Reisetagebuch Paris (6): Über die Schwelle der Höllen
Dienstag, 28. Oktober 2014, Paris
Neinneinnein, das hier ist nicht richtig. Das spüre ich. Irgendwas stimmt hier nicht, ganz egal was der Pförtner gerade gesagt hat. Ich bin hier nicht richtig, das weiß ich. Ein Blick auf die Uhr. Die Zeit läuft mir davon.
Dabei bin ich froh, dass ich überhaupt hier bin, denn die Zugverbindung hier raus ist kompliziert, und heute morgen sind auch noch wegen Signalstörungen Verspätungen und Zugausfälle dazugekommen.
Schon gegen halb Sieben, als es noch Dunkel war, bin ich vom Montmarte aufgebrochen. Nur wenige Menschen waren zu der Zeit unterwegs, anders als andere Großstädte schläft Paris gerne lange. Mehr als drei Stunden hatte ich da noch Zeit, eigentlich mehr als genug für einen Weg von eigentlich nur einer Stunde.
Trotzdem ist jetzt die Zeit knapp. Ich sehe noch mal auf die Uhr. Nur noch 10 Minuten, und die Schlange bewegt sich kaum.
Die Metro hatte mich zum Bahnhof Invalides gebracht. Dort ging es erstmal nicht weiter. Kein Zug weit und breit. Die französische Bahn gibt sich ja, ähnlich wie die deutsche, gar keine Mühe international zu sein. Ansagen oder anzeigenauf englisch gibt es nicht, und das Schnellfeuerfranzösisch, das ein erkälteter Bahnmensch durch die Lautsprecheranlage von 1920 hustete, verstand ich nicht. Irgendwo anders, so vermutet ich nach der vierten Durchsage, gibt es wohl eine Weichenstörung, und deswegen kam hier kein Zug.
Endlich, nach 45 Minuten Verspätung, fuhr ein Zug in den unterirdischen Bahnhof ein. Den bestieg ich und war froh, dass ich nun doch endlich unterwegs war. Zeitlich würde auch noch alles passen. Dachte ich. Dann gingen die Lichter aus, und auf Schnellfeuerfranzösisch wurde irgendwas durchgesagt. Englische Übersetzung gab´s auch hier nicht, wozu auch, die Linie wird ja nur überwiegend von ausländischen Touristen benutzt. Gerade mal zwei Stationen weit war ich gekommen, und nun musste ich wieder raus aus dem Zug und auf einen anderen warten. Der liess sich auch wieder Zeit, und als ich endlich hier ankam, musste ich schon im Laufschritt losrennen.
Hier, das ist übrigens das Chateau Versailles, und vor dem stehe ich jetzt gerade, um 09.15 Uhr, zusammen mit ca. 700 Leuten, und warte auf die Ticketkontrolle.
Ich habe eine Führung gebucht, und die beginnt bereits um 09.30 Uhr. Eine der ganz seltenen Führungen, findet nur alle paar Tage mal statt.
“Am Eingang für Individualtouren ODER am Gruppenmeetingpoint” solle man sich einfinden, sagt die Website, verschweigt dann aber geflissentlich, wo dieser Meetingpoint wohl zu finden ist. Also hatte ich mein Ticket einem Brummbär von Pförtner gezeigt. Der hatte es praktisch nicht angesehen und mit dem Arm in Richtung der langen Schlange gewedelt und gebellt, ich solle mich dort anstellen. Das sei der richtige Eingang. Aber alles in mir sagt, dass das hier nicht stimmt. Trotzdem hatte ich mich eingereiht, obwohl mir die Zeit ausgeht, denn was sollte ich anderes tun?
In mir schreit es: HIER bin ich falsch! Das WEISS ich einfach, und weit und breit kein Mensch der mir weiterhilft.
Als ich endlich in der Ticketkontrolle bin, zeige ich der Kontrolleurin den Gruppenbeleg, und frage wo der Treffpunkt ist. “Der ist da drüben” sagt sie, macht eine Armbewegung die das halbe Gelände umfasst und will schon den nächsten in der Reihen scannen. “Wo genau?”, will ich wissen. “Im anderen Gebäude”, flötet sie, “anderer Eingang, aber…” Sie blickt auf mein Ticket “… viel Zeit haben sie nicht mehr”.
“Das WEIß ICH!”, werde ich laut. Das geht mir auf die Nerven hier, und in 5 Minuten ist meine Führung ohne mich losgegangen. “Wo genau?!”, frage ich und wechsele von englisch auf französisch. Jetzt blickt sie mich das erste mal an, sagt “Da lang” und macht wieder eine Handbewegung. “OU. EXACTEMENT. Est le point de rencontre???” frage ich sehr laut und sehr deutlich. Endlich wird sie genauer. “Sehen sie das Gebäude da hinten? Mit der Fahne davor? Da gibt es eine kleine Tür, da müssen sie hin”. “WO. IST DIE TÜR. UND WIE KOMME ICH DA HIN?” Hinter mir staut sich die Menge, aber das ist mir egal. “Über den Platz da”, sagt die Kontrolleurin. “VOR ODER HINTER DER ABSPERRUNG?” frage ich sehr laut und sehr ruhig. “Davor, aber sie können…”
Den Rest höre ich nicht mehr, ich springe über das Absperrseil , ducke mich unter einem anderen durch und laufe dann durch die Tür, durch die das Sicherheitspersonal Zugang zum Gebäude bekommt. Zum Betreten braucht man eine Karte, aber raus kommt man so. Ich stürze an einem Wachmann vorbei, der vor der tür raucht und mir verdutzt hinterher sieht, und renne quer über den Vorplatz, durch den kalten und nassen Morgennebel.
Hat sie jetzt das oder das Gebäude gemeint? Fahnen haben die beide… Ich stürze auf das nächste zu und bin mir schon sicher, dass es das falsche ist. Bei so 50/50-Sachen liege ich immer falsch. Ich kralle mir den nächststehenden Aufpasser, packe ihn am Arm und halte ihm mein Ticket unter die Nase. “WO. IST. DAS?”
Der kleine Chinese guckt erschrocken und stottert “ich bi-bin nur der Praktikant, ER ist der Pförtner.” Ich blicke an einer zwei Meter großen, schwarzen Wand empor. Ich stelle mich auf die Zehenspitzen und halte dem Riesen mein Ticket unter die Nase. “WO. IST. DAS??!”, rufe ich auf Französisch.
Er zeigt auf das andere Gebäude, ich nicke, schubse einen Japaner aus dem Weg und sprinte wieder los. Gott, wie ich rennen hasse. Ich sehe eine unbeleuchtete Tür am Ende einer Treppe, aber keinen Hinweis auf Gruppenführungen oder sowas. Egal. Es ist 09.29 Uhr, wenn ich jetzt nicht richtig bin, ist es eh zu spät. Ich fliege die Treppenstufen empor, stoße die Tür auf und stehe schwer atmend in einem weißen Foyer, mir gegenüber ein Bediensteter des Chateaus, in einem dunklen Anzug und mit Stehkragen und Krawatte. “Bonjour Monsieur, wie kann ich helfen?”, fragt er auf Französisch. Das erste Mitglied des Personals das nicht grummelig und einsilbig ist. Noch außer Atem zeige ich ihm mein Ticket. “Ah, eine Tour. Trés Bien. Wenn Monsieur mir bitte folgen möchte, Sie werden bereits erwartet.”
Die Situation ist vollends absurd. Eben noch bin ich fast zwischen die Räder der Massenabfertigung von Versailles gekommen und musste Informationen aus den Leuten rausschütteln, dann gehe ich durch eine Holztür und plötzlich dreht sich die Welt um mich?!
Der Anzugträger führt mich in ein Antechambre mit weichen Sitzgelegenheiten, auf denen schon ein Dutzend anderer Leute wartet. Wir haben alle diese selten angebotene, englischsprachige Tour gebucht, und die beginnt unmittelbar nach meinem Eintreffen. Ich bin froh, dass ich diese Tour genommen habe. Mein Französisch reicht aus um zurechtzukommen oder Leute anzubrüllen, aber die komplizierten Erläuterungen unserer Führerin hätte ich in der Sprache nicht verstanden. Deutsch spielt in Frankreich übrigens keine Rolle, alles wird nur auf Französisch, Englisch und Spanisch angeboten. Mit Spanisch kommt man in Paris tatsächlich sehr weit.
Die Tour führt durch die Privatgemächer des Königs, von Raum der Leibwächter über verschiedene Antechambres bis zu seinem Arbeitszimmer, von da weiter in eine Bibliothek und schließlich in das Hochzeitsgebäude von Marie-Antoinette und Louis XVI.
Das ist alles auf den ersten Blick nicht so super spektakulär, aber unsere Führerin weiß viele interessante Details zu erzählen. Zum Beispiel, warum Versailles voller Spiegel hängt. Große Spiegel waren purer Luxus, einer kostete so viel wie drei Jahresgehälter eines Mittelschichtangehörigen. Es gab nur eine Firma in Frankreich, die Spiegelglas ziehen statt blasen konnte, und die hatten 150 Jahre, von 1700 bis 1850 das Monopol darauf und lieferten in alle Welt. Mit “groß” sind übrigens ca. 1,5 mal 2,5 Meter gemeint. Größer ging nicht, weil die ständig beim Transport zerbrochen sind – und es war üblich, dass der Kunde ab Werk bezahlte und selbst transportieren musste. Zwischen dem Werk und Versailles liegen 20 Kilometer, die Bruchrate lag bei 50 Prozent.
Auch in anderen Bereichen ist Versailles verschwenderisch. Es gibt weiße Holztüren mit goldenen Ornamenten. Die sind aber mitnichten aufgeklebt, oh nein. Vielmehr hat man eine riesige Eichenplatte genommen und die Oberfläche abgetragen und hat so die Ornamente herausgearbeitet. Ein irrer Aufwand, besonders weil Eiche mehr als 10 Jahre lagern muss bis man sie bearbeiten kann.
Oder eine Uhr, die ein Prunkstück französischer Uhrenbaukunst darstellt. Zwölf Jahre wurde an ihr gebaut. Sie zeigt Zeit, Datum, Mondphasen und Planetenkonstellationen und ist absolut präzise. Heute sind die Schweizer als Uhrenhersteller weltweit bekannt. Wenn man aber genau hinguckt, wird man bemerken, dass die berühmten Schweizer Uhrenunternehmen allesamt franzöische Namen haben. Weil nämlich beim Verbot des Protestantismus die Uhrmacher fast geschlossen von Frankreich in die Schweiz ausgewandert sind. So hängt alles mit allem zusammen, Geschichte ist ein Spielplatz.
Ich bin erstaunt zu erfahren, dass Louis der 15. ein echtes Arbeitstier war, der sich über alles und jeden Notizen machte und über jeden etwas wusste. Der König konnte zudem nicht alleine bestimmen, sondern musste in einer Art Senat aus Beratern Entschlüsse gemeinsam fällen. Da war Louis der 15. wohl gefürchtet. Beispiel: Ein Beamter sollte zum Minister erhoben werden. Der König kramte in mehreren Kisten mit Zetteln und argumentierte dann im Detail, warum er die Person für nicht geeignet hielt, bis hin zu Dingen aus der weit zurückliegenden Vergangenheit der Person. Auch wenn er sich mit anderen unterhielt, macht er sich ständig Notizen, was die Gesprächspartner überaus nervös werden lies. Ich hatte französische Könige immer als dekadente Perückenträger abgetan, aber DER Typ muss die Vorlage für Pratchetts Lord Vetinari, den Patrizier von Ankh-Morpork, gewesen sein.
Die Tour führt noch durch weitere Räume, die die Öffentlichkeit so nicht zu sehen bekommt. Speisezimmer, Familiensalons, Bibliotheken. Immer wieder wundert mich die Detailverliebtheit der Ausstattung. Im Bücherzimmer sind etwa die Türen mit Buchatrappen versehen, wodurch sie quasi unsichtbar werden, wenn sie geschlossen sind.
Am beeindruckendsten ist aber der Hochzeitsraum von Louis dem 16. und Marie-Antoinette. Der arme Architekt wurde gezwungen in nur zwei Monaten ein Wunder zu schaffen. Er sollte in der kurzen Zeit eine Oper bauen, außerdem einen festlichen Bankettraum und dazu noch einen Tanzsaal, und jeweils groß genug für 500 Personen, bitteschön. Am ersten Tag der Hochzeit würde es ein großes Essen geben, am zweiten eine Opernaufführung und am dritten ein Tanzvergnügen. Drei Räume mit großen Ausmaßen und festlicher Ausstattung? Was für eine Herausforderung für den Architekten. Aber es ist ihm gelungen.
Der Hochzeitsraum ist eine Oper, zumindest auf den ersten Blick. Tatsächlich gibt es Logen, Parkettsitze, einen Orchestergraben und eine Bühne, die nach hinten raus erstaunlich tief ist. Der Innenraum ist prächtig in grünem Stein und Gold gehalten, wobei es sich aber nur Attrappen handelt. Der Stein ist kein Marmor, sondern nur bemalt, und das Gold ist nur Farbe. Nichtmal die Kronleuchter am Rand der Logen sind ganz, sie sind halbiert und hängen vor Spiegeln.
Der Clou ist aber, dass diese Oper mehr kann als nur Oper sein. Der Boden des Parketts lässt sich auf Höhe der Bühne anheben, wodurch ein riesiger Saal entseht. Die Hochzeit dauerte drei Tage. Am ersten abend wurde in dem Feierraum ein Essen gegeben, wobei auch der Raum auf der Bühne mit zur Tafel gehörte. Am zweiten Abend wurde eine Oper gezeigt (dann in der abgesenkten Opernversion, und am dritten Abend wurde das Parkett der Oper ohne den Platz hinter der Bühne in einen großen Saal verwandelt und getanzt.
Nach der rund 90-minütigen Führung erkunde ich das Schloß auf eigene Faust – was aber gar nicht einfach ist, denn nach Versailles eingelassen wird jeder mit Ticket. Eine Besucherobergrenze gibt es nicht, und mittlerweile hat das Schloss einen Füllstand erreicht, der das Vorwärtskommen auf der regulären Tour im Gebäude fast unmöglich macht. Zu besichtigen gibt es in der Theorie die Gemächer des Königs im rechten Flügel und die Zimmer der Königin im Linken, beide verbunden durch die berühmte Spiegelgalerie. In der Praxis schieben sich gerade so viele Leute dicht gepackt durch die Räume, dass man kaum atmen, geschweige denn etwas sehen kann. Die Hölle, das sind die Anderen, und die Anderen sind hier Legion.
Zwischen den Räumen, wenn die Menschenmasse durch die recht engen Türen muss, ist es besonders schlimm und eng. Ausgesprochen doof stellen sich heute Koreaner und Chinesen an, die stets an den engsten Stellen stehenbleiben um an ihren Fotoapparaten rumzuschrauben oder sich die Haare zu kämmen (kein witz!). Ein Teil wird von bodycheckenden Japanerinnen auf dem Weg zum nächsten Selfie umgerempelt, aber trotzdem gibt es immer wieder Staus. Ich habe mittlerweile eine super Methode gefunden, um mit Asiaten jeder Nasenform umzugehen: Ich schiebe sie einfach aus dem Weg. Steht ein Koreaner im Türdurchgang, fasse ich ihn an der Schulter und stelle ihn zur Seite. Steht eine Japanerin zu lange vor einem Gemälde, weil auch der 1.000ste Selfie nicht makellos war, greife ich sie am Ellenbogen und schiebe sie vorsichtig zur Seite. Steht eine chinesische Familie zu dritt nebeneinander auf einer Treppe, deute ich in eine beliebige Richtung, der sie sofort mit den Blicken folgen, nicke dann aufmunternd und schiebe sie in die Richtung. Funktioniert total super. Menschen brauchen Orientierung, Touristen sind orientierungslos, ich zeige ihnen wo´s lang geht.
Trotzdem bin ich froh, dass ich mit heiler Haut wieder aus den Gemächern raus bin. Heute ist es besonders voll, meint die Führerin, weil der Louvre geschlossen habe, deswegen konzentriere sich alles auf Versailles. Und dabei haben wir fast November, weit ausserhalb jeglicher Saison. Ich möchte mir gar nicht vorstellen, was hier zur Hauptferienzeit los ist.
Etwas weniger dicht gedrängt ist es in der Spiegelgalerie. Das war eigentlich mal ein nach außen offener Säulengang, wurde dann aber kurzentschlossen zu einem Saal umgebaut, der auf der einen Seite große Fenster hat und denen gegenüber riesige Spiegel, was die ganze Galerie hell erleuchtet.
Es gibt noch eine Ausstellung zum Möbeldesign von Versailles, die aber eher uninteressant ist und nur auf französisch erläutert wird. Klar, warum sollte man an einem Ort wie diesem, wo Touristen aus aller Herren Länder sind, eine englische Übersetzung anbieten? Ich kann das mit viel Mühe zwar lesen, aber die Zeit will ich mir nicht nehmen. Als ich in die Parkanlage komme, atme ich erstmal tief durch. Die Luft ist so kühl, dass der Atem kondensiert, und obwohl es schon Mittag ist, ist es ist immer noch nebelig. Trotzdem kann ich auch so erkennen, dass die Anlage viel größer und gewaltiger ist als ich dachte. Ich ziehe mir die Mütze ins Gesicht und wandere los.
Eineinhalb Stunden und zehn Kilometer später hat mich die Lust verlassen. Die Gärten sind WIRKLICH riesig, und eigentlich mag ich hier nicht stundenlang rumspazieren. Wobei von spazieren keine Rede sein sein, ich marschiere strammen Schrittes die großen Alleen entlang, aber alles ist so groß, dass ich das Gefühl habe nicht voranzukommen. Ich sehe nur wenige andere Besucher, und die waren schlauer als ich und flitzen in elektrischen Golfwägelchen, die man am Schloß mieten kann, an mir vorbei. Als ich schon umkehren will, sehe ich am Horizont ein Gebäude. Es ist das große Trianon, der Wohnsitz von Marie-Antoinette.
Beim gelangweilten Wachpersonal sorgt das Wiesel für große Erheiterung, als es in meinem Slingpack entdeckt wird. “Une Belette, eh?” ruft ein Wachmann, der sicher kurz vor der Pension steht, und hält das Wiesel vorsichtig in die Höhe. Er und seine Kollegin bekommen sich vor Lachen gar nicht mehr ein, und das Wiesel ist freut sich über so viel gute Laune. Als ich die Ausstellung betrete, höre ich es hinter mir noch lange Prusten “Une… Hihihi… BELETTE!!!!”. Die haben wohl nicht viel Abwechselung hier. Die Wohnräume sind hübsch anzusehen, und hier bin ich praktisch alleine. Man muss die Salons, teuren Wandspiegel und dekadenten Barockmöbel nicht gesehen haben, aber nach der Wanderei ist das hier eine nette Abwechselung.
Das gleiche gilt für das kleine Trianon, ein weiteres Schlösschen gleich um die Ecke. Hier sind unter anderem die Uniformen der Diener von Marie-Antoinette ausgestellt, die sehen aus wie Fracks für Feuerwehrleute. Richtig interessant wäre vielleicht noch das Jagdschlösschen und das “Wildgehege”, eine nette Umschreibung für ein privates Bordell, in der eine ganze Herde Kurtisanen gehalten wurde, die Mätressen des Königs. Dummerweise liegt das Haus weit weg, in einem eher wilden Teil des Areals, und ich möchte hier nicht noch stundenlang in der Kälte rumlaufen. Die leichte Sommerjacke, gestern im Sonnenschein genau richtig, ist heute viel zu dünn, und ich friere wie ein Schneider.
Zum Glück gibt es eine kleine Bimmelbahn, die alle 10 Minuten an Haltestellen an Chateau, Grand Canal und den Trianons vorbeikommt. Die vier Euro zahle ich gerne für einen schnellen Rücktransport zum Schloss. Als Tip kann ich nur sagen: Unbedingt gleich mit der Bahn zu den weiter draußen gelegenen Sehenswürdigkeiten fahren, wenn man nicht auf lange Wanderungen steht und einen ganzen Tag Zeit hat. Das Ticket zahlt man nur ein Mal, kann überall aus- und später wieder zusteigen.
Ich verlasse das Chateau Versailles durch den Haupteingang. Die Schlange der Besucher zieht sich mittlerweile in mehrfachen Schleifen über den großen Vorplatz. Ich schätze die Länge auf mehr als 1,5 Kilometer. Selbst wenn man sich das Ticket vorab gekauft hat, muss man sich hier anstellen. Unfassbar. Schnell kommt man hier tatsächlich nur rein, wenn man eine Tour gebucht hat, ansonsten steht man sich hier die Beine in den Bauch. Da würde mir ja besseres einfallen als meine kostbare Urlaubszeit mit Schlangestehen zu verbringen. Denke ich noch so bei mir, und stelle eine Stunde später fest, dass einem nur etwas wichtig genug sein muss, um auch anstehen zu erdulden.
Ich habe mit Schlangestehen ja grundsätzlich ein Problem. Daher recherchiere ich stets im Vorfeld, ob es eine Möglichkeit zu “Skip the Line” gibt und wie ich Tickets Online bekomme. Das funktioniert meist total gut, in Italien bin ich oft an hunderte Meter langen Schlangen einfach vorbeigegangen und konnte sofort über einen Extraeingang für Onlinekäufer rein. In Frankreich hat man dieses tolle Prinzip vielerorts nicht verstanden. Man kann zwar fast überall online Ticktes kaufen, steht dann aber trotzdem mit allen anderen in einer Schlange. Und dann gibt es noch die Sehenswürdigkeiten, die Internet für eine Modeerscheinung halten und aus Prinzip ignorieren.
Dazu gehören auch die Katakomben von Paris. Die Katakomben sind eine gefragte Sehenswürdigkeit, online bekommt man da aber nicht mal vernünftig die Öffnungszeiten raus, und einen Ticketverkauf oder Reservierungen übers Netz gibt es schon mal gar nicht. Dabei wäre das aber gerade hier dringend nötig. Ich war schon mal in den Katakomben, Anfang der 90er, kann mich aber an nicht mehr viel erinnern. Nur, dass wir da recht schnell durchgelaufen sind. Stundenlang Anstehen mussten wir nicht, und auch jetzt hatte ich mit moderater Wartezeit gerechnet. Mir fällt fast die Kinnlade runter, als ich eine lange Schlange vor dem unscheinbaren, schwarzen Häuschen sehe, in dem sich der Zugang zur Unterwelt von Paris befindet.
Richtig die Kinnlade herunter fällt mir, als ich an der Schlange entlang gehe und kein Ende ausmachen kann. Länger und länger zieht sie sich die Straße entlang, um eine Ecke, an einem Park vorbei, um noch eine Ecke und… ah,da ist das Ende.
Ich seufze. Gut, bleibt mir nichts anderes übrig als anzustehen, aber vorher besuche ich kurz C&A im Tour Montparnasse und kaufe mir einen Pullover, den ich sofort anziehe. Es ist wirklich schweinemäßig kalt, und vermutlich werde ich hier eine Stunde oder so rumstehen. Egal. Ich will unbedingt die Katakomben sehen, und heute ist quasi die letzte Gelegenheit, wenn ich nicht andere Dinge komplett ausfallen lassen will.
Vor mir steht ein junges Paar in der Schlange, die beide Deutsch sprechen. Die Frau meint gelesen zu haben, dass immer nur 45 Personen alle 10 Minuten eingelassen werden. Das ergibt einen Sinn, denn ein Gedränge wie in Versaille will man da unten nicht haben. Allerdings geht es nicht alle 10 Minuten weiter. Es geht GAR NICHT weiter. Ab und an rückt die Schlange vielleicht mal einen halben oder einen Meter vor, aber im Prinzip herrscht Stillstand. Nach einer Stunde bin ich nicht mehr als 10 Meter weitergekommen, und die Schlange ist geschätzt 150 bis 200 Meter lang. Es ist immer noch eisekalt, und ich beglückwünsche mich zu der Entscheidung mit dem Pulloverkauf. Ohne den wäre ich schon ein Eiswürfel.
Der Nebel von Versailles erreicht jetzt auch Paris. Eben noch ragte der Tour Montparnasse über den Häusern auf, jetzt ist er in einer weißen Wand verschwunden. Nach zwei Stunden bin ich immerhin schon 50 Meter weiter, vermutlich, weil so viele andere vor mir aufgegeben und die Schlange verlassen haben. Ob das jetzt Karmaausgleich dafür ist, dass ich sonst immer überall direkt reinmarschiere? Diese Schlange ist wirklich meine persönliche Superhölle: Es geht nicht vorwärts, es ist kalt, und hinter mir bölkt, rotzt und raucht eine Gruppe Jugendlicher herum, die mir dabei unangenehm nah auf die Pelle rücken. Ich mag es nicht, wenn Leute sich bis auf Zentimeter an mich ranstellen.
Zum Glück habe ich was zum Lesen dabei, ein Hoch auf eBookreader. Irgendwann komme ich auch mit dem deutschen Pärchen ins Gespräch. Die beiden haben sich abwechselnd mit dem Holen von Zigaretten, Getränken und Essen beschäftig. Kati, die eigentlich aus Estland kommt, hat zudem in Erfahrung gebracht, dass immer nur maximal 200 Personen eingelassen werden. Tatsächlich liegt die Zahl der Besucher aktuell nur bei 120, das steht auf einer Leuchtanzeige über dem Eingang, und es darf immer nur einer rein, wenn einer rauskommt. Da es mittlerweile auch Audioguides gibt, nehmen sich die Besucher Zeit – und deshalb geht es nicht voran. Ich sehe auf die Uhr. Bis maximal 19 Uhr ist Einlass, seit 15.00 Uhr stehe ich hier schon. Wenn es weiter so langsam geht, kann es sein, dass ich knapp nicht mehr reinkomme. Das wäre noch der Superalbtraum: Einen halben Tag in der Schlange aus der Hölle stehen, und dann doch nicht mehr rein dürfen.
Tatsächlich marschiert kurze Zeit später ein Mitarbeiter der Katakomben an der Schlange entlang, macht zwei Meter hinter mir teilende Bewegungen mit den Armen und brüllt: “Ab hier noch zwei Stunden. Alle ab diesem Bereich haben DEFINITIV KEINE CHANCE mehr heute reinzukommen. Geht nach Hause!”
Für mich heisst das: Es bleibt spannend. Werde ich noch als einer der letzten reindürfen? Oder gehöre ich zu den denen, denen die Tür vor der Nase zugehauen wird und unverrichteter Dinge abziehen müssen? Dann wäre ein halber Tag sinnlos verloren. Letztlich hängt alles davon ab, ob und wie sehr die Leute vor mir Bummeln.
Es wird dunkel, und mit dem Tageslicht verschwindet das letzte Bißchen Wärme. Es ist arschkalt, und immer noch stehe ich 10 Meter entfernt vom Kassenhäuschen, das nun hell erleuchtet ist. Zeitlich sieht es nicht gut aus, aber da kommt plötzlich Bewegung in die Schlange. Es werden mehr Leute auf einmal eingelassen, und tatsächlich darf ich kurz Vor Schluss, nach fast vier Stunden Anstehen, in das Kassengebäude, und bin darüber schon überglücklich. Ich spüre meine Finger und Beine kaum noch, aber ICH BIN DRIN!
Über eine lange Wendeltreppe geht es hinab in die Katakomben. Das Wort, gibt der Audioführer freimütig zu, habe man sich von den Römern geliehen (siehe hier auch wie ich die Wortherkunft in Rom entdeckt habe). Es handelt sich um die alten Steinbrüche unter Paris, wo schon immer der helle Leimstein abgebaut wurde, der sich so gut bearbeiten lässt und aus dem fast alle Gebäude in Paris bestehen.
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Die Geschichte der Katakomben von Paris
Über 2000 Jahre wurde unter Paris gegraben. Höhlen mit unterirdischen Steinbrüchen entstanden und versorgten die Stadt mit allem, was an Baumaterial gebraucht wurde. Deshalb hat Paris diese einheitliche, grau-sandige Farbe: Alle Steine der Häuser stammen von hier.
Als die Stadt immer weiter expandierte wurde auch der Bedarf an Steinen immer größer, was zur Erschließung imner weiterer Steinbrüche führte. Paris wuchs an der Oberfläche, während der Untergrund immer weiter ausgehöhlt wurde. Schließlich passierte es: Ein ganzer Straßenzug brach durch die hohle Erde, die einfach nachgab. Die Bürger von Paris waren in Panik, der König sah sich gezwungen zu handeln. Er setzte einen Gutachter ein, der ein verheerendes Ergebnis von seine Untersuchungen mitbrachte: Der Untergrund von Paris war von so vielen Stollen, Gängen und Höhlen durchzogen, dass man ihn nichtmal mehr kartographieren konnte. Die nötigen Sofortmaßnahmen zur Abstützung der Fundamente würde Milliarden kosten.
Der König nahm das zu Kenntnis – und vesuchte das Problem auszusitzen. Erst als weitere Gebäude einstürzten und Straßen im Boden verschwanden, wurde endlich gehandelt und die Hohlräume verfüllt oder mit gemauerten Stützen gesichert. Die Stadt Paris ruht bis heute auf einem riesigen Fundament über einem gewaltigen Höhlensystem.
Das wurde für unterschiedlichste Zwecke genutzt. Im zweiten Weltkrieg nutzte es die Resistance, um sich in der ganzen Stadt frei bewegen zu können. Die deutschen Besatzer nutzen es und bauten hier unten Bunker. Heute ist ein Großteil der Steinbrüche versiegelt, aber immer wieder kommen junge Leute hier herunter um Parties zu feiern oder andere Dinge zu machen. Tatsächlich gibt es eine eigene Polizeieinheit, die hier patrouilliert und Besucher verhaftet. Vor einigen Jahren fanden Polizisten ein voll eingerichtetes Kino in einer der Höhlen.
Die großen Hohlräume unter der Stadt bieten viele Nutzungsmöglichkeiten, und ein Teil der Gänge wird als Ossarium, als Beinhaus, genutzt.
Im 18. Jahrhundert war Paris so schnell gewachsen, dass die Friedhöfe in er Stadt nicht mehr ausreichten. Man setzte die Toten nur noch in Massengräbern bei. Das verursachte aber neue Probleme: Die Dinger stanken so dermaßen zum Himmel, das angeblich sogar Anwohner erstickten. Die offenen Leichengruben waren ein Seuchenherd, und als ein Massengrab brach und die halbverwesten Leichen in die Keller der umliegenden Häuser gedrückt wurden, war klar: Eine andere Lösung musste her.
Die fand man in den Katakomben. Ein Teil der alten Steinbrüche wurde geweiht und die Toten ab 1785 erst sorgsam bei Nacht in schwarzen, von Priestern begleiteten Kutschen durch die Stadt gefahren, später wurde im Schnellverfahren umgebettet. Die Gebeine von 6 Millionen Menschen wurden durch Fallschächte in die Katakomben geworfen. Die Aufräumarbeiten im Untergrund wurden erst nach der Umbettung angegangen, was satte 20 Jahre später war.
Mittlerweile hatte die Romantik Einzug gehalten. In Schrift und Kunst wurde der Tod verherrlicht und zelebriert, während die Kirche bis dahin nur den Aspekt der Trauer betont hatte. Innerhalb von 20 Jahren hatte sich die Lage so verändert, das die Katakomben nicht mehr als unwürdiger Ort der Not angesehen wurden, sondern stattdessen gefordert wurde, daraus einen Ort der Zelebrierung des Todes und er Trauer zu machen. Daraus erwuchs die Idee der Installation der Knochen, und daraus entstanden die Rundwege, die Besucher an Reihen von sorgfältig aufgeschichteten Knochen vorbeiführen, was man dann insgesamt etwas melodramtaisch “Das Reich der Toten” nannte. In den 1880er Jahren war es ein besonderer Nervenkitzel für das gehobene Bürgertum zu Happenings zu gehen, bei denen Dichter morbide Texte in den Katakomben vortrugen.
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Der Besichtigungsrundweg führt erst durch einen alten Steinbruch und einige Ausstellungsräume, wo auf Schautafeln geologische und mineralogische Details erklärt werden. Das ist ebenso neu wieder Audioguide, der sehr gut zu einzelnen Stellen informiert. Leider gibt es keine Tafeln, auf denen angezeigt wird wann man welchen Track abspielen soll, nur wage Hinweise am Ende jeder Audiospur, so dass es manchmal etwas mühsam ist rauszufinden, wo sich das Gerät in Relation zu einem selbst gerade befindet.
In den Steinbruchgängen kommt man gemauerten Fundamenten vorbei, in denen Jahreszahlen eingelassen sind. Je weiter man kommt, desto älter werden die Gänge.
Es gibt auch Skurrilitäten zu sehen, wie dieses Werk eines Bergmanns, der in seiner Freizeit in den Katakomben blieb und hier den Hafen von Menorca aus dem Fels meißelte – den Ort, an dem er jahrelang gefangen gehalten wurde.
Der Weg führt durch ein kleines Tor, über dem eine Inschrift steht: “Arrête! C’est ici l’Empire de la Mort!“ – “Haltet ein! Hier ist das Reich des Todes!“. Diesen Eingang nennt man “Barrière d’enfer” (“Schwelle der Hölle“). Etwas melodramatisch, aber jetzt kommt der spannende Teil: Das Ossarium.
Ich betrete Gang, zu dessen beider Seiten nun ordentlich Knochen aufgestapelt sind. Oft reichen die Knochenwände vom Boden bis zur Decke, manchmal sind sie nur hüfthoch. Dahinter sind die restlichen Knochen aufgeschüttet. Immer wieder sind Beinknochen und Schädel zu Mustern arrangiert, bilden in Nischen Altare oder Gebetsräume.
Rund zwei Kilometer läuft man durch weiten, gut beleuchteten Gänge. Raumangst braucht man hier nicht zu haben. Merkwürdig ist lediglich, dass ich manchmal wirklich ganz allein auf einem Abschnitt bin und auch niemanden anders hören kann. Dann wieder laufen kleine Grüppchen anmit vorbei. Gruselig ist es hier aber nicht. Findet auch das Wiesel dass versucht, sich mit einigen der Schädel anzufreunden. Aber keiner von denen antwortet.
Die ganze Tour dauert rund 45 Minuten, wenn man sich Zeit nimmt. In meiner Erinnerung war ich nach dem ersten Besuch enttäuscht, wie schnell wir durch waren, vermutlich sind wir damals einfach durchgestürmt. Damals, das war halt vor 24 Jahre. Ich war ein anderer, und die Katakomben waren auch anders. Das Besucherlimit gab es damals nicht, aber ich muss zugeben: Das tut dem Erlebnis wirklich gut. Stellenweise bin ich allein in den Gängen unterwegs und sehe und höre keinen anderen Menschen. Das ist ein wirklich… eindrückliches Erlebnis. Dafür hat sich auch das stundenlange Schlangestehen gelohnt.
Nach rund einer Stunde komme ich wieder an der Oberfläche heraus, allerdings nicht dort, wo der Einstieg zu den Katakomben war, sondern in der Rue Rémy Dumoncel, gut einen Kilometer weiter südlich.
Ich kehre ein letztes Mal nach Montmartre zurück, biege hinter dem Moulin Rouge in die Rue Epic ein, kaufe ein wenig Taboulae und eine Dose “1664”-Bier ein, schlendere am Des 2 Moulins vorbei und suche mein Zimmer im Hotel Audran auf. Das ist der letzte Abend in Paris.