Vintage Balkonien
Herr Silencer erzählt eine bittersüße Geschichte aus seiner Jugend. Die ist wieder mal viel zu lang, aber dafür kommen Drogen drin vor.
Ist übrigens gar nicht das erste Mal, dass ich einen Balkon habe. 1997, als Student, zog ich in die Innenstadt. Das “Zimmer” das ich dort hatte war winzig, gerade mal 20 Quadratmeter. Dabei lag es noch in einem Dachgiebel, das hieß: fieseste Dachschrägen an zwei Seiten, von den 20 Quadratmetern waren höchstens 10 aufrecht stehend nutzbar. Und diese 10 Quadratmeter waren auch noch geteilt, denn Irgendwer war auf die Idee gekommen, aus dem einen Dachgiebel zwei Zimmer zu machen.
Weil das Dach halt ein Dach war, war es dort im Winter eisekalt. Im Sommer wurde es dagegen so heiß, dass ich tagsüber den Computer nicht anmachen konnte, weil der sofort überhitzte. Warum ich dennoch dort einzog? Weil zu dem Winzzimmer ein Balkon gehörte, wobei die Bezeichnung fast ein wenig zu bescheiden ist. Sie gibt nämlich nicht wieder, wie unglaublich riesig und grandios das Ding war. Der Balkon war nämlich größer als das Zimmer. Mehr als 20 Quadratmeter war die Dachterasse groß, und das im vierten Stock! Das hieß, ich konnte von dort aus über alle anderen Häuser der Innenstadt gucken. Herrlich!
Zwei Jahre lang genoss ich das Refugium sehr. Ich war zu der Zeit eher düster drauf, Keramiktotenköpfe und Flaschen mit Tropfkerzen drauf gehörten zur Inneneinrichtung wie Scheiben von den Cranberries und REM in den CD-Player. Durch so eine Phase muss jeder Student mal durch. Aber beim Balkon, da sollte alles sonnig und ein Idyll wie in der Rama-Werbung sein. Auf meinem Balkon gab es sogar einen weiß-gelb gestreiften Sonnensschirm.
Wie es immer so ist sind die Hölle die anderen, in diesem Fall: Meine Mitbewohnerinnen. Auch wenn der Balkon meiner war, ich wohnte da oben nicht allein. Ich war in eine Zweck-WG aus insgesamt vier Personen, zwei Männern und zwei Frauen, gezogen, und eine Zeit lang lief das auch total gut. Aber dann zogen die beiden Mitbewohnerinnen aus und zwei neue ein, und von den beiden hatte eine, nennen wir sie mal Sevda, einen Knall. Muss man leider so sagen.
In meiner Abwesenheit nutzten meine Mitbewohner gerne den Balkon, was abgesprochen und vollkommen OK war, auch, wenn sie dafür durch mein Zimmer mussten. Das hatte bislang nie Probleme gegeben, aber mit Sevdas Einzug änderte sich das.
Als erstes kam der Sonnenschirm abhanden, den sie offen stehen gelassen hatte, kurz bevor ein Unwetter kam. Schwupp, war er weggeflogen und tauchte nie wieder auf. Dann passierten so Kleinigkeiten, wie, dass in meinem Zimmer Dinge umgestoßen waren. Vermutlich weil jemand bekifft da durchgestolpert war und dabei die Cranberries-CD im Öl einer umgeworfenen Duftlampe ertränkt hatte.
Später zeigte Sevda den Mitbewohnern und mir ganz stolz ihr neues Fahrrad, ein sehr teures und giftgrünes Mountainbike. Ich bewunderte das gebührend, fand es aber merkwürdig, dass die Fliesen des Balkons neuerdings ein giftgrünes Muster aufwiesen. Es sah aus, als hätte jemand einen Fahrradrahmen auf die Fliesen gelegt und mit einer Spraydose draufgehalten. Ich verbat mir für die Zukunft jegliche Umlackieraktionen gestohlener Fahrräder, aber es war zu spät: Der Balkon hatte Sevdas Liebe auf sich gezogen, und ich ihren Hass.
Fortan machte sie mir das Leben in der WG zu Hölle. Mit den anderen verstand sie sich blendend, und wenn ich nicht dabei war, zog sie über mich her und dichtete mir sonstwas für Dinge an. Das führte dazu, dass ich in kürzester Zeit spürbar ausgegrenzt wurde. Manchmal mochte ich gar nicht nach Hause gehen, weil ich das Gefühl hatte, ein Mienenfeld zu betreten.
Dann kam der nächste Sommer, und der Mitbewohner fragte, ob er auf den Balkon wohl ein paar Pflanzen stellen dürfte, ich wäre ja eh selten zu Hause und die würden auch nicht viel Platz wegnehmen und keinen stören. Klar durfte er. In seinem Zimmer hatte er so kleine Kakteen, vermutlich wollte er die an die Sonne stellen. Warum nicht, dachte ich, dann fuhr ich in Urlaub.
Als ich wiederkam, war mein Balkon verschwunden. Hinter einer grünen Wand. Der Mitbewohner hatte gar nicht für seine eigenen Pflanzen gefragt, sondern für Sevdas, die zu dem Zeitpunkt aber schon nicht mehr mit mir redete. Sevda hielt den Riesenbalkon, den man von nirgendwo einsehen konnte und der eine wunderbar sonnige Lage hatte, für den perfekten Ort, um ein wenig Gras anzupflanzen. Wobei es weder wenig noch Gras im Wortsinn war: Die Dachterasse war jetzt vollgestellt mit 15 riesigen Kunststoffwannen, wie man sie zum händischen Anmischen von Beton verwendet. Da drin: Hanfpflanzen, die offensichtlich noch jung, aber schon fast zwei Meter hoch waren. Keinen Schritt konnte man mehr auf dem Balkon machen, und in genau diesem Moment, als ich fassungslos vor diesem Kifferparadies stand, wurde mir schlagartig klar:
1. Ich muss hier ausziehen, sofort.
2. Ich ziehe nie wieder in eine WG.
Und so kam es dann auch. Ich fand zum Glück schnell eine Wohnung auf dem Dorf, weit weg von der Innenstadt, ohne schräge Mitbewohner, ohne Dachschrägen, aber leider auch ohne Balkon. In einer Nacht- und Nebelaktion zog ich von einem Tag auf den anderen aus (damals passten all meine Besitztümer noch in drei PKW), dann strich ich das Zimmer mit den billigsten, hässlichsten und, für Fußleisten und Türrahmen, lösungsmittelhaltigsten Farben, die es im Billigmarkt gab, und damit war ich verschwunden. Noch bevor die Farbe trocken war standen schon Sevdas Sachen in meinem ehemaligen Zimmer.
Später stand ich noch mit der Vermieterin in Kontakt. Nachmieterin Sevda hatte sich über Farbgeruch und Kopfschmerzen beklagt, aber hey, der Mietvertrag sagte nur, dass ich bei Auszug streichen muss, nicht mit welchen Farben. Außerdem erzählte mir die Vermieterin, das sie auf ihrem Balkon (der sich genau unter meinem, jetzt Sevdas, Balkon befand) Blätter gefunden habe. Die hätten so merkwürdig sternförmig und gezackt ausgesehen, und von unten könne man sehen, dass auf dem Balkon Pflanzen stünden, die bestimmt an die drei Meter hoch seien.
Die Vermieterin hätte daraufhin die WG zur Rede gestellt, die sich damit rauszureden versuchte, dass das Tomatenpflanzen seien. Die Vermieterin war aber nicht doof, und setzte ein Ultimatum, dass die Pflanzen bis Ende der Woche zu verschwinden hätten.
Was dann passierte, dass kann ich nur raten. Die Pflanzen standen ohnehin kurz vor der Ernte und ich stelle mir vor, dass nun eine hektische Verkostung stattfand und die Blüten schon für OK befunden wurden. Also wurden sie abgeerntet, kleingeschnitten und dann… Tja, wohin mit einem riesigen Berg illegalem Biomaterial? Ganz klar: In den Biocontainer des Stadtviertels! Die drei müssen bekifft gewesen sein, anders ist diese Idee nicht zu erklären.
Nicht zu erklären ist auch der Umstand, dass sie dabei nicht gerade sorgfältig zu Werke gingen, denn in der kommenden Woche war in der Lokalzeitung zu lesen, dass die Polizei eine erhebliche Menge Gras in der Göttinger Innenstadt beschlagnahmt hatte. Dabei war den Polizisten der Zufall zur Hilfe gekommen. Einer Streife war aufgefallen, dass ein Biocontainer mit offenem Deckel herumstand, weil er übervoll war. Mit Hanfpflanzen. Vom Biocontainer führte eine Spur aus Hanfblättern weg, durch mehrere Straßen und bis zu einem Haus in der Nähe, dann durch das Treppenhaus bis in den vierten Stock. Dort hatte die Polizei nicht nur Dutzende Müllsäcke voller Cannabisblüten gefunden, sondern auch eine Werkstatt zum Umlackieren gestohlener Fahrräder, die auf einer Dachterasse eingerichtet worden war.
Den Balkon hatte ich verloren, aber mit dieser Meldung hatte ich ein Stück Seelenfrieden zurückgewonnen.
8 Gedanken zu „Vintage Balkonien“
Chrchrchr! ? Ich glaube fast, die Geschichte haben Sie mir irgendwann schonmal in groben Zügen erzählt. Aber so detailliert ließt sie sich natürlich noch besser.
WGs mit wechselnden Mitbewohnern sind wirklich die Pest. Und irgendwann ist man auch einfach zu alt für den Scheiß…
Oh ja, da hast Du recht. Kann man mal gemacht haben, aber irgendwann ist man damit durch.
Bei solchen Geschichten bin ich echt froh, dass ich direkt Punkt 2 eingehalten habe. Stelle ich mir schlimm vor, in so einer Situation noch dazu auf verlorenem Posten “gegen” die anderen zu stehen, wo du so offensichtlich und nach gesundem Menschenverstand im Recht warst, weil der Balkon zu deinem Zimmer gehörte.
Martin ein Bekannter aus Hannover hatte keinen Balkon, aber hinter dem gewaltigen Ohrensessel eine solche Pflanze stehen und wehe der Sessel geriet zu sehr an die Pflanze,
Ein anderer Freund hatte diese Pflanzen zu Hause auf dem Balkon angesetzt, richtig stolz war er darauf, zu jener Zeit war er 16, Seine Stiefmutter eine Apothekerin hat nachdem sie zufällig mal sein Zimmer betreten hat und diese Pflänzchen dabei entdeckte einfach mit den Kästen runter geworfen
Katja: Ja, das war total unschön und nachgerade traumatisch. Im eigenen Zuhause ein Fremder zu sein ist schlimm.
Leandrah: Hihi, die böse Siefmutter…
Im eigenen Haus ein Fremder zu sein, das kenne ich auch – dabei in ein Mienenfeld zu geraten, so schlimm war’s noch nie … 😉
Is’ gar nicht viel zu lang die Geschichte, ist gut im Fluß.
Unglaublich, das ist eine Geschichte, welche den Kindern noch erzählt werden kann.
Hehe, ja.