Motorradreise 2016 (3): Schmutzige Hände
08. Juni 2016, Aspremont, in den Bergen hinter Nizza
“Ich will nicht hier weg. Ich muss”, sagt Sabine. Es fällt mir schwer einzuschätzen wie alt sie ist. Ende Vierzig vielleicht? Mit den hochgesteckten, blonden Haaren, dem roten Sommerkleid und dem weißen Tuch, das sie um die Schultern geschlungen trägt, sieht sie aus wie eine Leinwandgöttin der 50er.
Ich sitze auf einem Barhocker, vor mir der vermutlich stärkste Kaffee von Nizza, hinter mir der Frühstücksraum für 50 Leute. Er ist leer, Sabine und ich sind ganz allein im Hotel.
Die Leipzigerin hat nach dem Mauerfall viele Jahre als Reiseleiterin in ganz Europa gearbeitet, bis sie sich mit der Liebe ihre Lebens einen Traum erfüllt hat: Ein eigenes, kleines Hotel in einer der schönsten Regionen Frankreichs. “Scheiß Frankreich”, sagt Sabine jetzt.
“Es ist das System”, sagt sie. “Der französische Staat ist pleite und denkt sich immer neuen Scheiß aus. Scheiß-Frankreich, das sagen meine deutsche Freundin und ich immer, Scheiß-Frankreich! Bürokratie bis zum Abwinken, unfaire Rechtsprechung, immer neue Gängelungen… Neulich flogen hier Leute in Hubschraubern über die Berge. Wissen sie, was die gemacht haben? Die Grundstücke aus der Luft vermessen! Es gibt nämlich ein neues Gesetz, nachdem man alles über 450 Quadratmeter als Bauland freigeben MUSS. Will man das nicht, muss man horrende Strafsteuern zahlen. Gibt man es frei, muss man eine Freigabesteuer an den Staat zahlen. Aber hier kauft doch niemand, nicht bei all den Auflagen für´s Bauen!”
Sie nimmt einen Schluck Kaffee.
“Wissen Sie, Ich zahle in den Fond Commerciale ein. Ich habe das Hotel gekauft, quasi. Aber nur so lange ich es betreibe, danach geht es an die Besitzerin zurück. Oder bis die meinen Pachtvertrag nicht mehr verlängert. So lange aber muss ich hier alles instandhalten, alle Auflagen erfüllen. Neue Fenster, neue Türen, Brandmeldeanlagen unununund, jedes Jahr was neues. Und wenn ich hier aufhöre ist alles weg. Für die Investitionen bekomme ich dann keinen Cent. Schlimm ist das.” Sie guckt kurz in die Ferne, verschränkt die Arme und fährt fort:
“Die ganze Bürokratie lässt das Land erstarren. Wissen sie, was ich gerade für einen Ärger habe, weil ich das Haus gestrichen habe? Jedes Jahr streichen wir das Hotel, seit Jahren schon, damit immer alles hübsch und ordentlich ist. Nie hat einer was gesagt – weil wir das immer am Wochenende gemacht haben. Diesmal haben wir die Handwerker in der Woche kommen lassen, und sofort stand der Bürgermeister auf der Matte. Wir hätten keinen Antrag gestellt. Man muss nämlich bei der Verwaltung beantragen sein Haus streichen zu dürfen. Den Antrag gibt es im Internet. Er ist 27 Seiten lang. 27 Seiten! Deshalb sieht in Frankreich oft alles so schrabbelich aus. Wer füllt denn 27 Seiten Antrag aus um zu streichen? Da lässt man es doch lieber schrabbelich.” Die Leipzigerin hat sich in Rage geredet, als das Telefon klingelt. Sie nimmt den Hörer ab, horcht kurz hinein, dann haut sie ihn wortlos wieder auf die Gabel. Ich gucke irritiert.
“Das war die Stadtverwaltung”, sagt Sabine. “Das war aber unfreundlich”, sage ich. “Da war kein Mensch dran”, sagt Sabine und rührt wütend in ihrem Kaffee. Ich wusste nicht, dass man wütend Kaffee umrühren kann, aber Sabine macht das gerade. “Die Verwaltung nutzt Telefonmaschinen, die einen JEDEN TAG ANRUFEN und einem mitteilen, dass man mit einer Antragstellung in Verzug ist. Oder einen Termin vereinbaren soll, wegen was-weiß-ich. Und manchmal sagen die Maschinen auch nur, dass der Vorgang nicht bearbeitet wurde. Acht Anrufe bekomme ich pro Tag von Maschinen aus der Stadtverwaltung! Das ist unmenschlich! Aber die Franzosen kennen das ja kaum anders. Schlimme Bürokratie, dazu ein Bildungsniveau bei den 35 bis 55jährigen, dass weit unter euopäischem Schnitt liegt… das kommt dabei raus! Ich will hier nur noch weg.”
Sabine blickt über die hübsch verzierten Wände. Dieses kleine Hotel ist ein Juwel, aber für Sabine ist es vom Traum zum Albtraum geworden. Als ihr Lebensgefährte unerwartet starb, konnte sie nicht einfach seinen Teil des Hotels übernehmen – das gestattet das Erbrecht in Frankreich nicht. Seitdem wird die Situation immer schlimmer. Das jahrelange Hin und Her hat Sabine frustriert, bis zu dem Punkt, wo sie nur noch hinschmeißen will. Sie ist wütend und gleichzeitig traurig, bis an den Punkt, dass ihr fast Tränen in die Augen steigen.
“Ich sage Ihnen, früher ist Ulrich Wickert immer in mein Hotel gekommen und hat hier auch einen Teil seiner Bücher geschrieben. Titel wie “Frankreich, die schöne Illusion” sagen doch schon alles. Wickerts Buch ist aber schon 20 Jahre alt, heute ist alles noch viel schlimmer. Ich schreibe auch bald ein Buch. Den Titel weiß ich schon: “Adieu le bleu”. Aber das schreibe ich erst, wenn ich dieses Haus verkauft habe, nach Italien gezogen bin und dort Ferienwohnungen vermiete!”
Zu gerne würde ich mich noch wieter mit Sabine unterhalten, Stoff dafür gibt es genug. Aber ich muss los. Meine Gedanken kreisen darum, ob das Motorrad wohl anspringt. Falls ja, dann steht mir heute eine weite Etappe nach Osten bevor. Oder, falls die ZZR wieder tot ist, zurück in die Werkstatt. Sabine zeigt mir zum Abschied noch die Tageszeitung. Schlimme Unwetter haben gestern die Region von Nizza verheert. So viel zu der Aussage des Werkstattmechanikers, in Nizza gäbe es nie Unwetter. Die Regenfälle folgen mir anscheinend.
Ich verabschiede mich von der schönen Leipzigerin. Es tat gut, dass wir uns beide gegenseitig mal so richtig auskotzen konnten. Ich über Kawasaki-Werkstätten in Nizza, sie über französische Bürokratie. Wobei mein Problem hoffentlich nur temporär war, Sabine muss sich mit ihrem Elend noch länger auseinandersetzen. Sie ist eine tolle Bekanntschaft, und ich bedaure weiter zu müssen. Aber ich bin auch gespannt, was das Motorrad jetzt macht.
Die Renaissance hat die Nacht unter den Palmen auf der Gästeterasse verbracht. Tatsächlich erwacht der Motor beim Druck auf den Startknopf problemlos zum Leben. Ich atme erleichtert auf. Hatten die Werkstattnasen doch recht und es war wirklich die Batterie, die über Nacht kaputt gegegangen ist? Habe ich mich dann gestern abend getäuscht, als ich meinte, der Hauptscheinwerfer sei schon wieder ausgefallen? Das wäre ja zu schön um wahr zu sein!
Tja. Wie auch immer, ich freue mich und heize die Kurven von Aspremont nach Nizza hinab. In Nizza selbst geht schon wieder kaum was, der Verkehr wälzt sich im Schrittempo durch die Straßen. Ich fahre an einigen tollen Monumenten vorbei, und habe im Stau stehend genug Zeit um die zu bewundern.
Das Motorrad wird mangels Fahrtwind schnell heiss. Der Lüfter läuft wieder dauernd und pustet mir die Abwärme des Motors um die Ohren. Ich bin froh, als es über eine Rampe auf eine Hochstraße geht, die in die Berge führt. Hier oben kommt man etwas besser voran.
Auf der Küstenstraße bietet sich plötzlich ein krasser Anblick: Wolken über die Straße. Ich halte an um die zu fotografieren. Das Bild ist irre: Die Wolken kommen von der See und scheppern hier an die Steilküste. Dick und Wattig türmen Sie sich an den Felsen auf und hängen in den Bäumen.
Als ich die Kamera wieder wegstecke und auf den Starter drücke, passiert: NICHTS.
Das Motorrad ist tot.
Ich stöhne gequält auf. Also hatte ich doch recht. Das die neue Batterie bis hier hin gehalten hat war Zufall, auch sie wird nicht geladen. Zum Glück habe ich den Platz zum Halten schon danach ausgesucht das er großzügig und leicht abschüssig ist. Wäre die Kiste direkt auf der Küstenstraße verreckt, dann wäre das wirklich gefährlich. Ich stemme die Hacken in den Boden und schiebe das Motorrad Stück wür Stück rückwärts, gegen eine leichte Steigung und unter angemessen großem Stöhnen.
Vor mir liegen nun 20 Meter leicht abschüssige Strecke. Knapp, aber könnte klappen. Ich stoße mich mit den Fußspitzen ab und rollere das Motorrad wie ein Laufrad über den Parkplatz. Langsam, warten… warten… Kurz vor Ende der Haltebucht kicke ich mit dem linken Fuß in den dritten Gang und kuppele. Die Maschine bockt, dann jault der Motor auf. In dem Moment kuppele ich schon aus, greife in die Bremse und komme einen Meter vor dem Zaun am Ende des Parkplatzes zum Stehen.
Ich kann mein Glück kaum fassen. Vorsichtig lasse ich den Motor laufen, ziehe das iPhone raus und konsultiere gleich mal das Internet nach einer Kawasaki-Werkstatt in Genua, meinem nächsten Ziel. Zurück nach Nizza will ich nicht, weder dem “hier gibt es NIE Unwetter”-Mechaniker noch der Blasebacke traue ich eine Problemlösung zu.
Die Suchergebnisse für Genua sind wenig vertrauenserweckend. In Italien gibt es kaum echte Kawasakiwerkstätten. Für Kawasaki Bootsmotoren, ja, aber nicht für dioe Motorräder. Ein Eintrag findet sich, der eine Kawasaki_Fachwerkstatt für Zweiräder zu sein scheint, nebenbei aber noch Suzukis, Yamahas und Trecker macht. Sind bestimmt voll die Spezialisten. Ich presse die Lippen zusammen und stecke das iPhone weg, dann setze ich den Weg Richtung Westen fort. Die Küstenstraße ist breit und kurvig und schön zu fahren, aber ich steuere da eher mechanisch dran entlang, meine Gedanken sind woanders.
Um Monaco herum ist wieder der ewige Stau, wie immer. Wenn es mal kurz vorwärts geht, fahren die Leute extrem langsam, vermutlich um entweder gesehen zu werden oder sich die Landschaft anzugucken. Ich bin sehr gereizt. Während die Dämlacks hier eine Runde gemütlich sind, geht mir das Mopped in die Binsen: Durch die langsame Fahrt wird es viel zu heiß, und wenn die Lichtmaschine nicht arbeitet, wird irgendwann wird die Batterie zu schwach sein um den Lüfter des Kühlers zu versorgen. Dann wird der Motor explosionsartig überhitzen, und DAS wird verheerende Folgen haben, bis hin zum Motorschaden.
Meine Gedanken kreisen in einem Leerlauf aus Wut und Konzentration auf die nächsten Schritte.
Und plötzlich weiß ich, was ich tun werde. Ich sehe es genau vor mir. Das gesamte Vorgehen und jeden einzelnen Handgriff.
Beschwingt gebe ich Gas, überhole einen Rentner in einem Cabri-Olé-Olé und fühle mich gleich besser. Ich habe einen Plan. Jetzt muss ich nur noch aus diesem Land raus, denn HIER werde ich nix machen.
Das “nur noch” gestaltet sich als schwierig, denn vor der Grenze zwischen Cote d´Azur auf der französischen Seite und Costa Martina auf der italienischen liegt der Ort Menton. Äußerlich hübscher Bade- und Kurort, steht Menton in Sachen Verkehrsinfarkt Nizza in nichts nach. Die Erfahrung habe ich schon vor zwei Jahren gemacht, als ich auf der Autobahn über Menton in der Hitze fast umgekippt bin, weil die Taxifahrer einen Protestcorso über die Zufahrt gefahren sind. Heute ist es noch schlimmer.
Stau, Ampel, Stau, Stau… mein verkrüppeltes und heißlaufendes Motorrad schleppt sich durch die verstopfte Stadt und in die Berge. Hier geht es endlich auf die Autobahn, und 10 Minuten später bin ich über die Landesgrenze und in Italien.
Gleich die erste größere Raststätte bietet exakt was ich suche: Ein Fläche, die eben genug zum Parken ist, aber auch leicht abschüssig ist. Das das ausgerechnet eine Sperrfläche zwischen zwei LKW-Spuren ist – geschenkt.
Ich parke die Renaissance quer auf der Sperrfläcge und stelle den Motor ab. Dann koppele ich alle Koffer vom Heck und stelle sie an den Straßenrand, Helm und Jacke werfe ich daneben. Dann kommt die Sitzbank runter, unter der sich das Bordwerkzeug befindet. Mit dem mache ich mich an der Seitenverkleidung zu schaffen. Wer braucht schon eine Werkstatt? Ich habe das Werkzeug UND vermutlich sogar das richtige Ersatzteil. Warum nicht selbst machen?
Bei einer normalen ZZR wäre das Abnehmen der Seitenverkleidung eine Sache von fünf, ach was, von ZWEI Minuten. Bei der Renaissance wurde aber ein guter Teil der Halterungen durch den Gepäckträger getauscht, der über den Seiten und dem Heck sitzt. Das Ding muss zur Hälfte runter, was der schwierige Part ist.
Irgendwann habe ich die größten Anbauteile abgenommen und andere gelockert, aber die Plastikverkleidung am Heck will einfach nicht abgehen. Wo haben die Japaner bei der Konstuktion der ZZR 600 überall Schrauben zur Befestigung versteckt? ein halbes Dutzend habe ich schon gefunden, aber wo sitzt letzte Schraube?? Oder ist das hier nur eingeknöpft…
– Knack.
Die letzte Halterung habe ich tatsächlich gerade abgebrochen.
Egal. Weiter.
Ich kann die Seitenverkleidung nun unter dem Gepäckträger vorziehen. Ganz nackt ist das Motorrad jetzt, nur noch ein Gerippe.
An der Seite ist der verdammte Energieregler für den Ladestrom freigelegt. Für einen fürchterlich langen Moment würge ich an dessen Befestigung rum, dann löst sie sich, und das Teil kommt frei.
Aus dem rechten Koffer hole ich ein schweres, in Folie eingewickeltes Paket. Mit einem Taschenmesser trenne ich die Hülle auf. Zum Vorschein kommen Bowdenzüge, Flüssiges Metall, Superkleber, Elektroklemmen… ah, da! Da ist ein kleines Päckchen, eingewickelt in Schaumstoff, extra geschützt in einem wasserdichten Ziplock-Beutel.
Das ist der Lichtmaschinenregler, den ich vor meiner zweiten großen Reise für genau diesen Fall gekauft habe. Bei der ZZR600 versagen die Lichtmaschinenregler nämlich häufig, und die Symptome sind diverseste Probleme mit der Elektrik, von einer leeren Batterie und Startproblemen bis hin zu ganz merkwürdigen Sachen. Werkstätten diagnostizieren das gerne als defekte Batterie oder kaputte Lichtmaschine. Einem Kumpel von mir haben zwei Werkstätten gleich zwei LiMas verkauft, dabei war es nur der doofe Regler. In dem ZZR-Forum, in dem ich unterwegs bin, hat es gefühlt schon jede zweite Maschine erwischt. Und nun auch mich.
So, der neue Regler ist montiert und angeschlossen. Er hat weniger Steckerpins als der alte, aber hey, den hat mir der Zauberer aus dem ZZR-Forum verkauft. Der WEISS was geht, und falls der Regler nicht der richtige wäre, hätte er mir das gesagt. Sicherheitshalber schreibe ich ihm noch kurz eine Mail, und bekomme postwendend die Antwort: Nee, alles gut, Regler mit weniger Pins sind sogar besser. Na, wer sagt es denn!
Ich montiere die Seitenverkleidung wieder. Der abgebrochene Zapfen fällt gar nicht auf, alles schließt wieder bündig. Was nicht schliesst ist der Gepäckträger. Der stand schon immer unter Spannung, und viele Schläge und Stöße auf den Schlaglochenstrecken der letzten 40.000 Kilometer haben ihn noch weiter deformiert. Jetzt sind die Rohre so verzogen, dass die einzelnen Teile nicht mehr fluchten. Seufzend löse ich auch die andere Seite des Gepäckträgers, dann versuche ich Stück für Stück und abwechselnd alles wieder zu befestigen.
Es ist ein Kraftakt, ein hängen und würgen. Mit einer Hand versuche ich den Rohrrahmen in die richtige Position zu biegen, um dann mit der anderen Hand Schrauben durchzustecken und anzuziehen. Die Sonne kommt raus und brennt mir auf den Kopf. Ich merke das erst, als der Schweiß in großen Mengen aus mir raus und in die Schrauberei tropft.
FrickelFrickel. Hier etwas biegen, da eine Schraube weiter anziehen. Fluchen, hoffen das die Schraube greift.
Endlich, nach einer Stunde, ist alles wieder an seinem Platz. Meine Hände sind total verdreckt und ich bin klatschnass geschwitzt, aber glücklich.
Ich kann es kaum glauben, dass ich alles wieder zusammen habe. Aber wird das Motorrad auch anspringen? Falls nein: Nichts verloren, dafür ist der Parkplatz abschüssig, hier kann ich sie anrollen lassen. Ich setze mir den Helm auf den nassen Kopf und drücke den Startknopf. Sofort springt die Maschine an, der Motor läuft! “Wooohoooo”, rufe ich und geben Gas, ab auf die Autobahn! Wenn meine Vermutung stimmt, wird der neue Regler jetzt die Batterie ordentlich durchladen, und alle Probleme sind erledigt.
Ich heize die Costa dei Fiori entlang, an der sich die Autobahn durch Tunnels und über Brücken durch die Landschaft hackt. Von den Brücken aus sehe ich Orte wie das verwurschtelte Imperia, dessen Kirche hoch über dem Ort thront, aber auf einer Höhe mit der Autobahn ist. Die Autos fahren quasi direkt am Kirchenraum vorbei. Man stelle sich einen Gottesdienst vor, der direkt neben der Autobahn stattfindet. Von oben lässt sich auch prima auf die Gewächshäuser hinabblicken, die auf Terassen in die Berhänge gebaut sind. Von hier kommen fast alle Schnittblumen Italiens, deswegen heißt die Region “Blumenküste”.
Die Autobahn kostet Maut, aber das ist mir heute egal. Bloss nicht wieder irgendwo in einem Kaff Teil des Verkehrsinfarkts sein. Stattdessen Geschwindigkeit auf der Straße, den Wind im Gesicht und Strecke machen. Auf der Autobahn lege ich in zwei Stunden so viel Strecke zurück wie in 10 Stunden entlang der Küstenstraße. Hier kann man tatsächlich Zeit durch Geld substituieren.
Das italienische Mautsystem ist viel besser als das französische, hier gibt es nur beim ein- und ausfahren Mautstationen, nicht alle paar Kilometer auf laufender Strecke. Dafür können die Italiener keine Tankautomaten. Ampeln können beide Nationen nicht, aber dafür haben sie ja Kreisel.
Meine ideale Verkehrswelt besteht aus französischen Geschwindigkeitsbegrenzungen und Kreiseln, Autobahnen mit italienischem Mautmodell, Tankstellen mit französischer Abrechnungstechnik, und alle Verkehrsteilnehmer fahren bitte so zügig und mit Augenmaß wie Italiener und so geschickt beim Reißverschlusssystem wie die Franzosen. Das wäre das Beste aller Welten, das idelae Verkehrsmodell. Vom deutschen Verkehrsverhalten kommt in dieser idealen Welt darin nichts vor. Die deutschen dürfen die Autos dafür bauen, aber nicht fahren. Ich muss selbst über diesen Blödsinn kichern, den sich mein Hirn da zusammenspinnt. Mein Gott ist es heiss. Und ich habe gute Laune, weil das Motorrad wieder läuft!
Vor mir taucht Genua auf. Schon von Weitem sehe ich die vertrauten Krananlagen der Häfen. Die Costa Concordia, das Unglücksschiff von Giglio, liegt immer noch in einem einzelnen Becken, wie eine Aussätzige auf einer Isolierstation.
Kurz bevor ich von der Autobahn abfahre, kuppele ich bei voller Geschwindkeit aus und kille den Motor mit dem Not-aus-Schalter. Dann drücke ich auf den Starter – sofort springt das Motorrad an. Ich grinse zufrieden. Ob sich das Problem wirklich erledigt hat, lässt sich natürlich noch nicht mit Sicherheit sagen. Aber es lässt sich gut an, im doppelten Sinne des Wortes.
Genuas Stadtverkehr ist nicht ganz so höllisch wie der von Nizza. Die hässliche Sopraelevata, die Stadtautbahn auf Stelzen, verschandelt zwar die Seeseite der Stadt, aber sie ist auch ein Bypass, der alles am Fließen hält und das Herz der Stadt stark entlastet.
Beim alten Hafen fahre ich ab und lasse das Motorrad in einer Seitengasse zurück.
Ich genieße es, wieder hier zu sein. Zuletzt war ich gefühlt gestern hier, dabei ist das auch schon wieder 16 Monate her. Im Februar des vergangenen Jahres sah die Stadt ganz anders aus. Heute ist sie quirliger, aufgeweckter, bunter – aber immer noch nicht laut oder unangenehm. Im Alten Hafen gibt es neue Kunstwerke.
Und eine wirklich gruselige Alice-Ausstellung an denen Wintermädchen ihre Freude hätte. Die Werke von Emanuele Luzzati und Stefano Bessoni sind alptraumhafte Collagen.
Dann gehe ich in die Stadt und sofort in den Gassen verloren, denn Verlaufen gehört in der größten Altstadt Europas dazu. In den Motorradklamotten ist das schweißtreibend. Ich kann spüren, wie Tropfen im Inneren des Anzugs entlangrollen, aber ich genieße jede Minute. Ich liebe Genua, diese Mischung aus alter Grandezza und untouristscher Geschäftigkeit.
Auf dem Rückweg stelle ich erfreut fest, dass der Bigo endlich mal geöffnet hat. Das ist die vielarmige Metallkrake, an deren einem Ausleger eine Besucherkapsel ist. Darin kann man sich hochziehen lassen und Genua von oben angucken. Das lasse ich mir nicht entgehen, und tatsächlich ist der Ausblick phänomenal!
Hier der Tag bis hierher als Video, inkl. Aussicht vom Bigo:
[wpvideo ztEolAFu]
Das Motorrad springt sofort an, und mit einem breitem Grinsen im Gesicht fahre ich an Staglieno vorbei und in die Berge. 45 Kilometer westlich von Genua, zwischen den grünen Hängen der Berge von Ligurien, liegt Oma Normas Haus. Hier habe ich vor vier Jahren schon übernachtet, und auch heute werde ich herzlich von der kleinen und irgendwie vogelartigen Dame empfangen.
Ich bekomme sogar das gleiche Zimmer wie beim letzten Mal, was super ist – ein geräumiges Zweibettzimmer mit Schreibtisch und einem riesigen, modernen Badezimmer.
Der Abend klingt im SetteBello aus, einem netten und unerwartet noblem Restaurant an der Hauptstraße Ferrada. Die Foccaccia Pizzata ist etwas dunkel geraten, aber dennoch lecker.
Ich kann auch nicht mehr. Das alles heute – Fahrtstrecke, die Aufregung wegen der technischen Probleme, die schweißtreibende Reparatur in praller Sonne und der noch schweißtreibendere Spaziergang durch Genua, das alles hat sehr viel Energie gekostet. Urlaub als Leistungssport.
Aber egal. Als in Oma Normas Haus zurückkehre, zwinkere ich der ZZR kurz zu. Die Maschine läuft wieder. Ich bin schon ein Held.
Lesen Sie nächste Woche in Teil 4: Kein Held
Zurück zu Teil 2: Nicht mein Tag.