Reisetagebuch MaGenTu (8): Der schwarze Freitag
Freitag, 13. Februar 2015, Turin
Man muss Turin nicht mögen. Vermutlich will es auch gar nicht gemocht werden, anders kann ich mir die geballte Menge an Totalausfällen hier nicht erklären. Schon bei meinem ersten Besuch, 2012, gab Turin ab der ersten Minute anstrengend. In der hatte ein vorbeischleudernder Geländewagen mein Motorrad um Haaresbreite von der Straße gefegt. Dazu kam, dass in Turin ist jede größere Straße mindestens 30 Meter breit und vierspurig ist und zwei parallele Parkstraßen mitbringt. Das brachte das Navi nachhaltig durcheinander. Und zu guter Letzt gibt es überhaupt keine Zweiradparkplätze. Turin ist halt FIAT, man fährt hier Auto. Die für italienische Städte so typischen Motorroller, die vielerorts den Großteil des Individualverkehrs stellen, sieht man hier nahezu gar nicht.
Der jetzige Besuch ist sozusagen die zweite Chance für Turin, nachdem ich vor drei Jahren beschlossen habe die Stadt vorsichtig unsympathisch zu finden. Vielleicht haben wir uns beim ersten Mal nur auf dem falschen Fuß erwischt? Das ist mir mit Florenz auch so gegangen. Die Stadt hatte sich beim ersten Mal unfreundlich und hässlich präsentiert und stank nach Pisse, aber nach 8 Besuchen in 5 Jahren sind wir heute beste Freunde.
Turin scheint es aber auch in diesem Jahr nicht hin zu bekommen, irgendwie ist hier alles Käse. Gestern steckte ich in einer Personenvereinzelungsanlage fest und brauchte geschlagene fünf Stunden um eine einzige Kirche zu besichtigen, dann erwies sich eine weltbekannte Pinakothek bei genauerem Hinsehen als Zweiraumwohnung mit Aussicht, und heute geht es mit dem Lowperformertum munter weiter.
Um kurz nach 9 Uhr trabe ich auf das ägyptische Museum zu. Es ist die weltweit größte Sammlung ägyptischer Kunst ausserhalb von Ägypten, und die Räumlichkeiten wurden in den letzten zwei Jahren renoviert, was ein reißerischer Internettrailer auch nicht müde wird als “Immortal Experience”, als unsterbliche Erfahrung, zu vermarkten. (Ja, Italiener gehen mit englischen Begriffen ähnlich großzügig und kreativ um wie Deutsche.)
Ich habe geplant, den halben Tag im Museum zu verbringen und freue mich schon seit Wochen auf den Besuch. “Yes, we are Open!” versichern schon Schilder am Bauzaun, “Every day! 08.30 – 19.00!!”, posaunt es von bunten Plakaten. Ich husche durch die Tür des Museums, die mir ein älterer Herr aufhält, dann sehe ich mich in der dunklen Vorhalle um. Überall sind noch Baugerüste. Der ältere Herr lässt eine Salve Schnellfeueritaliensch los, so daß ich lachend die Hände hebe und ihn auf italienisch bitte langsamer zu sprechen und keine komplizierten Worte zu verwenden. “Ach, bitte entschuldigen Sie”, sagt er daraufhin in perfektem Deutsch, “ich habe einen Fehler gemacht. Ich dachte Sie würden hier arbeiten. Das Museum öffnet erst in einer Stunde. Ich muss sie bitten, nochmal draußen zu warten.”
Dem Wunsch komme ich natürlich nach, merkwürdig ist das aber trotzdem. Wozu die ganzen Plakate, wenn doch nicht stimmt was da drauf steht? Sind wir hier in Süditalien, oder was? Aber es wird noch schlimmer.
Eine Stunde später kann ich endlich eine Karte lösen und bin überrascht, dass die nur ein Drittel des Normalpreises kostet. Aber egal. Ich betrete das Museum durch eine große Flügeltür und finde mich… in einem gigantischen Saal wieder, der ganz abgedunkelt ist. Überall stehen in Lichtsäulen ägyptische Statuen, hunderte davon! Das Ganze ist riesig, und in diesem Moment komme ich mir vor, als würde ich das endlose Lagerhaus aus “Indiana Jones” betreten. Sehr beeindruckend!
Als ich näherkomme, merke ich, dass das Ganze ein Schwindel ist.
Es ist ein Spiegelsaal, in dem maximal zwei Dutzend Statuen stehe. Ich gehe einmal durch den Raum und um eine Wand herum und… stehe wieder am Eingang. Moment, habe ich im Dunkeln einen Abzweigung verpasst? Ich wiederhole die Runde und stehe nach dreißig Sekunden wieder an der gleichen Stelle. Ich wende mich an eine Aufseherin und frage, wo der Rundgang weitergeht. Sie zuckt mit den Achseln, zieht die Mundwinkel herunter schnellfeuert italienisch. Ich äußere den Wunsch zur Geschwindigkeitsreduktion und ich verstehe “Der Rundgang liegt vor ihnen. Das ist aktuell alles. Überall sonst wird noch gebaut. Ist noch nicht fertig. Vielleicht im April.”
WTF? “Yes, we are open” meint also, dass die hier EINEINHALB RÄUME triviales GEDÖNS ausstellen?” Ich bedanke mich und ziehe ab, innerlich kochend. Die Verantwortlichen für diesen Quatsch sollte man an den Ohrläppchen aufhängen, denn nirgendwo wird auf die kleine Einschränkung hingewiesen, dass das Museum statt auf 100.000 Quadratmetern gerade nur auf 50 operiert. Hauptsache offen, jaja.
Ich wandere durch die Stadt. Der Himmel ist grau-weiß und lässt keine Sonne durch, es ist nicht mal richtig hell geworden. Heute liegt ein widerlich nasser Dunst über allem. Sowas habe ich noch nie gesehen, denn es handelt sich hier nicht um richtigen Nebel, sondern um einen diffusen Schleier, der allerdings macht, dass man schon den nächsten Straßenzug nur verschwommen sieht und die Welt die Farben verliert. Obwohl es nicht regnet wird man nass, wenn man durch den Dunst geht. Auch Straßen und Wege sind nass. Was für ein krasser Unterschied zum warmen und sonnigen Genua!
Ich wandere ein wenig ziellos durch die Straßen. Erstaunlich, wie kaputt und verottet das angeblich so reiche Turin abseits der Prachtstraßen ist. Überall sind Risse und tiefe Schlaglöcher in den Straßen, an deren Ränder Häuser verfallen. Das ist kein Charme, der zum Stadtbild gehört, wie die überall blätternde Farbe wie in Genua, sondern echter Verfall.
Dann stoße ich auf ein Schild: Cimitero Monumentale, Monumentalfriedhof. Na, wie passend. Klingt zwar morbide, aber dann habe ich in allen drei Städten dieser Reise einen Friedhof besucht. Warum auch nicht – ich habe heute kaum anderes vor, und auf einem Friedhof geht einem wenigstens keiner auf den Sack.
Der Monumentalfriedhof von Turin ist flächenmäßig gigantisch. Ich betrete das Gelände durch den Haupteingang und stehe vor dem Plan, den ich als erstes abfotografiere, damit ich ihn als Karte dabei habe.
Ich bin noch nicht damit fertig, als ich hinter mir Schritte höre und sich eine Hand auf meine Schulter legt. “Non fai di fotos senza autorizzatione! Hai di documenti? Autorizzatione?” Ich stehe einem älteren Wachmann gegenüber, einem Schrank von einem Kerl. “Braucht man hier ERNSTHAFT eine Genehmigung um Fotos zu machen?”, frage ich verblüfft. “WENN DU KEINE ERLAUBNIS HAST MACHST DU HIER NIX FOTOS!” sagt der Wachmann sehr laut und sehr deutlich auf italienisch.
Vor mir steht die Verkörperung der Bürokratie, ein Mann an den Hebeln seiner Macht. Ich entschuldige mich wortreich und schwöre, dass ich verstanden habe und nie mehr Fotos hier machen werde und bitte ihn um Nachsicht, dass ich nur ein dummer, deutscher Tourist bin der nichts falsch machen wollte. Er mustert mich einen Moment, brüllt nochmal “Keine Fotos, OKAY?”, dann grunzt er und dreht ab.
Eine Fotoerlaubnis für einen Friedhof? Ja, spinnen die Turiner denn total? Gut, die werden auch noch merken, dass sie in den Zeiten des Kontrollverlustes leben. Bilder sind auch nur Daten, und Daten finden immer ihren Weg. Später lese ich, das die Friedhofsverwaltung sogar das Netz abgoogelt, und gegen Veröffentlichungen von Bildern des Friedhofes vorgeht. Das ist in mehrfacher Hinsicht albern. Zum einen stört das die Totenruhe nicht im geringsten, zum anderen ist der Friedhof auf geradezu groteske Weise langweilig.
Das Gelände ist in mehrere Teile untergliedert, die sich krass voneinander unterscheiden. Der vordere linke Teil ist eine Nekropole aus der Zeit um die Jahrhundertwende, dahinter kommt ein ultrahässlicher Betonbauteil mit Massenossuarien ausden 1960er-80er Jahren, die auch heute immer weiter befüllt werden. Danach kommt ein sehr alt und vewunschen aussehender jüdischer Friedhof, und dahinter… eine moderne Nekropole, in der fast alle Grabstätten aus grauem Granit sind, schmucklos und trostlos. Das passt zum Rest des Eindruck.
Kilometerweit ziehen sich die Wege über den Friedhof, gesäumt von grauen Bauten, die sich irgenwo im grauen Dunst verlieren. Das hier ist trostlos, im wahrsten Sinne des Worts: Hier finde man keinen Trost. Auf Staglieno in Genua wird die Trauer in teils bestürzenden Bildern dargestellt, aber in jeder einzelnen Szene wird deutlich, dass das nur ein temporärer Zustand der Hinterbliebenen ist. Ja, man trauert um den Verstorbenen, man trauert darum, dass sich die Wege getrennt haben. Aber das Leben geht weiter, und der Tod ist nur eine weiter Tür, die wir alle früher oder später durchqueren. Das ist eine tröstende Botschaft, und durch die teils frivole Darstellung zelebriert sie das Leben mehr als den Tod. Staglieno bietet eine Botschaft mit einer Katharsis.
Turin ist da anders. Turin ist einfach ein grauer Klotz, der Trauer kultiviert und dieses Gefühl mit Betonschuhen am Grunde eine Sees aus Tränen versenkt und nie wieder raus lässt. Ich muss unweigerlich an Despair denken, die personifizierte Verzweifelung aus Neil Gaimans Sandman Geschichten. Despair wird als kleine, mißgestaltete und übergewichtige Frau portraitiert, die einen Ring mit einem Haken trägt. Mit diesem reisst sie sich alte Wunden immer wieder auf, während sie allein in einem endlosen Raum voller klammem Nebel sitzt, in dem tausenden von Spiegeln schweben, die alle ein Pendant in der realen Welt haben. Wenn Menschen in einen Spiegel blicken, kann es sein, dass ihnen Verzweifelung entgegenblickt.
Vermutlich hat Gaiman die Inspiration zu Verzweifelung in Turin gehabt, denn das hier ist die Realversion von Despairs Reich. Schlimm. Abgesehen mal davon, dass hier wirklich nahezu alles hässlich ist. Von den wenigen Figuren, die zu sehen sind, kommen die aufwendigsten nicht an die simpelsten auf Staglieno heran.
Fast drei Stunden wandere ich über das riesige Areal, dann verlasse ich diesen grauen Ort. Der Wachmann von vorhin ist nicht zu sehen. Das ist auch gut so, ich hätte nämlich damit gerechnet das er die Kamera prüfen will. Hätte er ruhig tun können. Die Speicherkarte in der Kamera enthält genau ein Bild, und das zeigt mein rechtes Nasenloch, in Großaufnahme. Die Karte mit den Bildern vom Friedhof steckt in meinem rechten Schuh.
Zurück in der Innenstadt gucke ich mir ein wenig die Hauptplätze an. Der Palazzo Reale ist groß und hat eine schöne Fassade, aber im Innenhof aus Backstein versprüht er den Charme einer Großbäckerei.
Mitten in der Stadt steht eine groß Burg, auf deren Rückseite man einen griechischen Tempel geflanscht hat.
Ansonsten gibt es nur ein Modehaus am nächsten. Da mein Hirn Klamottenläden einfach so wegfiltert, besteht die Innenstadt von Turin nur aus grauem Rauschen.
Die nasse Kälte steckt mir in den Knochen, und ich fahre zu dem Ort, der mir gestern als total überheizt aufgefallen ist: Der Lingotto. Hier streife ich durch das Einkaufszentrum, das eine ganze Etage einnimmt. Auch hier viel graues Rauschen, aber ab und an ein kleines Geschäft mit Dingen, die auch mich interessieren.
Als ich wieder aufgewärmt bin, fahre ich zurück in die Stadt und begebe mich ein weiteres Mal ins Reich des irren Architekten.
Die Mole Antonelliana ist ein so absurdes Gebäude, dass es eigentlich nicht existieren dürften. Eine unkontrolliert gewachsene Synagoge, an der der Architekt nicht aufhörte rumzubauen, bis sie das größte Backsteingebäude Europas war und auf ihrer Spitze einen griechischen Tempel trug. Die ganze Geschichte habe ich HIER schon einmal aufgeschrieben.
Das Innere des unwirklichen Gebäudes ist ein Tempel, komplett mit Götzenstatue und allem drum und dran. Ein Tempel, der dem Kino geweiht ist – den Leinwandlegenden, den großen Streifen, den Machern dahinter, dem filmischen Handwerk und der Geschichte der bewegten Bilder.
Es ist das nationale Filmmuseum. Das wollte ich eigentlich nicht besuchen, weil ich mich da bei meinem ersten Besuch schon lange rumgetrieben habe, aber ich habe ja sonst nicht zu tun. Abgesehen davon gibt es einen gläsernen Lift, der einen durch die riesige Kuppel trägt und auf´s Dach bringt, und so kann ich Turin um Dunkeln und von oben sehen.
DENKSTE! Das Lowperformertum geht weiter. “Wir informieren die verehrten Gäste, dass aufgrund unvorhersehbarer Wartungsarbeiten der Panormalift ausser Funktion ist”. Damit ist es amtlich: In Turin funktioniert im Februar ÜBERHAUPT NICHTS. Die Stadt will nicht besucht werden, und man sollte sie besser in Ruhe lassen und sie und die miesepetrigen Einwohner in ihrem grauen Dunst sitzen lassen.
Wenigsten ist das Filmmuseum ein Erlebnis. In den vergangen drei Jahren hat sich viel verändert. In der unteren Etage wird immer die Geschichte der bewegten Bilder erzählt und in der ersten Etage auf bizarre Weise dem klassischen Film gehuldigt. Es gibt einen “Tom&Jerry-Raum, in dem in einem Mäuseloch Cartons laufen. Oder ein Bett, in das man sich legen kann, und über dem Liebesfilme an der Decke laufen. Außerdem gibt es teils triviale und teils interessante Exponate zu bewundern.
Der Museumsrundgang ist ganz neu. Er thematisiert, passend zum 100jährigen, die Rolle von Fotografie und Film im ersten Weltkrieg. Die noch neuen Techniken wurden erstmals im Krieg für Propgandazwecke und zur Desinformation eingesetzt.
Außerdem sind bewegende Zeitdokumente entstanden. Es sind Bilder und Filme von Italienern zu sehen, die in den “weißen Krieg” in die Alpen ziehen, die im Grabenkrieg gegen die Österreicher aufgerieben werden und die schließlich als “Kriegsidioten” zurückkehren: Chemiewaffen haben die Nervensysteme und Hirne geschädigt, die Männer können nicht mehr lesen, kaum noch sprechen und leiden an unkontrollierbaren Spasmen. Das alles ist in Filmen dokuemtiert. So eindrücklich habe ich den ersten Weltkrieg noch nie gesehen. Natürlich musste auch ich in der Schule Remarques “Im Westen nichts Neues” lesen, aber mehr als das schreiende Pferd weiß ich davon nicht mehr.
Nachdenklich verlasse ich das bizarre Gebäude. Museen können Wunder bewirken, können Lernschübe freisetzen und Erkenntnisse mitten im Hirn explodieren lassen. Dafür liebe ich gut gemachte Museen und Ausstellungen. Der Besuch der Mole wird mich noch verfolgen, und unmittelbar nach meiner Rückkehr nach Deutschland werde ich anfangen, viel über den ersten Weltkrieg zu lesen und mir das Thema umfassend anzueignen.
Für heute wandere ich noch ein wenig durch die dunklen und feuchten Straßen des kalten Turin. Heute hat echt gar nichts geklappt. Ein schwarzer Freitag. Aber egal. Morgen geht es nach Hause.
Ein Gedanke zu „Reisetagebuch MaGenTu (8): Der schwarze Freitag“
Zuhause ist ja auch schön! Grüße vom Flughafen Stockholm 🙂 (Wenn du mit Italien fertig bist oder mal Abwechslung wünschst: Stockholm (& Göteborg & Malmö), Helsinki, Kopenhagen! Sehr empfehlenswert.)