Motorradreise 2015 (5): Der Wind der Unterwelt
Sommerreise mit dem Motorrad. Schon seit einigen Tagen hänge ich an der etruskischen Küste rum, und genieße die Ruhe einer Ferienwohnung auf “I Papaveri”.
Samstag, 13. Juni 2015, San Vincenzo, Toskana
Die vergangenen zwei Tage sind einfach so vorbeigeflattert. Einen Tag war Rumliegerei am Strand angesagt, am Tag danach sind alle Pläne für den Tag geplatzt: Eigentlich wollte ich zu einem Ziel in den Bergen nördlich von Pisa, hätte das aber aufgrund des morgendlichen Berufsverkehrs in Lucca nicht rechtzeitig erreicht. Ein veritabler Sturm machte dann Plan B (am Strand rumliegen) zu nichte, so dass ich mich gezwungen sah einfach auf “I Papaveri” rumzulungern, zu lesen und auch sonst zu entspannen.
Heute Morgen gibt es keinen Sturm, und ich habe es allen Ernstes geschafft mich um Fünf! Uhr! Dreissig! aus dem Bett zu quälen. Schon um 06.00 Uhr ist das Motorrad auf der Landstraße unterwegs. Es geht über die weiten Hügel vor Pisa, durch die Stadt Lucca hindurch und dann weiter in die Berge der Region Garfagna. Obwohl es früh ist, ist schon gut Verkehr auf den Straßen – zum Glück gibt es in Lucca aber noch keinen Stau.
Je weiter es nach Norden geht, desto kleiner werden die Straßen. Die Strada Statale wird zu Landstraße, die Landstraße wird zur Dorfstraße, die Dorfstraße wird zum bröseligen Bergweg mit Haardnadelkurven. Als ich um die letzten Spitzkehren zirkele, bin ich endlich am Ziel: Nach fast drei Stunden und 160 Kilometern habe ich die Grotta del Vento erreicht, der Höhle des Windes.
Den Beinamen “Windhöhle” tragen zwar auch die Frassassi-Höhlen in den Marken, aber bei dieser Windhöhle hier windet es so richtig, und zwar schon sehr lange. Schon vor 250 Jahren wussten die Bewohner des nahegelegenenen Bergdorfes, dass es weiter oben am Berg eine Felsspalte gab, aus der kalte Luft herausrauschte. Mit 40km/h saß da sogar ordentlich Druck dahinter. Praktisch veranlagt wie das Bergvolk hier ist, baute man einen Kühlschrank daraus: Verhau rund um Felsspalte, leicht verderbliche Speisen rein, Zack, Feddich, Kühlschrank.
Erst im Jahr 1800 kamen ein paar Teenager auf die Idee mal nachzugucken woher der Wind eigentlich kommt. Sie überredeten Betta, ein vierjähriges Mädchen, in den winzigen Spalt zu klettern. Betta kam zwar nicht weit, berichtete aber von einem Gang, den sie im Dunkel zu sehen glaubte.
Nachdem die Teenager ordentlich Schelte dafür bekommen hatten ein kleines Kind in Lebensgefahr gebracht zu haben, gruben die Bergbewohner halbherzig in der Spalte herum.Nachdem man einen Gang von 30 Metern Länge freigelegt hatte, ging es erstmal nicht mehr weiter, und weil das jetzt alles nicht mehr so fürchterlich interessant war, schob man einfach wieder den Kühlschrank vor den Eingang und ließ die Sache auf sich beruhen. So ist das manchmal, wenn man die Wahl zwischen Wissenschaft auf der einen Seite und einem kühlen Bier auf der anderen hat.
Erst 1929 wurde der Höhleneingang wiederentdeckt, und nun reisten Speleologen aus dem ganzen Land an und machten sich an der Höhle zu schaffen. Stück für Stück entdeckten sie immer neue Teile, auch wenn es häufig so aussah, als ging es nicht weiter, denn große Teile der Höhlengänge lagen unter Wasser, und diese Syphone machen das Vorankommen in absoluter Dunkelheit sehr schwer.
Wie betäubend die Dunkelheit sein kann, davon kann ich mich bei einem Experiment selbst überzeugen. Als unsere Gruppe tief im Berg ist, schaltet der Führer einfach das Licht aus.
Ich habe eine der seltenen 3-Stunden-Führungen gebucht (die findet nur um 9 Uhr statt, deshalb das frühe Aufstehen!) und klettere mit 5 anderen Mutigen in Bereichen der Höhle herum, die die meisten anderen Besucher nicht zu sehen bekommen. Die kurzen Touren decken nur den Bereich der Tropfsteine ab, aber die lange Tour zeigt den Besuchern auch die anderen Seiten einer Höhle: Verschlammte Räume, endlos tiefe Abgründe, schmucklose Steinhallen und Wände mit Vorsprüngen und Ablagerungen, von denen jede einzelne wie ein Messer hervorsteht und genauso spitz ist.
Wir sind in den vergangenen Stunden schon über 30 cm schmale Betontreppen balanciert, haben uns unter nur 60 cm hohen Öffnungen hindurchgeduckt, sind an Felsnadeln entlanggetippelt und sind einen hundert Meter hohen Schacht hinaufgeklettert, an dessen Spitze eine natürliche Brücke ist. Neben dieser glitschigen Felsbrücke wurde eine schmale Betonbrücke gebaut, mit einem zierlichen Geländer, und auf der steht unsere winzige Gruppe, und plötzlich ist das Licht weg. Einfach weg.
Der Körper erwartet, dass die Augen sich irgendwann gewöhnen und zumindest irgendein Input reinkommt, aber das passiert nicht. Hier unten gibt es keinen Lichtstrahl, keine Reflexion, nirgendwo. Stattdessen unablässiges Plätschern und das Tropfen von Wasser, von überall her. Nach zwei Minuten desorientiert mich das total. Ich stehe in einer Echokammer und bin vollkommen blind, und das schlägt irgendwie auf den Gleichgewichtssinn und lässt mich schwanken.
Gütigerweise geht das Licht wieder an und die Führung weiter. Die Höhle hat wirklich viel zu bieten. Die Tropfsteine und Sintervorhänge sind riesig und hängen oft mitten in den Weg hinein. Eine faszinierende Erfahrung, obwohl unser Guide ein ziemlich lustloser und trockener Typ ist und er nur auf italienisch erläutert, während ich einem Audioguide auf deutsch lausche. Ich verstehe zwar recht viel auf italienisch, aber halt nicht alles.
Imposant ist die Führung allemal: Es geht in schwindelerregend hohe Säle, tiefe Kamine und am Ende sogar an einen unterirdischen Flusslauf, der auch als Therapiezentrum für Allergiker/-innen genutzt wird.
Nach drei Stunden ist alles vorbei und ich nehme die “Panoramastraße” aus den Bergen heraus. Warum die so heisst, erschliesst sich mir nicht. Sie ist eng, kurvenreich und hinter jeder Kurve mit Geröll übersät, schneller als max. 20 und im zweiten Gang fahre ich hier nicht. Aussicht gibt es auch nicht, weil Berge und Bäume davor sind. Nicht mal das GPS funktioniert hier.
Trotzdem finde ich irgendwie nach Barga. Das ist ein putziger, kleiner Ort in der Garfagna. Barga beherbergt auch eine große Kolonie britischer Rentner. Wirft man hier einen Stein in die Luft, fällt er auf einen Briten. Oder eine Britin. Oder deren Enkelinnen, die Oma besuchen. Barga ist nämlich ein Paradies für betuchte, britische , überwiegend weibliche Expats (“Expatriots”, so nennt man die Auswanderinnen), die sich hier in Horden niedergelassen haben und skurriler Traditionen wie Bridge fröhnen. Aber sie fördern die Kultur, indem sie als Mäzenen Künstler fördern oder allerlei Musikfestivals nach Barga holen.
Ich könnte mir jetzt noch den Pinocchio-Park in Collodi ansehen, überlege es mir dann aber anders. Heute ist es zu warm, und morgen soll das Wetter schlecht werden -also ab an den Strand!
Der Weg dahin führt leider über und durch Pisa, und wenn man in Pisa eines nicht kann, sind das Straßen. Im Ernst. Kommste über die Ortsgrenze, Zack, alle Straßen kaputt. So tiefe Schlaglöcher, das kleine FIATs auf Nimmerwiedersehen darin verschwinden. Flicken, die zentimeterhoch auf der Straße stehen. Fahrbahnstückelungen, zwischen denen 10 Zentimeter breite Risse klaffen. Und obwohl es das nicht bräuchte, weil man hier echt nicht schnell fahren kann, gibt es alle 100 Meter noch Geschwindigkeitshuckel.
Außerhalb der Stadt ist es ähnlich schlimm, und auch hier haben die Pisaner den einfachen Weg gewählt: Statt die Straßen ordentlich zu machen, einfach Tempo 30 Schilder aufgestellt. Ich grolle lautstark in meinen Helm und entschuldige mich im Stillen beim Motorrad, wenn das Vorderrad wieder in eines der Schlaglöcher kracht. Ich kann leider nicht alle umfahren, dazu sind es zu viele.
Zum Glück nimmt die Maschine keinen Schaden. In Castagneto Carducci stelle ich die Kawasaki im Schatten von Palmen ab und lege mich an den Strand. Nach fast sieben Stunden Fahrt wiegt mich nun das Rauschen des Meeres schnell in den Schlaf, und ich werde erst wieder wach, als der Abendwind langsam kühler wird.
Ein guter Tag.