Reisetagebuch (10): Kalt erwischt
Im November 2015 begeben sich Modnerd und Silencer auf Reisen. Das Besondere: Modnerd hat keinen blassen Schimmer wohin es geht oder was ihn erwartet. Kontrollverlust und Überraschungen sind das Konzept dieser Reise. Dies sind die Tagebücher der beiden. Am zehnten Tag der Reise geht es weiter nach Osten.
Montag, 09. November 2015, Athen
Theoretisch könnten Modnerd und ich ausschlafen, praktisch sind wir jedoch schon um kurz vor 8 Uhr wach und auf den Beinen. Wir packen zusammen, denn heute geht es weiter. Wir werden Athen verlassen. Der Idee dieser Reise folgend weiß Modnerd selbstverständlich nicht wohin es gehen wird.
Nachdem wir unsere Penthousewohnung im Dachgarten des Hotel Carolina geräumt haben gehen wir erst einmal nett frühstücken, in einem Café um die Ecke. Englisches Roast enpuppt sich als knuspriger Toast mit Putenfleisch und Barbecuesauce und ist wirklich ausgesprochen lecker.
Ich bin fasziniert davon, wie sich die Straße schon wieder verändert hat. Bei unserer Ankunft am Freitag Abend sah sie einsam und runtergekommen aus, mit den runterglassenen Rollläden voller Grafitti. Am Wochenende war sie Partymeile, auf der die Nachtschwärmer von Lokal zu Lokal torkelten. Heute Morgen hat sie sich in eine geschäftige Einkaufsstraße verwandelt, mit vielen kleinen Läden für Haushaltswaren und Wäsche.
Etwas ziellos laufen wir durch die Innenstadt, aber das frisst auch nicht wirklich Zeit. Ich hatte Modnerd gesagt, dass wir um kurz vor 12 am Flughafen sein sollten, um das nächste Vehikel zu nehmen. Modnerd springt gerne zu Schlussfolgerungen, und wie erwartet hatte er ganz automatisch geschlussfolgert, dass wir einen neuen Mietwagen holen und weiter durch Griechenland gurken.
Dem ist aber nicht so. Würde Modnerd genau zuhören, könnte er mitrauisch werden. Aber immer wenn ich etwas kryptisch “Vehikel” oder “Transportmittel” sage, scheint das in seinem Kopf augenblicklich in “Auto” umgewandelt zu werden.
Modnerd: Herr S. hatte schon angekündigt, dass wir in Athen nur zwei Tage bleiben würden. Dass wir zurück zum Flughafen fahren würden, um dort wieder in ein Auto umzusteigen. Am heutigen Tag ist es dann so weit: Nach einem außerordentlich leckeren Frühstück fahren wir zurück zum Flughafen. Ein bisschen neugierig bin ich ja schon, da mir nun überhaupt nichts mehr einfällt, wohin wir unsere Reise fortsetzen könnten. Das Festland haben wir irgendwie durch, die Peloponnes schon besucht – sollte es nochmal hoch in den Norden gehen? Gut, für das gesamte Griechenlanderlebnis fehlt eigentlich noch ein Inselbesuch. Leider sind die eigentlich alle sehr touristisch und ich will da ungern hin.
Silencer: Als wir am Flughafen von Athen ankommen, sage ich es sehr deutlich: Wir sind nicht hier um ein Fahrzeug zu nehmen, sondern ein Flugzeug. Das leuchtet Modnerd auch ein, weil er gleich zur nächsten Schlussfolgerung springt. Er glaubt, wir blieben in Griechenland, aber würden auf eine der Insel fliegen. Oder vielleicht in den Norden, in Thessaloniki, für sowas bietet sich ein Kurzstreckenflug an.
Modnerd: Am Flughafen macht mir Herr S. kurzerhand klar, dass es kein weiteres Auto gibt (bisher meine Erwartung). Warum nicht mal wieder mit dem Flugzeug weiter fliegen? Die zu überwindende Strecke sei mit dem Auto mit zwei Tagen zu lang. Sehr interessant! Wo könnte man in dem kleinen Land nur so lange hinfahren? Vielleicht dann wirklich eine weiter entfernte Insel.
Wir fliegen mit Aegean, der griechischen Fluggesellschaft. Das passt, die fliegen bestimmt so ziemlich alle Inseln an, denke ich und schnappe am Rande tatsächlich Worte wir Rhodos, Lesbos oder Kos auf, wenn Herr S. sich mit dem Ticket am Schalter oder anderswo meldet. Ja, ich bin mir sicher. Es kann nur noch eine griechische Insel sein.
Silencer: Ich lasse Modnerd in seinem Inselglauben und zeige die Bordpässe auf meinem Telefon nur der Dame, bei der wir Modnerds Gepäck aufgeben. Ja, wirklich, wir müssen Gepäck aufgeben! Und ausgerechnet das von Modnerd, der mir einst beibrachte, wie man mit möglichst wenig Handgepäck verreist.
Seit unserer ersten Tour vor fünf Jahren habe ich mein Gepäck immer weiter reduziert. Sachen wurden durch ultraleicht-Varianten ersetzt, anderes gnadenlos ausgemistet. Man braucht letztlich doch sehr wenig, wenn man unterwegs ist. Modnerd dagegen hat sich stets an die Vorgaben seiner bevorzugten Fluglinie gehalten – und die sind mit den Jahren immer großzügiger geworden. Wo ich heute mit einem halb leeren Rucksack von 6,5 Kilo unterwegs bin, fährt Modnerd einen 10 Kilo-Rollkoffer spazieren und schleppt zusätzlich noch einen Rucksack voller Computer, Tablets und Netzteilen mit sich herum. Bei Aegan, mit denen wir nun fliegen, geht das nicht durch, und so muss er sich von seinem Rolli trennen.
Modnerd hat wieder den Blick auf den Boden und hat Kopfhörer in den Ohren, so erfährt er das Ziel nicht – und ich lasse ihn in dem Glauben, dass wir in Griechenland bleiben. Diese Geschichte passt nicht ganz zu dem erweiterten Sicherheitscheck, den man durchlaufen muss wenn man die EU verlässt, und macht Modnerd kurz mißtrauisch – aber als wir durch den mit dem normalen Personalausweis durchkommen, denkt er darüber nicht weiter nach.
Modnerd: Auf dem Flughafen und im Flugzeug wieder das übliche Spiel: Displays vermeiden, Ohropax rein, Ohren rubbeln bei Durchsagen. Ich höre nichts, mache das aber eher als Standard-Prozedur, um nicht herauszufinden, welche Insel es sein würde.
Allerdings bin ich mittlerweile geübt. Ich mache das so gut, dass ich wirklich nichts mitbekomme. Ich achte auch nicht auf die Leute im Flugzeug, schließlich gehe ich davon aus, dass das alles Griechen bzw. Inselurlauber sind.
Silencer: Ich freue mich diebisch. DAS macht mir an der Reise Spass: Ich habe ein Geheimnis und Modnerd ist ahnungslos. Hinter unser nächstes Ziel kann er gar nicht mehr kommen, weil er es schon verworfen hat. Dabei war es recht offensichtlich, wenn man weiß wie oft wir uns darüber unterhalten haben. Und tatstächlich hatte er das heutige Ziel quasi erwartet. Genau das war der Grund, weshalb ich bis hier hin den Weg zum Ziel gemacht und Geheimnis in Geheimnis in Geheimnis gestapelt habe.
Italien war nur ein Vorspiel zu Griechenland, und Griechenland führte auf Athen hin, das ebenfalls nur eine Etappe auf dem Weg zu etwas ganz anderem ist. Was ich bei der Vorplanung nämlich irgendwann begriffen habe: Hätte diese Überraschungsreise nur ein Ziel gehabt, hätte Modnerd das früher oder später erraten, clever wie er ist. Oder wäre nur einmal überrascht gewesen, und dann vermutlich enttäuscht. Um seinen Puls dauerhaft oben zu halten, musste ich mehrere Ziele, von denen jedes für sich eine eigene Reise wert gewesen wäre, hintereinander packen.
Nach einer Stunde geschieht das Boarding, und als wir in der Maschine sitzen weiß Modnerd immer noch nicht wohin es geht. Das Flugzeug hebt ab und gewinnt an Höhe, unter uns zieht die Küste vorbei. Es könnte nach Norden gehen, Richtung Thessaloniki oder Alexandropouli. Oder nach Süden, auf den Peloponnes. Tut es aber nicht.
Der Flug dauert nur knapp 80 Minuten, und die Aeagan-Stewardessen haben Schwierigkeiten, in der kurzen Zeit das Mittagessen auszuteilen und wieder einzusammeln. Hm, Flugzeugmittagessen! Sowas kennt Modnerd von Ryanair nicht. Und ich sowieso nicht, dazu bin ich zu selten geflogen in meinem Leben.
Modnerd: Und auch als Herr S. mich im Flugzeug fragt, was ich denn glaube, ob wir eher nach Süden oder Norden fliegen bin ich mir sicher, dass es nun nur noch der Süden sein kann. Sein muss!
Sehr, sehr verwirrt bin ich erst, als wir über eine ziemlich große Stadt mit riesigen Hochhäusern und anderen Dingen, die ich mir kaum auf einer Inseln vorstellen kann, fliegen. Ich denke an New York, verwerfe das aber gleich wieder, weil vollkommen unmöglich. Danach geht es wieder über das Meer.
Wie kann das sein? An welcher großen Stadt sind wir vorbeigekommen was zur Hölle soll jetzt noch das Ziel sein? Und plötzlich glaube ich, eine türkische Durchsage zu hören… Bald darauf erscheint wieder eine große Stadt unter uns. Eine Stadt, in der es Moscheen gibt! Das Gefühl ist perfekt, genau dafür habe ich diese Reise gemacht. Ich weiß für einen Moment absolut nicht, wo ich bin und dann tut sich unter mir ein Traum auf, den ich schon seit 20 Jahren habe.
Silencer: Als wir im Landeanflug sind, guckt Modnerd aus dem Fenster und grinst plötzlich. “Komische Atomkraftwerke haben die hier”, sagt er. “Und so viele davon”. Wir blicken auf Moscheen herab. “Hoş geldin, Arkadashim”, grinse ich, “Willkommen in Istanbul!”.
Modnerd: Übrigens war die erste große Stadt, die wir überflogenen haben, auch schon Istanbul und ich lag mit der Annahme New York nicht ganz falsch: Der Ballungsraum Istanbul ist derzeit mit 14 Millionen Einwohner deutlich größer als der Raum New York (10 Millionen). Somit passte mein Eindruck und das Flugzeug flog zunächst über die gesamte Stadt, um dann zu wenden und am wieder auf der anderen Seite zu landen. Kein Wunder, dass ich einen krassen Eindruck von der Stadt bekommen habe. Das Ding ist einfach verflucht groß.
In Istanbul angekommen geht es durch eine Passkontrolle, die schnell, aber dennoch unangenehm ist. Man hat eine Kamera direkt ins Gesicht gerichtet, wenn man vor dem Grenzbeamten steht, und die Gespräche werden aufgezeichnet – “Zu Servicezwecken”. Herrje,es ist eine Grenzkontrolle! Wo soll denn da die Serviceverbesserung herkommen?
Nach der Passkontrolle, bei der ich den ersten Stempel in meinen Reisepass bekomme, können wir Modnerds Gepäck abholen. Dann geht es an einen ATM, Geld abheben. Mit meiner DKB-VISA-Karte geht das zum Glück weltweit Gebührenfrei. In der Türkei zahlt man mit der neuen türkischen Lira, der Kurs ist aktuell 1 Euro = 3,2 TL. Danach geht es in Richtung Metro. Bei einem sehr ernsten Verkäufer erstehen wir zwei Istanbulkarts, die zur Nutzung von Bussen und Bahnen berechtigen, und laden auf jede 20 Türkische Lira.
Danach geht es mit der Metro und der Tram bis nach Sirkeci, dem großen Bahnhof in der Nähe der Altstadt, wo auch gleich das Hotel Hürriyet liegt, in dem wir die nächsten fünf Nächte und vier Tage untergebracht sind.
In der Türkei, so sagt man, spricht jeder englisch. Meine erste Erfahrung: Es sprechen viele Englisch, aber nicht der junge Mann, der gerade vertretungsweise am Empfang steht und sich ganz nervös umblickt, als wir durch die Tür treten. Als ich ihn auf englisch anspreche, nickt er freundlich und guckt panisch, dann beginnt er nervöse in irgendwelchen Papieren an der Rezeption rumzuwühlen. Schließlich gibt er einen Laut von sich, der entfernt wie mein Vorname klingt.
Ich schalte gedanklich in einen anderen Gang und sage: „Iyi Geceler! Evet, benim adim Sil, soyadim Encer. Ben bir rezervasyon var. Adini Mod Nerd oldugunu“. – Guten Abend! Ja, ich bin Sil. Nachname Encer. Ich habe eine Reservierung. Der da ist Modnerd.
Das Gesicht des jungen Manns hellt sich auf, und als ich ihm die Buchungsbestätigung in türkisch reiche, ist alle Unsicherheit verschwunden. Er bittet uns um unsere Pässe und bedeutet uns dann einem Tisch neben der Rezeption Platz zu nehmen. Während er unsere Dokumente gewissenhaft in einen Computer eintippt, wird Modnerd und mir Tee serviert. „Was war das denn jetzt gerade?“, fragt Modnerd. „Hast Du gerade türkisch geredet?“ „Ja“, sage ich. „Woher kannst Du das denn?“. „Ich plane diese Reise seit 1,5 Jahren”, antworte ich, und kann mir ein Grinsen nicht verkneifen “Zeit genug, mal ein oder zwei Türkischkurse an der Volkshochschule zu belegen. Na gut, vielleicht eher einer“. Türkisch ist eine faszinierende Sprache. Ich kann zwar nur ein paar Brocken, aber viel braucht man als Tourist ja normalerweise auch nicht.
Als wir unseren Tee ausgetrunken haben ist auch der Empfangsmensch fertig und überreicht uns die Zimmerschlüssel. Ich bitte ihn, in seinem Empfangstresen nach was ganz Bestimmten zu schauen. Er guckt mich skeptisch an, dann verschwindet sein Kopf hinter der Rezeption und man hört, wie er in Sachen wühlt. Dann kommt er wieder zum Vorschein und überreicht mir ein kleines Päckchen. Es ist in braunes Packpapier eingeschlagen und sorgfältig mit einer Kordel verschnürt. Daran hängt ein Pappschild, auf dem in sorgfältiger Handschrift mein Name notiert ist. Es wurde bereits gestern geliefert. Ich bedanke mich, dann beziehen wir unsere Zimmer.
Die Hotelzimmer sind klein, aber ruhig und gut ausgestattet. Die Betten sind winzig, und ich bin froh, dass ich mir kein Zimmer mit Modnerd teilen muss. Ich lege mich kurz auf´s Bett und schließe die Augen. Als ich vor dem Fenster Möwen höre, atme ich einmal tief durch. Ich bin wirklich am Bosporus! Erleichterung und Zufriedenheit macht sich in mir breit. Die Reiseplanung durch drei Länder war kompliziert, aber es hat alles geklappt. Jetzt sollte nichts mehr schiefgehen können. Istanbul ist die letzte Station, hier bleiben wir nun einige Tage, um die Stadt und die Kultur näher kennen zu lernen.
Ich setze mich wieder auf und entschnüre das Päckchen. Unter dem Packpapier kommt eine kleines Hardschalen-Case zum Vorschein. Darin befindet sich ein mobiler Accesspoint, so ein ähnlicher wie mein eigenes MiFi, das ich sonst immer mitschleppe. Dazu noch ein Ladegerät und ein Zusatzakku.
Das Gerät enthält bereits eine lokale SIM-Karte. Anders bekommt man hier kaum mobiles Internet. EU-Bürger dürfen nämlich keine türkischen Prepaid-SIMs kaufen, und beim Roaming kosten aktuell 50KB 49 Cent. Unfassbar, oder? Die 150 MB, die mir die Telekom in den letzten 5 Tagen in Griechenland für 15 Euro gelassen hat, sind das nahezu ein Sonderangebot. Mit den Konditionen in der Türkei hätten 150 MB glatte 1.470,- Euro gekostet. Zum Glück gibt es eine Firma, bei der man sich diese Accesspoints leihen kann. Einschalten, zack, Internet. Lässt sich vorher über die Website bestellen, kostenloser Lieferservice ins Hotel ist inklusive.
Ich sammele Modnerd wieder ein, und gemeinsam schlendern wir durch die Stadt. Unser Hotel liegt nur zwei Ecken von der Hagia Sophia entfernt. Es ist schon wieder dunkel, obwohl es erst 17 Uhr ist. Osteuropäische Winterzeit, halt. Dadurch wirkt die Stadt gleich nochmal fremdartiger und geheimnisvoller.
Modnerd: Das alles hier ist nochmals ein krasser Höhepunkt, quasi das Gegenteil zum Schlag in die Magengrube wegen meines Griechenland Faux Pas. Jetzt ist wieder alles gut, jetzt weiß ich, dass alles – die Reise, die Idee, das gemeinsame tolle Ding namens Überraschungsreise – am Ende funktioniert hat.
Ich muss sagen: Ich habe großen Respekt. Herr S. hat hier ein Kunstwerk gebaut, das sogar eine ihm innewohnende Dramaturgie hat. Jede Station war nur eine Vorbereitung oder Ablenkung von der nächsten Station…
- 11. Istanbul!
Ein Gedanke zu „Reisetagebuch (10): Kalt erwischt“
Oh, Istanbul, da werden Erinnerungen wach! *schwelg*