Reisetagebuch Shorties (1):Erste Hilfe
35 Prozent aller Unfälle passieren im Haushalt,
30 Prozent in der Freizeit,
25 Prozent bei der Arbeit und nur
10 Prozent im Straßenverkehr.
Das bedeutet: Wenn etwas passiert, dann trifft es mit 90 prozentiger Wahrscheinlichkeit jemanden, den man kennt und der einem nahe steht. Weniger oft muss man unvermittelt jemandem helfen, den man gar nicht kennt.
Neulich, in Venedig.
Es ist Juni und fast unerträglich heiß. Ich stehe auf einem Balkon in einem Bereich des Dogenpalastes, der für die Öffentlichkeit nicht zugänglich ist. Nur in Begleitung von Adriana darf man hier her.
Außer Adriana und mir sind noch 5 weitere Personen dabei, ein ca. 50jähriger Franzose mit seinem Sohn und drei Amerikanerinnen, eine Oma samt Tochter und Enkeltochter. Letztere ist ca. 18, dünn und sehr blass um die Nase. Auf den ersten Blick dachte ich, sie täte nur demonstrativ zu Tode gelangweilt, aber nun sehe ich, dass sie mit den Augen rollt weil sie die nicht aufhalten kann.
Wir stehen in der prallen Sonne, es sind über dreißig Grad, und Adriana beeilt sich nicht gerade damit, die Geschichte der Dogen zu erzählen. Das blasse Mädchen schwankt, der Kopf ruckt zur Seite. Achje, warum das denn ausgerechnet jetzt? Ihre Mutter umfasst die schmalen Schultern und führt sie ein paar Schritte von der Gruppe weg, das knickt dem Mädchen schon ein Knie ein. Ich weiß, was als Nächstes passieren wird. Bevor es soweit ist, ziehe ich die schwere Motorradjacke aus und nehme noch einen Schluck aus der Wasserflasche. Wer weiß, wann ich das nächste Mal dazu komme. Ich blicke hinab auf den Markusplatz, wo Tausende von Menschen herumwuseln. Fremde Menschen. Schon erstaunlich, wie manchmal die Welt implodiert und sich Fremde plötzlich nahe sind. Genau das wird gleich passieren.
Hinter mir höre ich einen lauten Hilferuf. Es ist soweit. Ich stecke die Wasserflasche weg, Adriana unterbricht ihre Erklärungen, alle Köpfe rucken herum. Das blonde Mädchen sackt in sich zusammen, ihre Mutter versucht sie aufrecht zu halten und sorgt damit zumindest für ein kontrolliertes Zusammenbrechen, bis die Tochter auf dem Boden sitzt. Der Kopf hängt auf der Brust, die Arme schlaff herunter. Außer unserer kleinen Gruppe ist niemand hier, der helfen könnte.
Die Franzosen und die Oma starren nur, tun aber nichts. Adriana eilt zu dem Mädchen und spricht sie direkt an. Keine Reaktion. Die Italienerin fasst das Mädchen an den Schultern und schüttelt sie und ruft dabei laut. Der Kopf der Blonden ruckt hoch, die Augenlider flattern. Sie stösst ein paar unverständliche Worte aus, dann kann ich sie verstehen. “Mir geht es nicht gut”, sagt sie auf englisch. Ja, DAS sieht man, Mädel. Aber wenigstens ist sie ansprechbar.
Ihre Mutter wird dagegen gerade hysterisch und brüllt “HILFE! HILFE! WARUM TUT DENN KEINER WAS?!”, nicht realisierend, das 1. außer uns niemand hier ist und 2. die erste Hilfe bereits läuft: Adriana hat sich wie im Lehrbuch verhalten und das Mädchen erst angesprochen, dann berührt und so geprüft, ob sie bei Bewusstsein ist.
“Holen sie Hilfe”, sage ich zu Adriana und wende mich an die Mutter. “Legen Sie sie auf den Rücken. Langsam Vorsichtig. Passen sie auf, dass sie sich den Kopf nicht stösst!”. Die Mutter tut wie ihr geheißen und hält den Kopf ihrer Tochter in den Händen. Ich umfasse die Beine der Blonden an den Fesseln und hebe sie hoch. Dabei stehe ich, etwas ungeschickt, direkt vor ihr. Nicht, dass das schlimm wäre – das Mädchen trägt eine Hose, hätte sie einen kurzen Rock an, wäre das jetzt – akward. Trotzdem denkt die Mutter in ihrer Panik, ich hätte schlechte Absichten. “Fassen Sie meine Tochter nicht an!”, giftet sie. Und nochmal lauter “DO NOT TOUCH MY DAUGHTER!!!”
Von dem Geschrei schlägt das Mädchen die Augen auf und blickt verwirrt zu mir hoch. Ich hocke mich hin und bette ihre Füße auf meine Knie. “Wie heisst Du?”, will ich wissen, das geifernde Muttertier ignorierend. “Josie”, sagt das Mädchen schwach. “Ok Josie, hör zu”, sage ich. “Dein Kreislauf hat schlapp gemacht. Das passiert. Das muss Dir nicht peinlich sein. In Vendig ist das vollkommen normal, ok? Auch wenn Du jetzt natürlich die ganze Aufmerksamkeit hast. Kreislauf ist nichts Schlimmes und passiert einfach mal. Vielleicht wegen der Hitze. Woher kommst Du?” Herrje, ihre Lippen haben die gleich Farbe wie der Rest von ihr, kalkweiss. “California”, haucht Josi. Im Hintergrund spricht Adriana mit dem Besuchercenter. Aus dem Handfunkgerät krächzt auf italienisch die Bestätigung, dass ein Sanitäter unterwegs ist.
Ich verziehe das Gesicht. “Ein California Girl, das Hitze nicht abkann? Erzähl mir doch nix!”, sage ich. Josie lächelt matt. Ihre Mutter hat das Keifen eingestellt und guckt ein wenig fassungslos. Ich reiche ihr die Wasserflasche und nicke. Vorsichtig versucht sie Josie ein wenig Wasser zu geben, das Mädchen kann den Kopf anheben.
“Wann seid ihr in Venedig angekommen?”, will ich wissen. “Gestern”, sagt die Mutter. “Dann musst Du einen Höllenjetlag haben, richtig?” Josie und Mutter nicken unisono. Das erklärt die Kreislaufprobleme.
Als drei Minuten später eine ältere Dame in der Uniform einer Museumsbediensteten mit einem Notfallrucksack auftaucht, ist Josie schon wieder in der Aufrechten. Die Schocklage hat es gebracht, das Mädchen macht sogar schon wieder Scherze. Ja, das war alles nicht besonders kritisch. Aber dennoch war es eine Situation, und es kam zu erster Hilfe. Und drei Minuten können bei ernsteren Sachen über Leben und Tod entscheiden.
Was ich an mir schätze: Ich bin jemand, der in Notsituationen einen klaren Kopf behält. Ich gerate nicht in Panik, kann Dinge klar artikulieren, scheue nicht davor zurück Anweisungen zu geben und ich weiß meistens relativ genau was als nächstes zu tun ist. Dieses “Tun” muss aber geübt werden, denn zum einen vergisst man Handgriffe, zum anderen ändern sich auch Praktiken. Was man vor 10 oder 20 Jahren bei der Führerscheinprüfung gelernt hat, gilt heute eventuell gar nicht mehr.
Schon aus dem Grund mache ich gerne alle paar Jahre mal wieder einen Erste-Hilfe-Kurs. Handgriffe üben, altes Wissen auffrischen, neues Wissen erwerben. Mein letzter Kurs ist 8 Jahre her, auch schon wieder viel zu lang. Das war mir auch bewusst, und schon im vergangenen Jahr hatte ich das diffuse Bedürfnis, mal wieder einen Kurs zu machen. Die Begegnung mit Josie hat mir gezeigt, dass es höchste Zeit ist. Schocklage habe ich noch hinbekommen, aber wie war das nochmal mit der stabilen Seitenlage? Und weiß ich wirklich noch genau, wo die Herzmassage platziert werden muss? Oder wie lange man zwischen zwei Atemspenden pumpen muss?
Ein Erste-Hilfe-Kurs dauert 8 x 45 Minuten und ist nicht teuer. Ca. 40 Euro kostet es, wenn man keinen kostenlosen ergattern kann. Es besteht aber auch die Möglichkeit den Arbeitgeber zu fragen, ob man den Kurs als betrieblicher Ersthelfer machen kann. Gibt der Chef sein OK, kostet ihn das keinen Pfennig – die Lehrgangskosten übernimmt die Berufsgenossenschaft. Dafür kann der Betrieb sich mit einem zertifiziertem Ersthelfer schmücken.
Der heutige Kurs hat mich wirklich überrascht. 12 Personen haben den Samstag mit Übungen verbracht, davon 9 Führerscheinanfänger, 1 Führerscheinverlängerer und inkl. mir 2 Personen die freiwillig Wissen auffrischen wollten. Und es hat sich gelohnt. Nicht nur, dass Handgriffe heute anders gemacht werden als noch vor ein paar Jahren, auch die Inhalte haben sich deutlich von früheren Kursen unterschieden. Was bei Sonnenstich zu tun ist, wie das Heimlich-Manöver funktioniert oder wie man bei Asthma helfen kann, das hatte ich so noch nie gelernt. Highlight des Tages war das Üben mit einem dieser modernen Defibrillatoren. Die Dinger hängen ja immer öfter an öffentlichen Plätzen rum, und ich weiß jetzt, wie ich die benutze.
Denn die Frage ist ja nicht, OB man mal helfen muss, sondern nur WANN. Und wenn die Hilfe benötigt wird, dann, siehe oben, mit 90 prozentiger Wahrscheinlichkeit von Personen, die einem nahestehen.
In diesem Sinne: Wie lange ist euer letzter Kurs her?