Reisetagebuch MaGenTu (9): Der Weg nach Hause

Reisetagebuch MaGenTu (9): Der Weg nach Hause

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Samstag, 14. Februar 2015, Turin

Ehe ich mich versehe ist die letzte Nacht in Italien rum, und acht Tage sind schon wieder vorbei. Es ist erst kurz vor sieben Uhr und noch dunkel, als ich auf Straße hinaustrete. Den großen Rucksack geschultert, laufe ich durch den Turiner Nieselregen. Außer mir sind lediglich einige Lieferanten unterwegs, die unter Verursachung von möglichst viel Krach ihre Waren vor den Geschäften abladen.

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Es regnet, die Temperatur ist knapp über Null, was zusammen das ergibt, von dem ich mittlerweile schon als “Turiner Wetter” denke: Klammer, kalter Nebel, der über Allem liegt. Kein Wunder, dass die Einwohner von Turin mit versteinerten Mienen durch die Gegend laufen. Das sind sieben-Tage-Regenwetter-Hackfressen.

Ich habe keine schlechte Laune, ich bin nur gespannt, ob die Heimfahrt wohl klappt. Mehr als 1.000 Kilometer bin ich weg von zu Hause, und die Tagesaufgabe lautet, diese Strecke in drei Zügen zu überwinden. Oder mit drei Zügen, besser gesagt. Das fühlt sich an wie eine Challenge.

Skurriler Pavillion.
Skurriler Pavillion.
Leere Gänge im Seitenflügel des Bahnhofs.
Leere Gänge im Seitenflügel des Bahnhofs.
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Im Inneren des Bahnhofs herrscht schon ganz gut Betrieb.
Im Inneren des Bahnhofs herrscht schon ganz gut Betrieb.
Mein erster Zug an diesem Morgen ist sogar pünktlich. Ein Frecciarossa, “Roter Pfeil”, das Aushängeschild von Trenitalia. Dieser Zug fährt in sechs Stunden quer durch Land, von Turin über Mailand nach Neapel, mit Halt in Florenz und Rom.

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Die Ausstattung der Züge ist bemerkenswert. Das fängt schon beim Einstieg an. Es gibt vor dem eigentlichen Passagierabteil große Gepäckregale, in denen man seine Koffer verstauen kann. Betritt man den Passagierraum, fällt die durchdachte Nummerierung auf. Statt, wie anderswo üblich, fortlaufende Platzzahlen für den Wagon zu verwenden, gibt es im Freccia eine Einteilung wie im Kino. Man sucht sich Reihe 5, dort gibt es dann die Sitze A bis D. Das erspart das Durcheinander wie bei der DB, wo man immer erst hektisch links und rechts gucken muss, und auch schon mal die Nummerierung so durcheinander geht, dass Platz 43 hinter Platz 54 ist. Jede Reihe ist einer gegenüberliegenden zugewandt, so dass man immer zu viert an einem Tisch sitzt.

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Hat man dann in einem in einem der lederbezogenen Sessel Platz genommen, fällt zunächst die enorme Beinfreiheit auf. Während man im ICE der Deutschen Bahn ab Schuhgröße 40 unfreiwillig mit dem Gegenüber füßelt, kann man hier bequem mit übergeschlagenen Beinen sitzen und sogar einen Rucksack unter den Tisch stellen. Der Tisch selbst lässt sich an den Kanten für jeden Platz einzeln hochklappen und bietet für jeden eine Steckdose. Über den Reihen ist eine Gepäckablage, die den Namen auch verdient: Anders als bei der Bahn passen hier auch dicke Koffer rein, nicht nur Handgepäck.

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Als der Zug anfährt, wird auf einem großen Bildschirm im Gang die aktuelle Geschwindigkeit angezeigt, im Wechsel mit einer Landkarte, die die Position des Zugs und des nächsten Ziels in Echtzeit anzeigt, sowie einem Blick aus den Bordkameras vorne und hinten am Zug.

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Der Frecciarossa fetzt mit bis zu 270 Sachen durch die Landschaft, ist im Inneren nicht zu merken. Ganz ruhig gleitet der Zug dahin, während das Personal in Aktion tritt. Erst kommt ein Zugbegleiter durch die Gänge und fragt, ob man etwas lesen möchte. Er will nicht verkaufen – man kann sich eine Tageszeitung aus seinem Kioskwägelchen kostenlos aussuchen.

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Wenig später kommt ein zweiter Wagen vorbei, der kalte Getränke, Kaffee und Frühstück verteilt. Natürlich italienisches Frühstück, also lediglich eine Tüte Kekse und ein Caffé, aber das gehört alles mit zum kostenlosen Service. Genau wie das WLAN, dass allen an Bord zur Verfügung steht, funktioniert und schnell ist. Ebenfalls zum Service gehört der Dritte Wagen, der kurze Zeit später vorbeikommt und den Müll vom Frühstück abräumt. Schon nach einer Stunde sind die 190 Kilometer zwischen Turin und Mailand vorbeigerauscht, und der Zug läuft in den Bahnhof von Mailand ein. 190 Kilometer kosten bei der Deutschen Bahn um die 70 Euro Euro. Ich habe für mein Ticket im Frecciarossa 9 Euro bezahlt.

Modell des Bahnhofs von Mailand: Ein wuchtiger Bau im Stil des italienischen Arte Novicento, des Faschistenstils.
Modell des Bahnhofs von Mailand: Ein wuchtiger Bau im Stil des italienischen Arte Novicento, des Faschistenstils.
Die lange Querachse, an der zahllose Unterwäschegeschäfte um Kundschaft buhlen.
Die lange Querachse, an der zahllose Unterwäschegeschäfte um Kundschaft buhlen.
Der erste Teil wäre also schon einmal geschafft. Jetzt habe ich zweieinhalb Stunden Aufenthalt. Das wäre auch anders gegangen, aber diese Zeit habe ich als Notfallpuffer eingeplant. Immerhin haben wir Februar, Turin und Mailand sind in Alpennähe, und es hätte sein können, dass das Wetter die “Starker Schneefall”-Karte spielt.

Für den Fall, dass der Frecciarossa ausgefallen oder verspätet wäre, wären in der Zeit noch zwei andere Züge von Turin nach Mailand gefahren. Die letzten Wochen hatte ich den Frecciarossa in der App von Trentitalia beobachtet und war erstaunt, dass er selbst bei Unwetter und starkem Schneefall auf der Strecke selten mehr als 5 Minuten Verspätung hatte. Bei der deutschen Bahn wäre das schlicht undenkbar.

Notiz für mich selbst: An diesem Kiosk gibt es Busfahrkarten für de Fahrt zum Flughafen.
Notiz für mich selbst: An diesem Kiosk gibt es Busfahrkarten für de Fahrt zum Flughafen.
Draußen regnet es in Strömen, und die Kinkerlitzchenhändler haben in Sekunden ihr Sortiment von billigen Schals und klebrigem Spielzeug auf klapprige Regenschirme umgestellt. Ich wandere durch den kalten und zugigen Bahnhof, den großen Rucksack auf dem Rücken.

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Auch in Mailand: Ein Klavier am Bahnhof.
Auch in Mailand: Ein Klavier am Bahnhof.
Im McCafé halte ich mich so lange an einem Caffé fest, bis mir der Rausschmeißer komische Blicke zuwirft. Ich bin nicht der einzige, der nicht wegen des Essens hier ist. Eine Menge Leute sitzen hier augenscheinlich weil es 1. Warm ist und 2. Strom gibt. Lange Tresen bieten Einzelplätze, von denen jeder eine Steckdose hat. Regelmäßig klopft der Rausschmeißer den Leuten dort auf die Schulter und erklärt, dass man doch bitte zuerst was kaufen solle, bevor man seine Ladegeräte einsteckt. Ja, Smartphones haben die Welt verändert, auch die Inneneinrichtung von Restaurants.

Im McCafé gibt es lange Tische mit Steckdosen.
Im McCafé gibt es lange Tische mit Steckdosen.
Ich drehe mehrere Runden durch den Bahnhof und vervollständige die geistige Landkarte. HIER sind die Toiletten, die weniger überlaufen sind als die an den Gleisen und HIER ist die Gepäckaufbewahrung versteckt und DORT ist eine Ecke, in der wenig los ist und es nicht zieht. Wieder bin ich froh, dass ich die Fleecedecke dabei habe, sonst würde ich mir auf der steinernen Bank den den Hintern ab- und andere Teile der anatomie geradewegs in eine Blasenentzündung hineinfrieren.

Wieder leistet die Fleecedecke gute Dienste, diesmal als Sitzkissen auf dem kalten Marmor.
Wieder leistet die Fleecedecke gute Dienste, diesmal als Sitzkissen auf dem kalten Marmor.
Riesig, der Bahnhof.
Riesig, der Bahnhof.
Originell: Werbekampagne mit Models und ihren Omas. Hat zuletzt Helmut Newton mit Brigitte Nielsen gemacht, und das war 1986.
Originell: Werbekampagne mit Models und ihren Omas. Hat zuletzt Helmut Newton mit Brigitte Nielsen gemacht, und das war 1986.
In der Wartehalle spielen alle das italienische Bahnhofsspiel. Das geht so: Die Züge haben keine festen Gleise, von denen sie abfahren. Stattdessen werden die Züge auf einer großen Anzeige aufgelistet, und alle Fahrgäste stehen davor und glotzen darauf. Erst wenige Minuten vor der Abfahrt taucht das Gleis hinter der Zugnummer auf, und dann setzt eine Stampede ein und ein Teil der Wartenden stürzt los. Manchmal erscheinen die Gleisangaben für zwei Züge auf einmal, und dann stürzen die Leute in unterschiedliche Richtungen auseinander und rennen sich gegenseitig über den Haufen. Ich bin da entspannt, die Trenitalia-App hat mir schon verraten, dass der Zug -wie immer!- auch heute auf Gleis vier abfährt. So kommt es dann auch, und der Eurocity verlässt pünktlich den Bahnhof. Ciao, Milano!

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Die Fahrt geht nach Norden, an den großen Seen entlang, durch lange Tunnel und schließlich in die Schweiz, die immer noch dick verschneit ist und wie eine Modellanlage aussieht.

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Der Zug endet im schweizerischen Teil von Basel, und mangels Verspätung habe ich hier wieder eine dreiviertel Stunde Aufenthalt. Zu gerne würde ich in einem der Supermärkte etwas zu essen kaufen, aber seit der Entkoppelung des Franken vom Euro vor einigen Wochen kann man sich als deutscher Durchschnittsverdiener die Schweiz schlicht nicht mehr leisten.

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Selbst ein labbriges Stück Toastbrot kosten im Migros 3,95 Franken. Ich war immer stolz auf meine Fähigkeiten im Kopfrechnen und überschlage kurz, was der Minisnack in Euro wert ist: 3,95 Franken entsprechen nach aktuellem Wechselkurs rund 47 Euro und 63 Cent. Nein, da warte ich lieber noch bis wir wieder in Deutschland sind. Als ich an einer Gärtnerei vorbeikomme, muss ich lachen: Das “Sonderangebot Tulpen”, 20 Stück zu 24 Franken, ist in Euro soviel wert wie eine Monatsmiete in Deutschland, nämlich 987,85 Euro.

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Bis hier her ging alles reibungslos, und ich bin gespannt, wie die Deutsche Bahn es verkacken wird. DAS sie es verkackt steht außer Frage, nur das Ausmaß der Katastrophe ist unklar. Denke ich so bei mir, als ich im bereits wartenden ICE der DB Platz nehme. Meinen Lieblingsplatz, um genau zu sein: Nummer 71. Der beste Platz im ganzen Wagen, denn das ist der einzige Einzelplatz ohne Nachbarsitz. Das heisst: Platz, geringe olfaktorische und verbale Belästigung und eine Steckdose ganz für mich.

Ich klappe das Netbook auf und schreibe diesen Blogeintrag, während draußen matschige Landschaft um Freiburg vorbeifliegt, die farblich an gekochten Wirsingkohl erinnert. Tatsächlich passieren keine größeren Katastrophen mehr, und mit nur 5 Minuten Verspätung läuft der ICE um kurz nach 21 Uhr in Göttingen ein. Wenig später brüllt der Wirt des besten türkischen Restaurants “Arkadashim! Bist Du wieder da! Nasil sin?!”, als ich durch die Tür trete. Der Dönerteller nach dem Ende einer Reise ist mittlerweile nämlich auch Tradition.

Das war sie also, meine Winterreise 2015. Ich gucke mir um diese Jahreszeit ja gerne Städte an. Vor einem Jahr war ich zu dieser Zeit in London, davor in Barcelona, 2012 in Venedig. Statt einer Stadt habe ich mir nun in 8 Tagen gleich drei angesehen und ein gutes Gefühl dafür bekommen, wie die so ticken.

Da war zunächst Mailand, das eine glitzernde Wunderwelt und Bussiness pur ist. Alles ist Fassade, darauf aufgerichtet zu verkaufen – egal ob Luxusartikel, Mode, Aktien oder Versicherungen. Das Zentrum von Mailand ist ein großes Getümmel, in dem jeder auf der Jagd nach etwas ist – dem nächsten Deal, dem perfekten Kleid, dem nächsten Abschluss. Nur das Neue ist gut, altes wird gnadenlos entsorgt.
Die Menschen sind alle sehr fokussiert, immer in Eile, nur zur Zeit des Aperitivo entspannt man sich ein wenig – aber auch das streng nach Zeitplan.

Das Herz und Zentrum ist Business, und zum Rand hin franzt Mailand aus – historische Bausubstanz weicht den Betonwüsten von Milano Due, einem Projekt von Berlusconi, dem die Stadt gehört. Hier leben die, die beim bei der Hatz der Businesswelt nicht mitmachen dürfen oder wollen. Je weiter man nach Außen geht, desto unwirtlicher wird Mailand.

Dann war ich in Genua, in vielen Punkten das genaue Gegenteil von Mailand. Eine Stadt, die schon im Zentrum runtergekommen aussieht, und diesen Eindruck auch liebevoll kultiviert, dabei pulsiert in ihr aber das Leben mit allen Facetten. Wo Mailand glitzernde Oberfläche ist, die nur den Jagdinstinkt verdeckt, ist Genua eine pulsierende, lebendige Welt, die sich keine Mühe gibt Fassaden zu errichten oder diese zu pflegen. Die Farbe blättert, daber das Leben blüht, und selbst in den zersiedelten Randbereichen hat jede Wohnung in jedem Betonsilo einen schön geschmückten Balkon mit Sonne und Berg- oder Meerblick.

Schließlich Turin, die nasse, kalte Autostadt, in der nichts funktioniert. Im Zentrum ähnlich auf Mode fixiert wie Mailand, aber mit einer Spur mehr Bewusstsein für Geschichte. Für eine so große Metropole ist Turin erstaunlich heruntergekommen, kaum zwei Schritte aus der Innenstadt fallen ganze Häusermauern in sich zusammen. Die Menschen rennen oder, in den meisten Fällen, fahren wie die Roboter durch die breiten Straßen, die wenig grün oder Abwechselung bieten. Ein Relikt der Industrialisierung, schnell aufgestiegen, jetzt im Niedergang.

Sollte ich die Stationen dieser Reise in je einem Wort zusammenfassen, so wären das
1. Glitzer, (Mailand)
2. Sonnig, (Genua)
3. Trostlos. (Turiin)

Wert war es das Ganze allemal. Ich mag es, mich in Städten auszukennen, und meine innere Landkarte von Turin, Mailand und Genua ist jetzt komplett. Freiwillig würde ich nur in Genua noch einmal Urlaub machen, allerdings wird das nicht mein letzter Besuch in Turin und Mailand gewesen sein. In Turin muss ich noch ins ägyptische Museum, und in Mailand besteht eine Einladung zu einen Aperitivo, die ich in vier Monaten schon annehmen werde.

Aber für heute war es das erst einmal. Das Reisetagebuch vom Februar 2015 schließt sich, und ich danke allen die freiwillig mitgereist sind.

Und weil er so schön ist, hier nochmal der Trailer. An diese Orte ging es in den vergangenen Wochen:

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Februar 2015: MiGenTu

6 Gedanken zu „Reisetagebuch MaGenTu (9): Der Weg nach Hause

  1. Schade das es vorbei ist … Auch wenn ich einen Teil der Bilder und Geschichten schon gesehen und gehört hatte, war es noch mal toll, es so liebevoll aufgeschrieben zu lesen.

    Kleine Verwirrung bleibt aber zur heutigen Folge: der Franken liegt doch nur so um 1,10 pro Euro, das Toastbrot würde also nur ca. 3,65 € kosten. Im Februar lag der Kurs auch nur um zwei Cent von heutigen weg … huh?

  2. @Zimt: Ja, die kommt, ich weß nur noch nicht wann.

    @Kalesco: Lissabon würde ich auch gerne mal sehen! Aber die Bahn braucht bis dahin so lange 🙂 und im Norden ist es mir zu Brrrrr.

    @Modnerd: Ich hatte das vorher sogar noch gedacht, dass ich zum Baumhaus müsste – und es dann schlicht vergessen. Sollte ich mich jemals wieder in die Autstadt trauen (wird bestimmt der Fall sein, unfinished Business Ägyptisches Museum) werde ich da auf jeden Fall vorbei gucken.

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