieder Kehren, und DIE bei Sturm fahren zu müssen ist extrem. Ich würde das hinkriegen, wenn ich müsste, aber das ist genau der Punkt: Heute MUSS das halt nicht sein. Auf einem Schotterplatz wende ich und fahre zurück nach Castelluccio. Auch auf der geschützen Hochebene hat der Wind zugenommen, und ich bin ganz froh, als ich die Maschine wieder vor dem Guerrin Meschino abstellen kann.

Weit bin ich heute nicht gekommen...
Weit bin ich heute nicht gekommen…

In Jeans und der Jacke der Regenkombi und wandere ein wenig um das Dorf herum. Allzuweit komme ich aber auch hier nicht, der kalte Wind schmerzt an den Ohren, und es fängt es an zu regnen. Es stürmt, und die Wolken jagen über den Bergen dahin. Wo sich eine Lücke auftut, wandern Lichtsäulen über die Piana Grande, die Hochebene. Das sieht abartig cool und einfach nur episch aus und macht deutlich, wie winzig und machtlos man als Mensch hier oben ist.

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Das ganze Gebiet hier liegt im Parco Sibellini, benannt nach der Sibyllensage (s. letzte Folge). Nun, bei dem Wetter werde ich sie heute nicht finden.

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Vom Wind deformierter Pavillion.
Vom Wind deformierter Pavillion.

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Rasend schnell ziehen die Wolken über das Dorf dahin.
Rasend schnell ziehen die Wolken über das Dorf dahin.

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In der Mitte des Bildes: Il Guerrin Meschino, der Gasthof, der meine Unterkunft ist.
In der Mitte des Bildes: Il Guerrin Meschino, der Gasthof, der meine Unterkunft ist.

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Leicht ziellos tappe ich noch 2 Stunden durch die Landschaft und durch das winzige Dorf, dann kehre ich auf mein Zimmer zurück. Aus einem kurzen Mittagsnickerchen wird ein fünsfstündiger Tiefschlaf – anscheinend nutzt der Körper die Zwangspause, um sich mal richtig zu erholen. Das Wiesel ist übrigens den ganzen Tag nicht zu sehen, aber unter dem Beistellbett dringt ein leises Schnarchen hervor.

So hat der Tag auch sein Gutes. Meinem Magen geht es wieder richtig gut. Zu diesem Zeitpunkt wundere ich mich noch, dass der so anfällig ist und fast jeden tag rumzickt. Erst Monate später, die geprägt sind von ständigen Magen- und Darmproblemen, werde ich zur Ärztin gehen. Die wird nach ergebnislosen Bluttests und Ultraschalls herausfinden was mich hier so beutelt: Kaugummi.

Ja, im Ernst. Ich kaue während des Motorradfahrens und in hektischen Zeiten und auch so gerne Kaugummi, das entspannt die Kiefer und hilft mir mich zu konzentrieren. Das können schon mal so 6 bis 8 Stück am Tag sein. Meine bevorzugte Marke ist das zuckerfreie von Lidl, und anscheinend haben die was an der Rezeptur geändert. Den Süßstoff, der darin nun verwendet wird, wird nicht verdaut; Er lagert sich im Magen und im Darm ab und vergärt dort langsam, was bei höherer Stückzahl Magenschmerzen und Durchfall macht und richtig übel wird, wenn fettes Essen dazu kommt. Aber das weiß ich noch nicht, als ich an diesem Nachmittag in Castellucio auf dem Bett liege und durch das Dachfenster den dahinrasenden Wolken zusehe.

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Am späten Nachmittag pruddle ich am Computer herum, sichere die Daten von Motorrad und Kameras auf eine externe Platte und gehe dann noch ein wenig im Ort spazieren. Durch alle 3 1/2 Straßen. Mehrfach. Im tobenden Wind zu stehen ist auch was schönes.

Ausrüstung: Netbook, Kamera, GPS-Tracker, MiFi.
Ausrüstung: Netbook, Kamera, GPS-Tracker, MiFi.
Das Wiesel macht es sich im Koffer gemütlich.
Das Wiesel macht es sich im Koffer gemütlich.

Dann ist Zeit für Abendessen, und diesmal bin ich mutig und wähle eine Linsen-in-Öl-Suppe, eine gemischte Käseplatte, die winzig aussieht, die ich aber nicht ganz schaffe, und Panna Cotta mit Himbeersoße zum Nachtisch.

Linsensuppe konnte ich früher nie leiden, hier schmeckt sie toll.
Linsensuppe konnte ich früher nie leiden, hier schmeckt sie toll.

Dabei genieße ich immer wieder den grandiosen Blick über die Weite der Hochebene, bis das Licht nahezu weg ist. Sonnenauf- und untergänge kann man hier nicht sehen – durch die hohen Berge, die im Kreis um die Ebene stehen, kann man die nicht sehen. Es wird lediglich heller und dunkler, als wenn jemand an einem Dimmer herumspielt. Klar, irgendwann kommt die Sonne über die Bergkette, aber zu dem Zeitpunkt ist es schon lange hell. Genauso verschwindet sich auch hinter den Bergen, aber dann wird es nicht dunkel, sondern es bleibt ein diffuses Dämmerlicht, dass irgendwann weniger wird, bis es ganz weg ist.

Als ich wieder auf meinem Zimmer bin, höre ich wie das Nebenzimmer in Beschlag genommen wird. Die neuen Bewohner gehen zum Essen, eine Stunde später kommen sie zurück. Kurz darauf sind aus dem Nebenraum die Geräusche von jemandem zu vernehmen, der sich lautstark erbricht. Bin ich nicht der einzige, der es mit dem Essen hier übertrieben hat?

Um das Haus heult derweil immer noch ein Sturm, umso gemütlicher ist es im warmen Bett mit einem guten Buch. Die interessante Frage wird sein: Komme ich morgen heil von hier weg?

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Die ganze Reise:

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