Reisetagebuch MaGenTu (3): Monumental
Städtehopping im Februar: Mailand, Genua, Turin. Heute geht es durch Mittelerde zu einem uralten Codex, außerdem gibt es Thanatourismus und Nutella zum Trinken.
Sonntag, 08. Februar 2015, Mailand
Sonntag morgens, kurz vor 10. Mailand schläft noch.
Dunst hängt in den engen Häuserschluchten der Altstadt, nur hier und da schneiden Sonnenstrahlen durch die dicke Luft. Auf den kleinen Balkonen der Stadthäuser stehen vereinzelt Frauen, rauchen und tratschen über die Straße hinweg die neuesten Nachrichten aus Familie und Nachbarschaft.
In den Straßen ist nicht viel los, was emsige Numismatiker und Philatelisten zum Anlass nehmen, an den Straßenrändern der Via Victor Hugo ihren Geschäften nachzugehen.
Alte Männer flanieren mit ebenso lüsternden wie forschenden Blicken an den Reihen der Stände vorbei und mustern kritisch die Auslagen. Ab und an wird es laut, wenn sich Anbieter und Nachfrager über den Wert oder die Qualität einer Ware nicht einig sind.
In einer Nebenstraße liegt die Ambrosiana, ein großer Museumskomplex, in dem mehrere Gebäude und eine sogar Kirche miteinander zu einer Einheit verschmolzen sind. In Mailand dreht sich alles um Ambrosisus, den gebürtigen Trierer, der im vierten Jahrhundert Bischof war. Später wurde er zum Heiligen ernannt und Schutzpatron der Imker, Kerzenzieher und Lebkuchenbäcker. Weil das ja nicht mal in Teilzeit auslastet, ist er nebenbei auch noch der Stadtheilige von Bologna und Mittelerde.
Das war der frühere Begriff für die Poebene, und im Laufe der Zeit wurde daraus das Mittelland, dann Midland, und schließlich Milan, also Mailand. Mailand ist Mittelerde. Des Ambrosius wegen heißt auch der Karneval in Mailand “Carnivale Ambrosiana” und dauert statt bis zum Aschermittwoch bis zum darauffolgenden Samstag. Warum das so ist, konnte mir aber niemand sagen.
Die Ambrosiana jedenfalls ist eine Bibliothek und Pinakothek, und das bereits seit dem Jahr 1600. Hört sich nach Gemischtwarenladen an, ist aber eine der bedeutendsten und am sorgfältigsten kuratierten Sammlungen der Welt. Die Bibliothek hatte im Laufe der Zeit viele bedeutende Leiter, die zu ihrer jeweiligen Zeit Großes geschaffen haben. Gemeinsam sorgte dieser Club of extraordinary Gentlemen über die Jahrhunderte dafür, das die Ambrosiana das kulturelle und künstlerische Zentrum Norditaliens wurde und bis heute eine der wichtigsten Blibliotheken der Welt ist, wenn es um alte Dokumente geht.
Im Inneren ist das Fotografieren leider verboten. Eine Schande, denn das Haupthaus ist schon beim Betreten eine Schau. Große Säulen aus grauem Stein säumen die Eingangshalle, in der ein Begrüßungscounter aus altem Kirschholz steht. Dahinter führt ein breites Treppenhaus hinauf in die Ausstellungsräume. Die zusammenhängenden Räume sind elegant und edel eingerichtet und enthalten eine große Zahl wirklich schöner Gemälde und Statuen aus der Renaissancezeit. Während man durch die Austellung läuft, wechselt man unbemerkt und Übergangslos von einem Gebäude ins nächste, bis man in die Kirche gelangt, die mitten in der Ambrosiana steckt.
Das Prachtstück der Sammlung ist der Codex Atlanticus. Dieses Werk ist das gesamte schöpferische Leben und Denken von Leonardo da Vinci. Vierzig Jahre lang hatte er all seine Notizen, die er auf Zettel, Servietten und jede andere beschreibbare Oberfläche kritzelte, gesammelt. Darunter finden sich Skizzen für Gemälde, Bauanleitungen für Waffen und Pflanzenbewässerungsanlagen, Landkarten, Pläne für Gebäude und Brücken sowie philosophische und wissenschaftliche Überlegungen.
An einer Stelle ist sogar ein Essay enthalten, in dem Leonardo Zweifel an der Darstellung der Sintflut in der Bibel niederschreibt und das ganz exakt damit begründet, dass das dort beschriebene Verhalten von Wasser nicht zu seinen Studien von Oberflächenspannungen und Strömungsmustern passt. Mind = Blown.
Nach Leonardos Tod ging diese Zettelsammlung, die man im italienischen Codex nennt, an einen seiner Schüler über, dessen Sohn immer wieder Blätter daraus verscherbelte. Zum Glück erkannte knapp 50 Jahre später der Kunstsammler Pompeio Leoni den Wert des Werkes und konnte fast alle Seiten aufkaufen. Er ordnete sie neu an und band sie in ein großes Buch, dass das Format eines Atlas hatte. Daher der Begriff: Codex für Sammlung, Atlanticus als Bezeichnung für das Buchformat. 1637 wurde das 60 Zentimeter dicke und 461 Seiten starke Buch an die Ambrosiana übergeben. Dort liegt es seitdem, mit Ausnahme der kurzen Zeit, in der es sich Napoleon unter den Nagel riss und nach Frankreich brachte, von dort kam es aber schnell zurück nach Mailand.
1960 wurde das Buch zersägt, restauriert und jede Zeichnung auf eine einzelne Seite gebracht. So wurde aus dem einen Buch ein zwölfbändiges Werk mit 1180 Seiten, von denen 25 im verdunkelten “Sale Federicana” in der Ambrosiana ausgestellt sind. Einen weiteren Ausstellungsraum gibt es in Santa Maria delle Grazie, dort, wo sich auch “Das Letzte Abendmahl” befindet. Mehr Infos gibt es unter www.leonardo-ambrosiana.it. Es gibt auch eine digitaliserte Fassung des Codex, durch die man sich im Internet stöbern kann. Leider ist die Website der Ambrosiana ziemlich kaputt.
Der Sale Federicana ist der Innenraum der Kirche, die Teil der Amrbosiana ist. Der Raum ist groß und hoch und fast vollständig verdunkelt. Diffuses Licht lässt erahnen, dass die Wände rundherum und mehrere Meter hoch mit Regalen aus dunklem Kirschholz bedeckt sind, in denen tausende von ledergebundenen Büchern stehen. In der Mitte des Raums stehen Glasstelen, die von innen heraus leuchten. Jede der Stelen trägt in ihrem klimatisierten Inneren eine Codexseite. Von etwas weiter weg sieht es aus, als ob die Seiten im Raum schweben. Vor jeder Säule erklärt ein Display den Inhalt der Seite.
Ich stehe vor Papierseiten, die DER Leonardo Da Vinci vor 500 Jahre beschrieben hat!!!! Die Anzahl der Ausrufezeichen lässt erahnen, dass ich kaum fassen kann, was ich gerade erlebe. Eine halbe Stunde wandere ich wie in Trance zwischen den Stelen herum.
An der Stirnseite hängt das erste Stillleben, dass je geschaffen wurde: Caravaggios Bosca di Frutta – ausgerechnet ein Obstkorb.
Verlässt man den Fruchtkorbcodexkirchenbibliotheksraum, steht man unvermittelt auf der Straße und gegenüber einer Polizeiwache. Die war früher das Hauptquartier der Faschisten, und der Balkon, von dem Mussolini seine donnernden Reden hielt, ist immer noch an der Wand.
Fünf Gehminuten von der Ambrosiana liegt der Dom. Daneben ist der alte Fürstenpalast zu finden, der Palazzo Reale. Dessen rechter Anbau wurde in den 1930ern im Stil des italienischen Novecento designt. Ich mag diesen Stil mit seiner klaren, kraftvollen Formensprache ja sehr. Leider tat da auch ein gewisser Mussolini, Prachtbauten in diesem Stil bauen ließ und dafür ganze Stadtviertel abreißen ließ. Damit wurde das Novecento so untrennbar mit dem Faschismus assoziiert, dass er nach dem Ende des Kriegs nicht mehr tragbar war und wieder verschwand. Schade.
Im Inneren des Palazzo Reale sind mehrere Ausstellungen. Vor der Van Gogh-Austtellung stehen schon lange Schlangen, aber in das Dommuseum rutsche ich einfach so rein. Hier ist der Domschatz ausgestellt, der mich aber wenig beeindruckt – goldene Ketten und Kelche und halt so Dinge, die die Kirche gern hat.
Ansonsten finden sich noch Modelle des Doms sowie ausgemustere Heiligenfiguren, Zierelemente, Wasserspeier und sonstwas, was halt in den vergangenen Jahrhunderten an dem monumentalen Zuckergebäck ersetzt werden musste.
Das Wahrzeichen des Domes ist ja die goldene Madonnenfigur auf der Spitze, die weithin in der Sonne leuchtet.
So sieht die “Madonnina” unter ihrem Goldkleid aus:
Mit der Straßenbahn geht es in den Norden der Stadt. Hier liegt der Cimitero Monumentale, der Monumentalfriedhof von Mailand.
Der ist natürlich nicht so spektakulär wie der in Genua, aber auch hier lassen sich Schmuckstücke finden – wie das Grab des Piloten, der – nackt und mit einem Propeller auf den Schultern – einem Unwetter zu entkommen sucht, das als Medusenkopf dargestellt wird. Ganz schön abgefahren.
Unspektakulär sind dagegen die Grabstätten mancher berühmter Familien. Die Toscaninis bspw. liegen vergleichsweise bescheiden. Im hinteren Teil des Friedhofs bin ich allein unterwegs. Keine anderen Menschen sind da, die Geräusche der Stadt sind gedämpft. Stetes Plätschern begleitet meinen Weg, überall um mich herum schmilzt der Schee, und das Schmelzwasser rinnt in Strömen von den Dächern der Nekropole. Die Sonne filtert durch die Nebelschleier, die über allem liegem, und scheint auf die Bäume der Alleen. Der Moosbewuchs der Bäume fängt im Sonnenlicht an zu dampfen, was ein seltsames und unheimliches Bild abgibt – als wenn die Bäume den Nebel produzieren.
Besonders gut ist das in Bewegung zu sehen, deshalb hier ein ganz kurzes Video davon:
[wpvideo MnvpoasY]
(Und Yeah, ich habe es endlich geschafft DIESES Musikstück passend in einem Video unterzubringen :-))
Vor dem Friedhof liegt ein Stadtviertel, das fest in asiatischer Hand ist und auf Stadtkarten sogar als Chinatown ausgewiesen wird. Jedes Geschäft ist chinesisch und trägt was mit “Trading” im Namen. Nebeneinander liegen “Hong Trading”, “Heng Trading” und “Feng Trading”. In fast allen Geschäften, darunter viele Nähereien, wird gearbeitet. Der Sonntag ist in diesem Viertel ein Arbeitstag wie jeder andere.
Am Ende von Chinatown liegt der Parco Sempione, ein riesiger Park, durch den heute -ungeachtet der kälte oder des matschigen Bodens- Jogger ihre Runden drehen. Am Kopf des Parks liegt die Sforza-Festung, und jetzt komme ich dazu, ein Ticket für das Museum im Inneren zu lösen.
Das Museum? Die Museen! Für 5 Euro darf man in das Möbelmuseum, die Pinakothek, die Ausstellung für Musikinstrumente, das Porzellanmuseum und das Waffenmusem. Alle sind miteinander verbunden und wirklich GROß, und dennoch nehmen sie nur einen Teil der monumentalen Festung ein.
Die frische Luft, die viele Bewegung und das dauernde Frieren haben meine Akkus schneller leergesaugt als gedacht. Ich bin totmüde, und als ich mich in der Gemäldeausstellung kurz auf eine Bank setze, fallen mir tatsächlich die Augen zu. Als ich wieder hochschrecke sind nur 10 Minuten vergangen, trotzdem muss ich mich langsam beeilen.
Ich habe nämlich noch eine Verabredung mit Nerysim Café Van Bol e Feste, direkt vor der Sforza-Festung. Nerys ist Waliserin und schreibt das Blog “A Welshie in Italy”. Sie ist nach dem Studium nach Italien gegangen und lebt seitdem in Mailand. Ihr Blog ist eine schöne Mischung aus Populärmusikhistorie, Beobachtungen aus dem italienischen Alltag und Wortschatztrainer.
Es ist mir eine Ehre, Nerys auf einen Kaffee zu treffen. Wobei nur sie tatsächlich beim Kaffee bleibt, ich dagegen probiere eine Cioccolata Calda, eine heiße Schokolade. Die ist in Milano dick und süß und klebt überall an den Zähnen und der Zunge. Konsistenz und Geschmack sind etwa so, als hätte jemand ein Glas Nutella erst in die Mikrowelle gestellt und das dann in Tassen gefüllt. Monumental lecker!
Bevor ich andere Blogger oder Bloggerinnen treffe ist mir immer sehr unwohl. Ich kenne einen Teil der Persönlichkeit dieser Leute, nämlich den, den Sie im Netz ausleben. Was, wenn die Person dann “in echt” ganz anders ist und komisch? Gut, ist noch nie vorgekommen, aber vor jedem Treffen bin ich total aufgeregt. Zum Glück geht es Nerys ähnlich, zumindest hoffe ich in dem Moment, dass das der Grund ist, weshalb sie recht wortkarg und einsilbig ist, und nicht der, dass sie den unbekannten Menschen aus Germany, der da vor ihr steht, für einen verschrobenen Stalker hält.
Zumindest freut sie sich ein wenig über das kleine Geschenk, das ich ihr mitgebracht habe. Sie steht total auf Nutella, und war sehr zornig auf Ferrero, als die bei einer Personalisierungsaktion im vergangenen Jahr ihren Namen nicht auf eine Nutellaetikette drucken wollte. Als Grund gab die Firma an, dass “Nerys kein Name sei, und Fantasieworte drucke man nicht auf Labels”. Heute, Jahr später, läuft die Aktion in mit den personalisierten Etiketten in Deutschland, und nachdem ich extra deswegen Nutella gekauft habe und Ferrero Deutschland weniger doof ist, kann ich heute Nerys-Etiketten überreichen.
Manchmal sind es ja schon die Kleinigkeiten, an die man vorher nicht gedacht hat, und die einen ins Stolpern bringen. Bei Nerys ist es so, dass ich wie selbstverständlich davon ausgegangen war, dass sie das feine Oxford-English spricht, das in meinem Kopf klingt, wenn ich ihre Blogbeiträge lese. Das sie einen heftigen, walisischen Akzent hat, der es mir schwer macht sie zu verstehen, daran hatte ich keinen Gedanken verschwendet. Dabei bin ich auch schon bei österreichischen und schweizer Blogger/-innen darauf reingefallen, bei denen ich selbstverständlich davon ausgegangen war, dass sie so hochdeutsch sprechen wie sie schreiben. Nunja.
Nach der Cioccolata Calda gehen wir noch ein paar Schritte durch die Innenstadt und unterhalten uns über das Leben als Ausländer in Italien (bürokratischer Wahnsinn), die kommende Expo (wird nicht rechtzeitig fertig, da sind wir uns einig) und die Eigenheiten der Italiener (“where to start…”). Dann verabreden wir uns für Juni, um zu gucken, wie es dann um die Expo steht. Dann verabschiede ich mich erst von Nerys, dann vom Dom, bevor ich mich auf den Weg zurück in die Viale Zara mache.
Nach dem Essen aus dem Supermarkt heißt es packen. Der große Rucksack wird wieder ordentlich eingeräumt. Ich mag Städtreisen im Frühjahr und Herbst. Leider habe alle großen Städte, die sich mit der Bahn erreichen lassen und für 5 Tage oder mehr Unterhaltungswert bieten, schon durch. Dachte ich zumindest. Tatsächlich gibt es in Mailand superviele Museen und interessante Ausstellungen, hier könnte ich locker eine Woche verbringen. Da diese Sehenswürdigkeiten im Bling-Bling der Geschäfts- und Modemetropole total untergehen, hatte ich das so gar nicht auf dem Schirm. Und deswegen geht es morgen früh in eine andere Stadt: Nach Genua!
2 Gedanken zu „Reisetagebuch MaGenTu (3): Monumental“
Hihi 😉
Ein mickeriges Wieselfoto. Aufgrund dessen Zauberhaftigkeit kann ich das gelten lassen 😀