Das Reisetagebuch (2): Christus kam nur bis Eboli
Im November 2015 begeben sich Modnerd und Silencer auf Reisen. Modnerd hat keinen blassen Schimmer wohin es geht oder was ihn erwartet. Kontrollverlust und Überraschungen sind das Konzept. Dies sind die Tagebücher der beiden. Am zweiten Tag gibt es ein Meer voller Einhörner, dazu ein Dorf voller Geister und eine Stadt, deren Bewohner sich für Vieh hielten.
Sonntag, 1. November 2015, Lamezia Terme, Kalabrien, Italien
Der Himmel ist bedeckt, aber der Sturm der vergangenen Nacht hat sich gelegt. Lediglich abgerissene Palmwedel auf dem Parkplatz der Albergo “La Mimosa” zeugen noch von dem Unwetter, das bei unserer Ankunft hier getobt hat.
Nach einem schnellen, italienischem Frühstück mit Croissants und Caffé werfen Modnerd und ich das Gepäck in unseren Fiat Qubo und starten gen Norden. Die Straße führt an der Küste entlang. Dunkle Wolken rollen gegen die Berge, die sich neben dem schmalen Landstreifen am Meer erheben.
Unterwegs frischt der Wind wieder auf und macht ein Einhornmeer. Jede Welle im Meer ist von einem weißen Kamm gekrönt ist. Tatsächlich sieht es von oben so aus, als würden tausende weißer Pferde im Meer auf und abhüpfen, so aufgewühlt ist die See. Seit dem “Letzten Einhorn” wissen wir ja: Das sind Einhörner, die ins Meer getrieben wurden und dort darauf warten, wieder an Land zu dürfen.
Als wir nach Westen und in die Berge abbiegen, setzen immer wieder Regenschauer ein. In engen Kurven schlängelt sich die Bergstraße durch grüne Wälder, und manchmal tut sich ein Tal auf und eröffnet einen weiten Ausblick ins Land, über dem schwer und grau die Wolken hängen.
Wenig später verlassen wir Kalabrien und kommen in die Region Basilicata, die praktisch die Sohle in der Mitte des Stiefels bildet.
100 Kilometer geht es am Meer entlang, durch langweilige und oft runtergekommen wirkende Orte. Wenn Kalabrien das Armenhaus Italiens ist, dann ist das hier der angrenzende Slum.
Der Eindruck ändert sich, als wir ins Landesinnere steuern. Die Ortschaften bleiben zurück, und plötzlich ist nichts mehr da außer der Straße und sandigen Bergen, die außer einem spärlichen Grasbewuchs kaum Vegetation aufweisen.
Wie große Dünen, so sieht das hier aus. Kein wunder, dass es hier kaum Orte gibt. Wer käme schon auf die Idee, seine Häuser hier und damit auf Sand zu bauen? Nun, zum Beispiel die Bewohner von Craco. Die bauten eine ganze Stadt auf einen dieser Sandberge. Das ging auch eine ganze Zeit gut, aber in den 1990ern rutschte ein guter Teil des Sandbergs weg, und mit ihm auch gleich ein ganzes Stadtviertel.
Die Regierung baute daraufhin im angrenzenden Tal “Häuser” (tatsächlich sehen die eher wie militärische Baracken aus) und siedelte die Bevölkerung mit Zwang um. Zurück blieb eine Geisterstadt, die immer noch majestätisch über die Landschaft blickt.
Modnerd: Als wir unser erstes Ziel, Craco erreichen, wird mir schlagartig klar, wie großartig es ist, absolut nichts über den Fortgang der Reise im Kopf zu haben. Nicht nur, dass Bilder fehlen, nein, es wird auch jede Form von Erwartungen und vorher getroffenen Annahmen unmöglich. Ich kann mir vorher nichts über das Ziel vorstellen und erlebe es somit vollkommen unverfälscht. Ich habe keine Fotos im Reiseführer gesehen, deren Blickwinkel ich vielleicht unbedingt einnehmen möchte oder bei denen die Realität enttäuscht. Es kann auch nicht passieren, dass das Bild, welches ich gesehen habe, schon als Eindruck ausreicht und später die Realität kaum mehr hinzufügt und ich vielleicht sogar enttäuscht bin.
Ich kann mich für vieles begeistern, und finde fast immer etwas was mich interessiert. In der Regel ist aber das Gefühl der Überwältigung noch größer, wenn ich zuvor nichts über einen Ort gewusst habe. Bisher sind meine schönsten Erinnerungen (etwa die Ciudad de las Artes y de las Ciencias in Valencia oder das Metropol Parasol in Sevilla) allesamt unerwartet auf Reisen aufgetaucht.
Es muss solch ein Moment gewesen sein, der mich auf die Idee der Reise gebracht hat. Damals bin ich quasi um eine Ecke gebogen und habe etwas Großartiges gesehen (bei den obigen Beispielen vor allem mein Steckenpferd, neue Architektur) und konnte mich gar nicht mehr einkriegen. Das Gefühl lässt sich am besten beschreiben als den verzweifelten Wunsch, einen Ort mit allen seinen Eindrücken in möglichst hoher Auflösung zu speichern, in allen Facetten zu erleben und das möglichst unbeeinflusst. Natürlich geht das nur sehr bedingt. Aber stets ist dieses Gefühl am stärksten, wenn es überraschend passiert UND mir die Sache gefällt. Ich weiß, das ich ein hoher Anspruch. Aber an diesem Tag wird er aufs Äußerste erfüllt.
Silencer: Craco verfällt rasant. Deshalb darf man sie auch nur mit einem Führer betreten. Dooferweise ist der gerade beim Mittagessen, wie mir ein freundlicher Cracoer erklärt. Die Begegnung mit dem Mann ist irritierend. Er ist in Craco geboren und besucht hier gerade seine Eltern. Normalerweise lebt er in Franken, und das seit 45 Jahren. Wir babbeln hier, mitten im italienischen nirgendwo, also auf fränk´sch. Das bringt mein Sprachzentrum etwas aus dem Gleichgewicht.
Während Modnerd und ich noch überlegen ob es sich lohnt, noch mehr als 1,5 Stunden auf eine Führung zu warten, kommt eine kleine Katze angestromert.
Modnerd hält ihr einen Keks hin, aber bevor sie ihn fressen kann macht es HUI, ein grau-brauner Blitz schiesst vorbei und verschwindet in meinem Rucksack. Sekunden später taucht eine nur zu bekannte, rosa Nase daraus hervor und macht mümmelnde Bewegungen. Es ist das Wiesel! Wie kann das denn sein?! Wie ist es hier her gekommen?
Nun, auch dieses Geheimnis wird eines von vielen sein, die das Wiesel umgeben und die nie gelüftet werden können. Das Wiesel kaut einträchtig Kekse und begleitet Modnerd und mich ab jetzt.
Zu Dritt laufen Modnerd, Wiesel und ich ein Mal um Craco herum. Ein Zaun trennt die Ruinen von der Stadt, in der gerade die letzte Touristengruppe vor der Mittagspause unterwegs ist. Alle tragen gelbe Bauhelme, und schon von unseren Zaunplätzen lässt sich sehen, warum das auch nötig ist. Mauern stehen so windschief herum, als ob sie jeden Moment zusammenfallen. Treppen sind mit Trümmern bedeckt. Durch manche Häuser, die allesamt mit leeren Fensterhöhlen in die Gegend starren, ziehen sich tiefe Risse. In einige Gebäude kann man hineinsehen, weil Teile der Außenwände zuasammengebrochen sind.
Wir lassen die morbide Szenerie auf uns wirken und setzen dann die Fahrt fort. Nach einer Stunde kommen wir im Ort Matera an und stellen den Qubo in der Neustadt am Straßenrand ab. Die letzten Kilomemeter müssen wir zu Fuß gehen, denn in der Altstadt gibt es keine Parkmöglichkeiten. Dort gibt es nicht mal Straßen. Es handelt sich um ein Labyrinth aus Treppen und Gängen, die kleine Plätze miteinander verbinden.
Modnerd: Eine andere Erkenntnis, die später noch dazu kommt, als wir unser zweites Ziel erreichen, ist: Wenn ich nichts über den Ort weiß und diesen auch gar nicht kenne, dann überrascht und begeistert bin, fühlt es sich sogar an, als wäre ich in einer anderen Welt, ganz, ganz weit weg von zu Hause. Nicht in Europa, mehr in einem fernen Kontinent, in einer komplett anderen Kultur.
Besonders toll ist, wie Herr S. mir Matera präsentiert. Wir parken in einer unspektakulären Straße des neuen Ortsteils. Alles sieht lanweilig aus und ich zweifle noch, was wir hier sehen werden. (Ein bisschen zweifele ich in diesem Moment auch an den planerischen Fähigkeiten des Herrn S., was sich später als kolossaler Irrtum herausstellen wird – auf der gesamten Reise).
Je näher wir jedoch dem alten Ortskern kommen, desto mehr Treppen überwunden werden müssen, umso begeisterter werde ich. Im Nachhinein ist es lustig zu sehen, welche Fotos ich zunächst gemacht habe. Später, wenn ich im Fotoalbum dieser Reise blättere, werden das diejenigen sein, die ich schnell überspringe. Weil ich weiß, was später noch kommen wird.
Mit jeder Treppenstufe, die wir tiefer in den alten Ort hinab steigen (zusammen mit der Sonne, die den Ort immer mehr in tolles Abendlicht taucht) breche ich mehr in Verzückung aus. Und als sich dann am Abend noch entfaltet, dass der ganze Ort eigentlich auf drei Hügeln liegt, die alle erkundet werden wollen, ist es um mich geschehen. Matera ist für mich der erste Höhepunkt der Reise, weil es das Gefühl der Überraschung und verblüfften Entzückung genauso entstehen lässt, wie ich es nur ganz selten erlebe.
Silencer: Gegenüber der Altstadt, durch ein tiefes Flußtal von ihr getrennt, erhebt sich eine Felswand. In ihr sind Löcher zu sehen. Das sind die Eingänge zu Höhlen, den “Sassi”. In Ihnen lebten Menschen wie Tiere, und zwar bis in die 1950er Jahre.
Die Altstadt von Matera ist kaum besser, auch hier lebten die Menschen in solchen Höhlen. Die Höhlen haben lediglich nach außen eine Frontmauer oder einen gemauerten Vorraum. Quasi die Fassade eines Hauses. Hinter der Fassade ging es in einen dunklen Höhlenraum, der eine Familie mit einem halben Dutzend Kindern beherbergte. Viel Geschirr brauchte die Familie nicht, alle saßen um eine große Schale, aus der gemeinsam und wie aus einem Trog gegessen wurde.
Die Eltern hatten in der Regel ein richtiges Bett, dass die Frau als Aussteuer mitgebracht hatte, die Kinder schliefen in den Schubladen von Kommoden oder, wenn sie größer waren, in Stroh, dass auf Kommoden und dem Boden ausgelegt wurde. Das elterliche Bett war sehr hoch, zum einen, um möglichst weit weg vom kalten und feuchten Boden zu sein, zum anderen, damit die Hühner frei darunter durchlaufen konnten. Denn gemeinsam mit den Menschen lebte das Vieh in der Höhle.
Nicht nur Hühner: Auch Esel und Kühe waren in einem tiefer gelegenen Höhlenteil untergebracht. Damit waren sie vor Diebstahl geschützt, und im Winter diente ihre Körperwärme und ihr Mist als Heizung. Die hygienischen Zustände und der Gestank müssen unfassbar gewesen sein.
Die Menschen, die in den feuchten Höhlen hausten, sagten von sich, sie “seien keine Christen”, denn “Christus kam nur bis Eboli” als er nach Italien reiste. Eboli ist an der Ostküste Italiens und Luftlinie 130 Km von Matera entfernt. Das Sprichwort ist ein verzweifeltes Wortspiel, denn “Christ” und “Mensch” ist im lokalen Dialekt das gleiche Wort. Die Bewohner von Matera sahen sich nicht als Menschen, sondern als Tiere. Als armes Vieh, das geboren war um dahin zu vegetieren und zu leiden.
Die Zustände änderten sich erst, als der Schriftsteller Carlo Levi Anfang der 1940er hierher verbannt wurde. Er schrieb ein Buch über die Zustände, passenderweise mit eben jenem Sprichwort als Titel: “Christus kam nur bis Eboli”.
Sehr eindrücklich schilderte er die Zustände und die allgegenwärtige Resignation. Jeder mit einem Funken Hoffnung im Leib hatte Matera zu dem Zeitpunkt verlassen, nur die demotivierten, resignierten, ärmsten Bauern waren zurückgeblieben und vegetierten hier ohne Perspektive dahin. Ihr leben unterschied sich nicht von dem ihrer Vorfahren aus vorrömischer Zeit. Das einzige Gebäude der Stadt, das gewissen Standards entsprach, war das städtische Pissoir, und das, notierte der Schriftsteller, würden außer Hunden und Schweinen und nur ein menschliches Wesen benutzen: Er selbst. Andere Menschen defäkierten offen auf der Straße.
Das Buch kam 1945 raus und wurde ein Bestseller. Es lenkte den Blick auf die Region, die schnell als “Armenhaus Europas” bekannt wurde. Per Gesetz wurde die Bevölkerung ab 1956 in neu gebaute Viertel umgesiedelt, Arbeitsprogramme gaben eine Perspektive. Die letzten Sassi wurden erst Anfang der 60er Jahre aufgegeben. 25 Jahre später erging ein Gesetz zur Erhaltung und Renovierung der Sassi.
Heute ist ein Teil von Materas Sassi-Altstadt immer noch unbewohnt. Ganze Straßenzüge liegen tot da, ohne Fenster bröckeln die Hausfassaden der Höhlen dahin. Ein Gutteil ist aber aufwendig renoviert, aus den Höhlen sind schicke Wohnungen und Hotels geworden. Die sind immer noch feucht, aber es gibt fließendes Wasser, Strom und eine Kanalisation.
Modnerd und ich streifen durch die Altstadt. Obwohl es erst 15 Uhr ist, zieht sich die Sonne bereits aus dem Tal zurück. Hier ist es also nicht nur klamm und feucht, sondern auch dunkel… Was, überlege ich, hat Menschen bewogen, dieses Loch als ihre Heimat zu wählen?
Schon um 17.30 Uhr ist es stockdunkel, und wir begeben uns in unsere Unterkunft. “Le Dodici Lune”, das “Die 12 Monde”, liegt ebenfalls in einem Sassi, und die Zimmer haben etwas höhlenartiges und sind… feucht und klamm. Aber für eine Nacht ist das OK, zumal es nicht kalt ist und das WLAN gut läuft.
Als Überraschung entpuppt sich das Restaurant des Dodice Lune. Das liegt in zweiter Linie an der Location (eine Höhle), zuvorderst aber an John. John ist Mitte zwanzig, hager und trägt einen Anzug, der maßgefertigt aussieht. John ist Kellner, aber seine ganze Haltung zeigt bereits die Würde, mit der er dieses Amt bekleidet. Er wirkt er wie ein Gastgeber oder ein Butler als eine simple Bedienkraft, und er steuert uns durch ein hervorragendes 3-Gänge Menu mit hausgemachten Antipasti und Pasta, einem Secondo aus Lamm und Salscicce, dazu einem wunderbaren Rotwein aus der Basilicata. Herrlich.
Gegen 22 Uhr habe ich das Gefühl, schon ewig und doch viel zu kurz auf den Beinen zu sein. Trotzdem nehme ich das frühe zu Bett gehen gerne an. Morgen wird ein sehr langer Tag.
Ich bin froh, nochmal in einem richtigen Bett schlafen zu können. Modnerd hat ja keine Ahnung, was ihn morgen erwartet.
- Teil 3. Keine Nachricht von Rosa
4 Gedanken zu „Das Reisetagebuch (2): Christus kam nur bis Eboli“
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Das Wiesel. Es ist da. In Italien. Hachz.
Oh, you broke the layout 😀
Entschuldigung, aber die Begeisterung riss mich hinweg <3
(Warum WP da keinen Umbruch erzwingt, habe ich auch nie verstanden).