Überraschungsreise Prolog (4): Herzkasper
Silencers Tagebuch, 30. Oktober 2015, einen Tag vor Reisebeginn
Bin ich ernsthaft davon ausgegangen, dass die wirklich sensible Phase der Reise einfach so gutgehen würde? Nun, WENN es eine geringe Chance gibt, das etwas schief geht, dann passiert es mir mit Sicherheit. Ich kann mich nicht auf mein Glück verlassen. Das weiß ich, und es ist einer der Gründe, warum ich gerne im voraus plane.
Trotzdem bleibt mein Herz stehen, als am 30. Oktober, einen Tag vor dem Start der Reise, eine Mail eintrudelt. Inhalt: Das wirklich wichtige Schiff, das dringend gebraucht wird, wird bestreikt, am Tag meiner Buchung. Vermutlich werde ich in Sekundenbruchteilen kreidebleich, denn ich bin wirklich geschockt: Mit diesem Ding steht und fällt die ganze Reise!
Zum Glück hilft mir Rosa, eine Angestellte der Reederei Grimaldi, schnell und kompetent. Sie bietet mir an, einen Tag früher oder einen Tag später zu fahren. Ich überlege kurz und schiebe Routen hin und her, dann entscheide ich mich für einen Tag früher, und schon nach einer Stunde bekomme ich neue Tickets von Rosa. Dann muss ich den Mietwagen, der im Anschluss an das Schiff gebraucht wird, für einen Tag eher buchen, ein neues Hotel suchen und das eigentlich vorgesehene stornieren.
Ich bin froh, als nach zwei Stunden Internetarbeit alles wieder in trockenen Tüchern ist. Da bekomme ich einen Anruf von einer Mietwagenfirma aus England. Ihre Filiale in Osteuropa hätte eine dringende Nachricht für mich, ich solle mich da mal melden. Also rufe ich in Osteuropa an und lande in einer Telefonanlage, die mich auffordert eine Zifferntaste entsprechend meines Anliegens zu drücken. Leider tut sie das nicht auf Englisch, sondern in Landessprache, und ich verstehe kein Wort. Nichtmal reinsingen, bei westlichen Telefonsystemen eine Barrierefreiheitssicherung, stellt mich zu einem menschlichen Operator durch. Also wieder in England anrufen. Dort hat man mittlerweile eine Nachricht aus der Landesfilliale für mich gefunden. Mein Schiff würde bestreikt. Weiß ich, sage ich, deshalb komme ich jetzt einen Tag früher. Neenee, sagt die Mietwagenfirma. Einen Tag früher wird jetzt AUCH gestreikt.
Mir fällt fast der Telefonhörer aus der Hand. Wie bitte?! Vor meinem geistigen Auge sehe ich schon wieder alles zusammenbrechen. Verdammte Hacke, das gibt es doch nicht. Ich setze mich an den Schreibtisch und überlege. Was habe ich an Fakten, welche Informationen sind gesichert? Im Internet ist leider nichts zum Streik zu finden, in dem Land verlässt man sich noch auf Verbreitung von Informationen per gedruckter Zeitung. Schade, das nicht alle Streiks so gut organisiert sind wie in Italien. Da wird zwar dauernd gestreikt, aber es gibt eine Website, auf der alle Streiks zwei Wochen im Voraus angekündigt werden. Dort kann sich jeder informieren und entsprechend planen. Hier aber nicht.
In meiner Verzweifelung beschließe ich bei der Reederei anzurufen. Die sitzt in Neapel, und dort lande ich in einer Warteschleife. Klar, es ist Freitagabend, da arbeiten vermutlich nur noch zwei Leute oder so. Nach 4 vergeblichen Anrufen und zwanzig Minuten Warteschleifenmusikgedüdel schreibe ich eine Mail an Rosa, die freundliche Mitarbeiterin, die mir schon heute Nachmittag geholfen hat. Und ich rufe bei der Hafenaufsicht an im Abfahrtshafen an und frage dort nach, wann genau gestreikt wird. Die Port Authority ist kurz angebunden, aber die Aussage ist klar: Mein Schiff fährt noch, es ist das letzte, bevor die Verbindung auf Tage hinaus bestreikt wird. Mir fällt ein Stein vom Herzen. Dann kommt auch noch eine Mail von Rosa: Nein, an dem Tag ist kein Streik, wenn sich das ändert, schreibt sie mir eine Mail.”November 02. is fine”.
Spät gehe ich an dem Abend ins Bett, mit einem sehr unruhigen Gefühl im Bauch. Ich wollte komplexe Logistik und Herausforderungen. Genau das habe ich bekommen. Morgen früh geht es los. Dann ist nichts mehr mit Planung, wenn die Reise erst einmal begonnen hat, kann ich mich mich nur noch auf mein Improvisationsgeschick verlassen.
Modnerds Tagebuch, 30. Oktober 2015, Der letzte Abend
Heute habe ich mich dabei erwischt, gegenüber Kollegen erwähnt zu haben, ich würde mich fühlen, als würde ich wissen zu Sterben. Nicht aus Angst oder weil ich glaube, dass das tatsächlich passiert. Allerdings hat sich das Gefühl der Leere und des Nichts mittlerweile derart ausgewachsen, dass ich allmählich eine Empfindung dafür habe, wie sich jemand fühlen muss, der weiß, dass er am nächsten Tag sterben wird. Der weiß, dass das Nichts auf ihn zukommt. Das Fehlen von Bildern für eine Zeit, die vor mir liegt, dieses unbegreifliche erscheint mir plötzlich ziemlich ähnlich zu meiner Vorstellung vom Ende des Lebens. Gut, dass ich in zwei Wochen wieder leben werde. Mal sehen, wie es sich anfühlt, wenn ich heute Abend merke, dass das Nichts kein Nichts mehr ist. Sondern Etwas. Was, das werde ich sehen.
Bitte nehmen Sie meine übermäßige Todesfixierung nicht erst. Ich bin ein positiver Mensch.
Silencers Tagebuch, 30. Oktober 2015
Haha, positiver Mensch. Positive Menschen sind naiv! Die morgige Reise wird eine sehr seltsame Erfahrung werden…