Motorradreise 2014 (20): Heißes Eisen
Im Juni 2014 war Silencer auf Motorradtour durch Europa. 24 Tage, 7.187 Kilometer, durch sechs ein Viertel Länder. Am 22. Tag geht es geht es langsam Richtung Heimat.
Freitag, 27. Juni 2014, Urbino, Marken
Um 07.30 Uhr gibt´s offiziell Frühstück, um 07.31 Uhr betreten die englischen Motorradfahrer den Frühstückraum des La Meridiana. Wie ein Rudel Hyänen auf der Jagd blicken sie sich erst suchend um, dann stürzen sie sich auf das Frühstücksbuffet.
Ich lege meine Serviette beiseite, trinke den letzten Schluck Kaffee aus und gehe – das war ein ultrakurzes Frühstück von gerade mal 5 Minuten, aber ich möchte hier weg bevor die Hyänen in die Garage einfallen.
Zudem strahlt draußen die Sonne aus allen Knopflöchern, aber das soll nicht lange so bleiben, was der zweite, noch bessere Grund ist, sich zu beeilen. Zum Dritten: Ich habe heute eine verdammt lange Etappe vor mir und muss daher schnell viel Strecke machen.
Fast immer, wenn ich an einer Rezeption einer Pension oder eines Hotels stehe, lasse ich ein paar bewundernde Worte über die Unterkunft fallen, lobe die Einrichtung oder die schöne Lage. Ich habe noch nie Personal getroffen, sei es die Besitzerfamilie oder nur ein Angestellter, die sich nicht über ein paar nette Worte gefreut haben. Oft öffnet so ein kleines Kompliment Türen: Das gebuchte Zimmer liegt plötzlich nicht mehr zur Straße, sondern zum Garten raus. Oder man bekommt vor allen anderen Frühstück. Oder ein paar Insidertips zu Sehenswürdigkeiten oder guten Restaurants, wo nicht die Touris abgezockt werden, sondern auch die Einheimischen essen.
Im heutigen Fall löst ein kleines Lob einen Sprechdurchfall beim Portier aus, der gleich mal auf Deutsch fragt woher ich komme, und dann aufzählt, dass er ja Sprachkurse in Dresden, Frankfurt, Milberg und Heidelberg gemacht hat und Deutschland mag, aber ja viiiiel zu wenige Deutsche kommen würden, anders als vor zwanzig Jahren. Heute kämen viele Engländer und Russen, und die seien… anders. Ich bin erstaunt, denn der gute Mann ist nach Alessandra in Orvieto schon der zweite, der von langen Sprachaufenthalten in Deutschland schwärmt. Und er wird nicht der letzte sein, auf weiteren Reisen werden mich sogar Bauarbeiter mit lupenreinem Deutsch überraschen. Offensichtlich gehörte für mindestens eine Generation in Italien Sprachreisen nach Deutschland zu einer gern genutzten Option.
Als ich die Garage betrete, wo der Fünfer BMW immer noch von 14 Motorrädern zugeparkt ist, entfährt mir ein lautes Lachen. Die handveredelte und makellos polierte Ducati mit dem englischen Kennzeichen, die gestern so scheiße über zwei Parkplätze geparkt war, das ich ganz dicht an sie ranfahren musste, steht heute morgen völlig anders und mit mehr Abstand. Das bedeutet, dass Ducati-Man letzte Nacht die Garage besucht haben muss. Ihm war wohl unangenehm, dass die straßenköterige Kawasaki auf Tuchfühlung mit seinen Hochglanzschätzchen gegangen ist, worauf er das ein Stück weggerückt hat. Hihi.
Wobei ich zugeben muss, dass die Renaissance im Moment wirklich nicht gerade gut aussieht. Sie war mit einer dicken Staubschicht bedeckt, die der Starkregen gestern in ein Flecktarnmuster verwandelt hat. Zudem zieren Teerflecken die vorderen Verkleidungen, und das hintere Schutzblech ist von einem Ölfilm bedeckt, der vom Kettenschmiersystem stammt. Die ZZR 600 sieht versifft aus, als hätte sie schon einiges durchgemacht – was ja auch stimmt, seit fast drei Wochen und schon über sechstausend Kilometer sind sie und ich auf den Straßen von Deutschland, Frankreich, Spanien, Monaco, Seborga und Italien unterwegs.
Ich klippe die Koffer an das Motorrad und verlasse das La Meridiana. Statt zurück zur Küste zu fahren und dann die Autobahn nach Norden zu nehmen, was der schnellste Weg wäre, fahre ich in die Berge.
Vorbei geht es an Urbino und einmal quer durch die Marken. Die sehen stellenweise aus, als hätte sich jemand an einem gritty Reboot der Toskana versucht: Die Hügel sind steiler als in der Nachbarregion, alles wirkt kantiger, und überall ragen Felsspitzen aus der grünen Hügellandschaft. Hier wird dem Auge ordentlich was geboten. Leider habe ich bald keine Gelegenheit mehr die Aussicht zu genießen, denn ich muss mich voll auf die Straße konzentrieren. Die ist absurd schlecht, hat Längsrisse und windet sich in engen Kehren die Berge hinauf. Kurz hinter dem Dorf Auditore fehlt die Straßendecke gleich ganz – nur noch Schotter und tiefe Schlaglöcher sind vorhanden, dafür gibt es wirklich tolle Aussichten.
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Als ich weiterfahre, ragt plötzlich ein riesiger Felsen aus den übrigen Bergen heraus. Es ist der Monte Titano, der auf seiner Spitze die Stadt San Marino trägt. Von dieser Seite aus steigt er nicht langsam an, sondern zeigt sich als schroffe, senkrechte Klippe, die deutlich macht, vorher der Berg seinen Namen hat und warum er so uneinnehmbar war. Als ich die Grenze zur Winzrepublik quere steigt mein Ländercount damit auf 6,25 auf dieser Reise.
Aus den Bergen geht es hinab in die Ebene und nach Nordwesten. Um Forlì herum und durch Faenza (das ist der Ort mit dem feinen Geschirr, daher stammt der Begriff Fayenzen für feines Porzellan) fahre ich nach Norden. Die Strecke zieht sich, es ist eine endlose Aneinanderreihung von Gewerbegebieten, Zubringern und Kreiseln. Es ist mittlerweile 11.30 Uhr, ich bin schon seit fast vier Stunden unterwegs, als ich in Imola ankomme. Hier sehe ich mir kurz die Festung an, allerdings nur von Außen.
Die Straße entpuppt sich bald als meine ganz persönliche Hölle. Um Imola rum muss es wohl viele Rennfahrer geben, dann ungelogen alle 20 Sekunden höre ich einen Alarm in meinem Helm. Abwechselnd meldet die SCDB, die in das Navi des Motorrads eingepatcht ist, “Stationärer Blitz”, “mobiler Blitzerstandort”, “Induktionsmessung” – irgendwann mache ich den Helm aus, weil mich das ganze Gepiepe, Gejaule und Gemuhe der unterschiedlichen Alarme nervt. Zu schnell fahren könnte ich hier nicht mal wenn ich es wollte. Der Verkehr ist irrsinnig dicht. Direkt vor mir sehe ich nur die Rückseite eines LKW. Im Rückspiegel die Vorderseite eines LKW. Links und rechts der Straße ziehen sich Orte entlang, bei denen einer in den nächsten übergeht.
Mit qäulenden 40 Km/h bewegt sich die Blechlawine vorwärts, stoppt aber alle paar hundert Meter, weil es hier keine Kreisel, sondern Ampeln gibt – mit bizarr langen Umlaufzeiten. Die Renaissance rollt und stoppt und rollt, zu sehen gibt es vorne, hinten, links und rechts nichts, voran kommen wir auch nicht. Das ist keine Straße, das ist ein Gefängnis, und ich stecke in einer Einzelzelle zwischen diesen LKW.
Als es etwas flüssiger vorangeht bin ich heilfroh – und schreie im nächsten Moment laut Scheiße. Als der LKW vor mir endlich abbiegt und die Sicht freigibt, blicke ich auf ein Gewirr aus Zubringern, Rampen, Auf- und Abfahrten und ineinander verschmelzende Schnellstraßen. Das ganze ist gigantisch groß und vollgepackt mit dichten Verkehr, der zum Großteil halsbrecherisch schnell dahinschiesst. Wo bin ich hier bloß? Ich beiße die Zähne zusammen, schalte den Helm wieder ein und steuere das Motorrad ins Getümmel. Das Navi sagt mir jetzt ins Ohr wo ich lang muss, und ich kann mich ganz darauf konzentrieren nicht überfahren oder gerammt zu werden.
Ein wenig komme ich mir vor wie in der Taxiszene aus “Das fünfte Element”, wo auch in halsbrecherischem Tempo Fahrzeuge links und rechts durch die Gegend schießen. Wo bin ich hier??, frage ich mich noch mehrmals, bis schließlich ein Ortsausgangsschild an mir vorbeifliegt. “Bologna?!”, entfährt es mir laut, “Was zum Geier wollen wir in Bologna?!”. Nun, offensichtlich will das Navi den Verkehrsknotenpunkt der ganzen Region nutzen, weil es meint, das sei besonders schlau. Mist.
Als ich endlich die letzte innerstädtische Schnellstraße verlassen kann, will ich schon jubeln – da gibt mir die Stadt noch ordentlich einen mit: Versenkte Kanaldeckel, direkt in meiner Fahrspur. Jeder gut 10 Zentimeter in den Asphalt eingesunken. Das Motorrad fährt genau rein in eine dieser Fallgruben, sackt weg, schlägt auf und wird wieder hochkatapultiert, nur um in die nächste Grube zu sacken. Das passiert drei Mal hintereinander. Hinter mir höre ich das Innenleben des Topcases klappern, vor mir zittern Instrumententräger und Scheibe unter den heftigen Schlägen. Mir entfährt ein gequältes Stöhnen – das arme Motorrad!
Ich blicke ich den Rückspiegel um zu sehen,ob die Koffer noch dran sind. Jeder von denen wiegt jetzt 13 Kilo, eine Masse, die bei so ruckartigen Bewegungen ein mörderisches Eigenleben entwickeln kann. Jeder der hochschlagfesten Koffer hängt an zwei Punkten in einem Metallrahmen aus fingerdickem Stahl und wird von einem Schloss als drittem Punkt gehalten, aber selbst die Halterungen so einer stabilen Konstruktion können bei solchen Schlägen brechen.
Zum Glück bleibt alles ganz, obwohl die Belastung für das Material enorm sein müssen. In den letzen Wochen sind wir schon so manche üble Strecke gefahren und haben so manches Schlagloch mitgenommen, aber DAS gerade war übler als alles zuvor. Später werde ich übrigens die Halteklaue des Topcases tauschen müssen, weil die ausgeschlagen ist. SO übel war das hier gerade.
Eine Stunde später komme ich in Modena an. Hier parke ich das Motorrad und drehe eine kurze Runde zu Fuß durch die Innenstadt.
Modena wirkt sehr nördlich, mit seinen mehrgeschossigen Stadthäusern aber eher wie Florenz als z.B. Verona, dass eindeutiger venezianisch geprägt ist. Auffällig ist der weiße Stein, der überall verwendet wird, und die bunten Farben vieler Häuser. Hier wird immer noch viel renoviert, sowohl am Dom, als auch an Kirchen und am Rathaus. Vielleicht noch Nachwirkungen des Erdbebens von 2012, das hier ordentlich Schaden angerichtet hat. Mehr Schaden, als man an der Oberfläche sehen kann. Der berühmte Aceto Balsamico, der dunkle, dickflüssige Essig, wird in seiner besten Form über Jahrzehnte hergestellt, in uralten Fässern, die in Kellern lagerten. Viele Keller, Fässer und 10 Jahrzehnte Aceto wurden bei dem Beben zerstört. Etliche Betriebe werden nie wieder so einen Essig herstellen können.
Lange halte ich mich nicht auf, ich muss weiter. Von Modena aus geht es Richtung Nordwesten. Die Landschaft ist jetzt vollkommen flach. Links und rechts der Straße sind Reis-, Getreide und Maisfelder, und tiefe und übervolle Wassergräben ziehen sich wie Miniflüsse parallel zur Straße. Das ist die Agrarebene der Emilia-Romagna, kurz vor Ferrara. Vollkommen langweilig, aber immer noch besser als die Einzelhaft zwischen den LKWs vorhin.
Um 15.30 Uhr sehe ich Berge und denke: Oh, die ersten Ausläufer der Alpen – aber das stimmt wohl nicht, tatsächlich sind es nur zwei einzelne Berge, die wie Pickel aus der Landschaft stehen und zudem an der Basis angekabbert wirken. Seltsam. Von Ferrara aus geht es nach Padua, einer Stadt, deren Industriegebiet ich durch die Suche nach einem Ersatzteil im vergangenen Jahr besser kenne als mir lieb ist.
Von dort aus geht es noch weiter nach Norden. Hier, rund 10 Kilometer vom Alpenrand entfernt, liegt Sandrigo. Es ist ein kleines Dorf im Nirgendwo öder Felder, und hier ist die Osteria Albergo Scaldaferro, wörtlich übersetzt “Herberge zum heißen Eisen“. Wenn ich das im Internet richtig gesehen habe, eine kleine Gaststube, ein paar Fremdenzimmer, alles alt und gemütlich. Ich habe die Herberge gewählt weil die Übernachtung spottbillig ist, und weil der Ort nahe an den Alpen liegt – die Ideale Ausgangsbasis, um am nächsten Tag über die Berge zu springen. Früher war meine Basis für die Alpenquerung Chiaras Bauernhof in Volta Mantovana, aber den gibt es leider nicht mehr – die Wirtschaftskrise hat den Hof ruiniert.
Als ich in der Osteria Scaldaferro ankomme, bin ich verblüfft – das ist kein altes, schiefes Wirtshaus, in dem eine alte Bäuerin Fremdenzimmer vermietet – das ist eine große Anlage aus mehreren Gebäuden, alten wie neuen. Die älteren Gebäude sind nagelneu renoviert, die Rezeption mit einer mehrsprachigen und uniformierten Empfangsdame besetzt.
Dieses “Albergo” schlägt locker alle deutschen Vier-Sterne-Hotels in Punkto Ausstattung, Sauberkeit und Noblesse. Jemand hat SEHR viel investiert um hier alles nach höchstem Standard anzubieten alles, SOGAR DAS KLOPAPIER, ist mit dem Logo des Hauses versehen. Außerdem wird hier viel Wert auf Sicherheit gelegt: Im Garten hängen professionelle Überwachungskameras, und die Zimmer im Erdgeschoß haben alle eine Tür, die zu einem Parkplatz direkt davor führen. Man kann also aus den noblen Zimmern direkt ins eigene Auto springen. Jedes Zimmer hat stoffbespannte Wände, in die große Tresore mit einer hohen Panzerklasse eingelassen sind. Der Neubau, in dem die Hotelzimmer liegen, wirkt wie eine Festung. Die Fenster sind schmal, fast wie Schießscharten, und der Eingang führt durch einen versetzten und gebogenen Gang, wie man ihn von Burgen kennt.
Wo bin ich hier hingeraten? Wieso wird hier, mitten im Nirgendwo, ein hoch gesichertes Luxushotel und ein Oberklasserestaurant betrieben, und das zu Preisen, zu denen man sonst nicht mal eine Jugendherbergsplatz im Sechserzimmer und einen BigMac bekommt? Zudem sind die uniformierten Bedienungen auffällig und überdurchschnittlich hübsch und und die Kellner für italienische Verhältnisse geradezu devot. Welche Klientel sucht normalerweise im “Heißen Eisen” Zuflucht? Sehr seltsam.
Wie auch immer, auf der Außenterasse des Restaurants speise ich sensationelle Fettuccini mit Gemüse, Bistecca Inglese (Steak, hauchzart aufgeschnitten auf Ruccola und Käse), zum Nachtisch warmen Apfelkuchen und zu all dem einen sommerlich leichten Vino Rosso Frizzante. Großartig!
Als sich die Terasse langsam mit fein gekleideten Abendgästen füllt, die in teuren Autos vorfahren, bin ich bereits fertig und gehe langsam auf mein Zimmer. Morgen geht es dann über die Alpen – aber nicht über sie Schnellstraße und den Brenner, das kann ja jeder. Nein, ich werde den umständlichen Weg nehmen und die alte Brennerstraße erkunden.
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Die ganze Reise:
- Teaser
- 1. Irreparabel kaputte Luftnummer
- 2. Im Reich des Gummimanns
- 3. Nutella und Diethyphtalat
- 4. Surreal
- 5. Totes Wasser und die Kathedrale der Bilder
- 6. Das vergessene Fürstentum
- 7. Ein Lied von Eis und Käse
- 8. Die Teufelsbrücke
- 9. Energiesparkörper
- 10. Nutelleria
- 11. Die Unterwelt von Adriano dem Bäcker
- 12. In die Wüste
- 13. Der eiserne Baron
- 14. Happy Birthday, Niccolò Macchiavelli!
- 15. Der Geisterfluss
- 16. Lose Enden
- 17. Das verborgene Tal
- 18. Episches Wetter
- 19. Die Papiermacher
- 20. Heißes Eisen
- 21. Das Ende einer Reise
2 Gedanken zu „Motorradreise 2014 (20): Heißes Eisen“
Sehr schönes Video heute wieder bzw., ich mag den Effekt, durch das Anhalten und heranzoomen nochmal den Blick des Zuschauers bewusst auf ein Detail zu lenken.
Mit welchem Tool/Workflow machst du eigentlich die Karten?
Ja, der Effekt ist mir leider jetzt erst eingefallen. Die Karten… nicht lachen: Die entstehen in Keynote. Zuerst mache ich mit dem Programm Geosetter die GPS-Tracks auf, die das Motorrad aufgezeichnet hat, und packe da drüber eine Google-Geländekarte oder Straßenkarte. Dann mache ich zwei Screenshots, einmal mit, einmal ohne Track. Die beiden Bilder werden in Keynote übereinandergelegt und mit einem Übergangseffekt versehen. Wenn ich viel Zeit und gute Laune habe, kommen noch animierte Ortsmarkierungen dazu und alles sieht ziemlich gut aus. Wenn ich weder Zeit noch Lust habe sieht es aus wie heute.
Dann wird er ganze Mumpitz als Quicktime Export und in iMovie geworfen, wo noch ein Ken Burns drüber kommmt.