Reisetagebuch Sizilien (4): Barock
Montag, 10. Oktober 2016, Casale San Basilio, 10 km südlich von Caltagirone
Die ehemaligen Keltereihalle des Weinguts ist riesig. Sie ist bestimmt 10 Meter hoch, die mächtigen Wände mit den kleinen Fenstern sind aus grauem Naturstein gebaut und bestimmt ein paar hundert Jahre alt. Banner hängen von der Decke, was den Eindruck noch mehr verstärkt, dass das hier eigentlich eine alte Burg ist. Früher sind hier die Leute in Bottichen rumgesprungen um die Trauben zu zerstampfen. Heute dient die Keltereihalle als Frühstückssaal. Ich sitze mit einem Frühstückscaffé auf einer Holzgalerie, die sich gut 5 Meter über dem Boden an der Außenwand der Halle langzieht. Von hier oben kann ich die ganze Halle überblicken. Ich bin alleine hier. Irgendwo eine Etage tiefer murkelt Salvo an einer Espressomaschine herum und pfeift ein Lied. Ein seltsamer und ruhiger Moment der Ruhe.
Wenig später brummt der kleine Twingo übers Land, weiter nach Osten. Wieder fällt mir auf, wie anders das Reisen mit dem Auto im Gegensatz zum Motorrad doch ist. Im Auto kann ich schnell mal nach der Wasserflasche greifen und was trinken, die Temperatur so einstellen wie ich mag, ich kann nebenbei Podcasts hören und die Landschaft angucken. All das geht auf dem Motorrad nicht oder nur umständlich. Damit hört sich Autofahren zwar besser an, aber der Preis für die Bequemlichkeit ist die Entkoppelung von der Straße und den Elementen. Ein Beispiel: Das Auto hat eine Klimanlage – damit wird meinem Erleben die Erfahrung der Gluthitze genommen, die außerhalb des Wagens herrscht. Das Reisen per Auto reduziert die sinnliche Er-fahrung des Landes. Autofahren ist vielleicht komfortabler – aber was man dadurch an Eindrücken mitnimmt ist gedämpfter, nicht so stark und eindeutig.
Die Fahrt dauert heute Morgen auch nicht lang, nur knapp eine Stunde. Dann umrunde ich auf einer Straße, die sich am Rande einer Schlucht entlangzieht, einen großen Felsen in der Talmitte, auf dem eine Stadt thront: Ragusa, bzw. die Altstadt von Ragusa, die passenderweise “Ibla”, Insel, heisst. Und tatsächlich thront die Ibla wie eine Insel über dem Grün des Tals.
Man sollte nicht am Fuß der Ibla parken und und dann hinauf laufen, obwohl das sicher auch ginge. Der Aufstieg ist lang und beschwerlich, und ich bin froh, dass ich das nicht machen muss. Google Streetview ist mir bei der Vorbereitung auf solche Orte ein unverzichtbares Werkzeug. Damit gucke ich vorher nach Parkplätzen, denn der Urlaub ist zu kurz um ihn mit nerviger Sucherei zu verbringen.
Ich fahre ein Mal um die Stadt rum und kurve auf der Rückseite eine kleine, supersteile Bergstraße hinauf, und da ist auch schon der perfekte, gebührenfreie Parkplatz unter schattenspendenden Bäumen. Genau dort, wo ich ihn bei Streetview gefunden hatte.
Ragusa ist eine beschauliche, kleine Barockstadt. Genau wie einige andere Städte hier im Umkreis wurde sie beim großen Erbdbeben im Jahr 1693 komplett zerstört und danach im Barockstil wieder aufgebaut. Ragusa ist nicht die einzige Stadt, mit der das passiert ist. Es gibt noch weitere Orte im Val di Noto, die um 1700 rum vernichtet und als barocke Idealstädte neu gebaut wurden. Sie stehen bis heute und sind ziemlich einzigartige Zeugnisse einer Epoche, wie sie sich auf dem eruopäischen Festland nicht mehr finden lassen.
Der Marktplatz ist heute morgen noch leer, es ist auch gerade erst halb zehn.
In einem Café sitzen ein paar Gäste, der Kellner trägt Frühstückstabletts nach draußen. In einem Sparmarkt schwatzen Kassiererin und Kundin. Der Eismann fährt vorbei. Hä? Tatsächlich. Der Eismann.
Der Dom von Ragusa ist innen schlicht gehalten. Das unterscheidet den italienischen vom kontinentaleuropäischen Barock. Beim deutschen Barock wäre hier alles voller kleiner, fetter Putten die goldene Harfen spielen oder sich gegenseitig an den Geschlechtsteilen ziepen. Hier nicht. Hier gibt es klare Linien, aber kein Gebömmsel.
Ragusa ist nett und ruhig und unspektakulär, und nach einer Stunde summt der Twingo weiter. Die Landschaft überrascht mich. Der Westteil der Insel, durch den ich gestern gefahren bin, war braun und verbrannt und dünn besiedelt. Hier, im Ostteil, ist das Land sattgrün. Kühe weiden auf Wiesen voller Klee, Steinmäuerchen dienen als Begrenzung, und überall stehen schmucke und neue Häuschen herum.
Nur 30 Kilometer entfernt treffe ich Signora Cerutto. Die alte Dame ist schon in den Siebzigern, aber sie zeigt mir die Wassermühle, die Ihre Familie seit 4 Generationen führt.
Die ist was besonderes, denn das Wasser kommt in einem plätschernden Rinnsal vom Berg gepladdert, wird dann in einem Bassin auf dem Dach des Mühlhauses gestaut und fällt dann 11 Meter nach unten, um in einer Höhle unter dem Haus ein vertikales Wasserrad anzuteiben. Wil das noch nicht seltsam genug ist, haben die Ceruttos ihr Haus vor eine Felswand mit Höhlen drin gebaut. Ich laufe kreuz und quer durch ihr Haus und komme immer wieder von normalen Räumen in Höhlen. Die Wäscherei ist eine Höhle, durch die ein Teil des Wassers vom Berg fliesst. Dort konnte man seine Wäsche mit frischem Bergwasser waschen.
Das Wasser fällt durch einen Trichter 11 Meter in die Tiefe, wo es in einer Höhle unter dem Haus ein Mühlrad antreibt.
Als ich denke, dass der Rundgang vorbei ist, treibt mich Signora Cerutto in einen weiteren Raum, in dem sich tatsächlich noch die Mühlsteine drehen. “Wir machen hier immer noch Mehl”, sagt sie stolz und zeigt mir alle Apparaturen und Werkzeuge. Zu ihrer Enttäuschung will ich kein Mehl von ihr kaufen, aber über Besuch hat sie sich allemal gefreut.
Um das alte Mühlhaus herum sind Felder angelegt. Damit der wertvolle Mutterboden nicht bei Regenfällen davonschwimmt, sind überall Natursteinmauern angelegt, zwischen denen der Weg verläuft. Ich wandere ein wenig herum und finde zwei Höhlen.
Das Land der Ceruttos liegt übrigens an der Cava d´Ispica, aber die besuche ich nicht. Anders als der Name impliziert ist das keine Höhle, sondern ein Tal. Ein spektakuläres Tal, aber man muss Zeit mitbringen, um die 13 Kilometer zu bewandern. Das will ich nicht.
Ich will lieber in Noto im Schatten sitzen und ein wenig relaxen. Noto ist die bekannteste und schönste der Barockstädte, jedes Gebäude an der Hauptstraße ist in diesem Stil gebaut. Wegen des überbordenenden Schmuckwerks und den vielen Engelsfiguren mag ich nordeuropäischen Barock nicht, aber der italiensiche Ableger ist schlichter. Statt auf Gipsputten setzt man hier auf klar Linien, die verweinkelt und organisch gebrochen werden auslaufen. Das findet mein Auge ebenso irritierend wie, in der Summe, ästhetisch. Dazu kommen die warmen Farben. Alles hier schein aus einer Art Travertin gebaut zu sein, der Stein hat eine warme, beige Farbe, die teilweise in ein freundliches Orange übergeht.
Ein naher Kiosk hat mir eine Arancina verkauft und dazu einen Teigfladen, der um eine Füllung aus einem Käse und Erbsen mit Zwiebeln geschlagen ist. Schmeckt fast nach nichts, ist aber interessant.
Ich bin von dem Erbsending so fasziniert, dass ich gar nicht merke wie plötzlich ein Junge vor mir steht. Er ist vielleicht 8 oder 9. An seinem mageren Körper hängt ein zu großes, grünes Sportrikot. Auf seiner rechten Hand sitzt ein Wellensittich. “Geh. Weg.”, sage ich. “Keine Angst, ist ein schöner Vogel”, sagt der Junge. Der Wellensittich guckt doof. “GEH. WEG.”, sage ich lauter. Blitzschnell setzt der Junge mit den Wellensittich auf die Schulter.
“Nimm den weg!”, sage ich.
“Geld”, sagt der Junge.
“Nimm den weg”, sage ich und gucke mich um, ob der Junge allein und nur ein Bettler ist oder eine Ablenkung für einen Taschendieb.
“Geld, sagt der Junge.
Ich setze meinen bösesten Blick auf und sage:
“NIMM DEN VOGEL WEG!”
“GELD!”, sagt der Junge.
Jetzt wird es mir zu blöd. Ich hatte selbst lange einen Wellensittich, ich weiß, wie man die Dinger von den Klamotten pflückt. Aber auch jetzt ist der Junge schneller. Als er meine Handbewegung sieht, greift er seinen Vogel und läuft davon.
Interessant, diesen Betteltrick kannte ich noch nicht.
Ich schlendere ein wenig durch Noto. An Marktständen am Straßenrand werden Mandeln frisch aufgeschlagen und verkauft. Auch Kunsthandwerk gibt es zu sehen, genau wie den unvermeintlichen Touristenkitsch. Dann fahre ich weiter, weil ich zu viel Zeit habe, in langen Schleifen. Im Radio wird vom US-Wahlkampf berichtet und Trumps “Locker Room Talk” von “Grab´them by the pussy” eingespielt. Ich verziehe das Gesicht vor Ekel.
Am Abend komme ich in Avola an, was direkt an der Ostküste und am Meer liegt.
Meine Unterkunft liegt in einer Straße, die aussieht wie ein Abbruchgebiet. Halbfertige Betonbauten, unverputzte Häuser, manche schon wieder am verfallen. Mittendrin liegt das Haus von Cinzia und ihrer Familie, dass sie zum Bed & Breakfast umgebaut haben. Und das sehr aufwendig, die Zimmer sind neu renoviert.
Cinzia hat allen ein Thema gegeben. Das griechische Zimmer, zum Beispiel, ist nur in Blau und Weiß gehalten. Ich bin im Zimmer “Provencale” untergebracht, und ich weiß auch sofort warum: Es ist lila, überall.
Ich werfe meine Sachen ab und gehe zu Fuß in die Stadt, was sich nicht wirklich lohnt. Das Stadtzentrum ist eine stark befahrene Kreuzung, in deren Ecken die Einwohner von Avola in Cafés abhängen.
Ich marschiere durch die Nacht zurück in mein lila Provence-Zimmer und lasse den Tag einen Tag sein, in dem ich das Rededuell zwischen Clinton und Trump anschaue. Clinton zieht Trump an seiner pfeifenden Nase durch die Arena. “Listen to what you just heard!”, sagt sie und demontiert ihren Kontrahenten. Es ist ein Vergnügen dabei zuzusehen. Damit sollte sie den Durchmarsch des Faschisten gestoppt haben. Zufrieden mache ich das Licht aus.
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4 Gedanken zu „Reisetagebuch Sizilien (4): Barock“
Seufz…
Wie die FluhafenSecurity wohl auf den Pack Mehl im Gepäck reagiert hätte? 😀
Rüdiger: Vermutlich sofort getasert und verhaftet…
Hach, so schön… ich bin allerdings schon gespannt, wie du dich von deinem neuen, treuen, kleinen, schnuckligen roten Freund trennst… das ist doch sicher schwer nach so einer teils beschwerlichen Reise? (Das “beschwerlich” beziehe ich jetzt auf einen anderen Teil der Strecke…du weißt schon…) Wiesel ist doch wohlauf?
Viele Grüße Miki