Motorradreise 2015 (8): Unter der Haut
Sommerreise mit dem Motorrad.. Heute: Gruselige Bilder von unter der Haut.
Wirklich. Gruselig.
Zartbesaitete Naturen sollten diesen Eintrag im Reisetagebuch überspringen.
You have been warned.
Freitag, 19. Juni 2015
Mehr oder weniger ungeplant geht es heute nach Florenz. Eigentlich steht die Stadt, die rund 80 Kilometer nördlich von Siena liegt, erst für Sonntag auf dem Programm, aber ich habe kurzfristig umdisponiert. Das hat zwei Gründe: Zum einen hege ich die dumpfe Vermutung, dass mein Lieblingsgeschäft am Sonntag geschlossen sein wird, zum anderen habe ich gestern noch etwas Tolles im Netz entdeckt, was ich unbedingt ansehen muss.
Aus diesem Grund zischt die Renaissance bereits um kurz nach 09.00 Uhr über die Autobahn. Bei Florenzbesuchen sind immer die letzten 9 Kilometer das Problem – die führen durch Kreiselkombinationen, die genauso unverständlich wie saugefährlich sind: Die Fahrspuren gehen kreuz und quer, und eine Ausfahrt ist sogar mit Vorfahrt achten versehen – von einer Autobahnabfahrt, die einen unablässigen Strom an schnell fahrenden Fahrzeugen ausspuckt. Es wundert mich nicht, dass im Kreisel gerade gleich zwei Unfälle von Carabinieri aufgenommen werden.
Florenz selbst ist die verkehrstechnische Entsprechung der Hölle, wie sie Dante in seinem “Inferno” beschreibt. Auch hier gibt es verschiedene Höllen, und es wird immer schlimmer, je näher man an das Stadtzentrum herankommt. Hinter der Kreiselhölle kommt der Höllenkreis der immerroten Ampeln, der nahtlos in die Hölle des ewigen Staus übergeht. Den hat man aber schnell vergessen, wenn man über die Anhöhe bei der Piazza Michaelangelo kommt und sich plötzlich eine grandiose Aussicht auf die Stadt und den alles überragenden Dom öffnet.
Mein bevorzugter Parkplatz ist am Torre Niccolo, das ist am Ufer des Arno, zwei Kilometer vom Ponte Vecchio und damit vom Höllenkreis der orientierungslosen Touristen entfernt. Hier gibt es immer freie Parkplätze, und es ist verkehrstechnisch ruhig gelegen.
In den vergangenen vier Jahren war ich sieben Mal in Florenz, und mittlerweile brauche ich nur noch einen Ausschnitt vom Stadtplan zu sehen oder einen der größeren Straßennamen zu hören und weiß, wo das ungefähr ist. Trotzdem suche ich mir heute einen Wolf und renne die Via Romana mehrmals hoch und runter, dabei auf der Suche nach Hausnummer 17. Die ist scheinbar schnell gefunden, sie folgt auf Hausnummer 15, ist aber nur eine kleine Holztür mit einem Schlitz für “Lettere”. Leider kann es die nicht sein, meine Zieladresse liegt woanders. Aber wo? Nicht mal Google Maps oder Navigon helfen hier weiter.
Kurz vor der Verzweifelung entdecke ich dann die zweite Nummer 17, ein großes Tor mit der Aufschrift “Università Firenze”. Trotz seiner Größe ist es leicht zu übersehen, was vielleicht auch eine Erklärung dafür ist, dass das, was sich hinter dem Tor verbirgt, zu den am wenigsten besuchten Attraktionen der Stadt gehört.
Hinter dem Holztor werden zwei Sammlungen der naturhistorischen Abteilung der Universität Florenz aufbewahrt und teilweise ausgestellt. Die erste Sammlung besteht aus Präparaten von Tieren aus der ganzen Welt. Die Schauschränke, in denen sie stehen, künden von ihrem Alter: Die Sammlung muss im 19. Jahrhundert entstanden sein. Alles ist in einem edlen und verzierten Stil, den ich mit dem viktorianischen Zeitalter assoziiere.
Es ist ein merkwürdiges Gefühle, auf dem abgelaufenen Steinboden durch die Gänge voller Vitrinen zu laufen, und in die toten Glasaugen Tausender Tiere zu schauen. So eine Sammlung würde man heute nicht mehr anlegen oder, an manchen Orten, auch nur ausstellen, der Political Corectness wegen.
Ich bin dennoch froh die zu erleben, denn auch wenn manche Präparate zweifelhaft kunstvoll ausgestopft sind, so ist es dennoch ein Erlebnis, Tiere, die ich nur aus dem Fernsehen kenne, aus nächster Nähe betrachten zu können. Ich wusste nicht, wie groß ein Walroß wirklich ist. Und wie klein ein Totenkopäffchen sein kann. Oder welche Spannweite eine brasilianische Fledermaus erreicht, wenn man sie AN DIE WAND NAGELT. Und die zweifache Bedeutung der Namensgebung des Problembärnen Bruno (die älteren unter uns werden sich erinnern) erschliesst sich mir hier: Bruno war von der Gattung “Ursus Bruno”.
Selbst seltenste Tiere gibt es in der Ausstellung, wie uralte Riesenschildkröten oder Schnabeltiere. Pinguine gibt es erstaunlicherweise keine, was Huhu freuen würde.
Dann kommt der Teil der Ausstellung, wegen dem ich eigentlich hier bin. An der Universität Göttingen gibt es eine Sammlung von Moulagen, das sind Abformungen und Repliken von Krankheitsbildern aus Wachs. In Göttingen lagern unter anderem wächserne Arme, auf denen Akne, Hautkrebs und andere Krankheiten zu sehen sind. An solchen Modellen lernten Studenten im 19. Jahrhundert und sogar bis ins die 1950er Jahre Krankheiten zu erkennen. Anders war das kaum möglich, die Fotografie war schwarzweiß und grobkörnig, gut gearbeitete Moulagen dagegen absolut lebensecht. Gute Moulagen konnten sich nur die guten und teuren Unis leisten. Neben Göttingen, London und Paris war eben auch Forenz.
Und das ist es, was sich in den folgenden Räumen findet: Alte Holzvitrinen mit anatomischen Modellen von Körpern und Körperteilen, in den unterschiedlichsten Kombinationen. Hier, da bin ich mit sicher, hat sich Gunther von Hagens die Anregungen für seine “Körperwelten” geholt. Mal sieht man Schnitte durch Körperschichten, mal Skelette mit Augen, die nichts tragen ausser dem Nervengeflecht, mal sieht man Schädelknochen mit Ohren und Nase.
Aber diese Sammlung gab es 150 Jahre vor den Hagen´schen Plastinaten, und hier ist alles aus Wachs und nicht aus Menschen. Dennoch wirkt alles erschreckend echt. Bemerkenswert ist, dass die Exponate über die rein anatomische Aufklärung hinausgehen. Sie sind auch Kunstwerke. Die Puppen mit offenem Torso haben alle einen Kopf, oft mit aufwendigen Perücken bezogen und sorgfältig geschminkt, und in manchen Fällen tragen die Figuren sogar Schmuck. Diese Kombination wirkt… morbide. Und gruselig.
Achtung: Nach dem Klick kommen Bilder, die zweifellos einzigartig und interessant sind – die bei zartbesaiteten Naturen aber für Albträume sorgen könnten. Weiterklicken auf eigene Gefahr.
Später laufe ich in die Stadt und suche den Laden von Alfreda Evangelisti auf, den ich wenig später mit leerem Portemonnaie, aber mehreren neuen Krawatten wieder verlasse. Dann treibe ich noch ein wenig durch Florenz, suche bekannte Orte auf, shoppe ein paar Geschenke.
Gegen 15.00 Uhr verlasse ich die Stadt, um durch das die grünen Weinfelder des Chianti gen Siena zu düsen. Im dortigen Supermarkt finde ich sogar das Sternchenkekseis, auf das Katja mich hingewiesen hat. Perfekt!
Es ist heiß, ich habe die ganze Zeit den dicken Motorradanzug getragen, und deshalb habe ich mir eine Pause im Casa Brescia verdient, zumal es gleich regnen soll.
Das mit Pause finden leider auch die Deutschen, die am Vorabend angekommen sind. Es handelt sich um eine vierköpfige Familie aus Mitteldeutschland, ob Ost oder West vermag ich nicht zu sagen. Die Oma ist nett und freundlich, die Enkelin 5 und dem Alter entsprechend quirlig, der Vater der Familie ist um die 30 und leidet unter einer extremen Ausprägung des Kruger-Dunning-Syndroms (permanente Selbstüberschätzung bei gleichzeitig eher schlichterem Gemüt, kurz: Ein Rückgratloser Dummschwätzer), und das blondierte und dauergewellte Muttertier ist hoch neurotisch.
So verwundert es nicht, dass sie komplett durchdreht, weil in einem anderen Teil des Casa renoviert wird. Nach zwei Bohrgeräuschen versucht sie ihren Ehemann zu nötigen was dagegen zu unternehmen, der sich aber konfliktscheu zeigt und zu Bedenken gibt, das dies kein Altersheim sei und es das gute Recht des Handwerkers sei, am Nachmittag eines Werktags zu arbeiten. Daraufhin schubst ihn die Furie zur Seite, brüllt, “DANN MUSS ICH DAS HALT SELBST MACHEN”, stapft wutenbrannt davon und schreit dann einen verdatterten italienischen Handwerker in drei-Wort-Englisch so in Grund und Boden, dass der sein Lebtag nicht mehr bohren wird. Von dieser lauten Szene knapp hinter meiner Zimmertür bin ich kurz abgelenkt, was das Wiesel zu nutzen weiß.
Ich bin zu müde, um mich über gefräßige Wiesel oder dumme Deutsche aufzuregen. Stattdessen lege ich mich in meinem Zimmer auf´s Bett und falle für eine Stunde in tiefen Schlaf.
Wieder wach, aber alles andere als frisch, fahre ich nochmal kurz in die Stadt und wandere durch Siena. In den engen Gassen steht die warme Luft. Es ist Freitag Abend, und an jeder Ecke bauen Bands ihre Anlagen auf, am Dom werden große 3D-Beamer in Position gebracht (vermute ich zumindest), und in den Straßen wird Tango getanzt. Siena produziert eine faszinierende, entspannte und fast magische Athmosphäre, für die man die Stadt einfach mögen muss.
Außerdem liebe ich das Umland von Siena für seine Straßen. Als es eigentlich an der Zeit für ein Ende des Tages ist, lasse ich es mir nicht nehmen und scheuche die ZZR mit hohen Drehzahlen durch das unmittelbare Hinterland. Hier beginnt das,was man als typisch toskanische Landschaft von Bildern kennt: Sanfte Hügel mit rollenden Feldern, dazwischen schlängeln sich Straßen aus exzellentem Asphalt und mit tollen Kurven. Diese zu kennen und mit ordentlich Druck auf dem Motor zu fahren ist pures Vergnügen.
Mein Herz macht einen Sprung, ob der Schönheit dieser Kombination aus Fahrgefühl und Landschaft. Als die Renaissance in der Abendsonne durch die Kurven der “Krone von Siena” tobt, bin ich einfach nur… glücklich. Die Sorgen von Vergangenheit und Zukunft sind irgendwo auf der Reise zurückgeblieben oder noch ganz fern, ich bin ganz im Hier und Jetzt, spüre die druckvolle Kraft des Motorrads und muss an nichts anderes denken als an das nächste Stück Straße. Maschine und ich sind Eins und schießen um eine Kurve nach der anderen, in einer berauschenden Landschaft aus Feldern, im Sonnenuntergang und nach Korn riechender Abendluft. Ich bin meist sehr zufrieden mit mir und meinem Leben, aber SO, das merke ich gerade ganz intensiv, SO fühlt sich pures Glücklich sein für mich an. Angekommen bei mir selbst, in meinem Innersten – das ist das Ziel jeder Reise in die Ferne.
- Zurück zu Teil 7: Die Bruderschaft des guten Todes
- Weiter zu Teil 9: Haustierwaschmaschine, Pupsschlamm und Amifalle
Ein Gedanke zu „Motorradreise 2015 (8): Unter der Haut“
Mich überkommt dieses Gefühl aus dem letzten Absatz beispielsweise auf der Fähre zwischen Circular Quay und Manly, im Zug oder der U-Bahn in Tokio, im Camper in Neuseeland. 🙂 hach.