Reisetagebuch Sizilien (5): Der Einschlag
Dienstag, 11. Oktober 2016, Avola
Als ich um kurz nach Sieben wach werde ist es ganz still in der Villa Maris. Gastgeberin Cinzia ist schon aus dem Haus und geht ihrer echten Arbeit nach. Der Gasthausbetrieb ist, bei aller Professionalität, nur ein Nebenjob von ihr und ihrem Mann.
Ich packe meine Sachen und werfe sie in den Twingo, dann fahre ich ein Mal um die Ecke. Dort liegt das Meer, und, eingekeilt zwischen mehreren Betrieben zur Fischverarbeitung, eine Strandbar.
“Moin. Ich komme von der Villa Maris”, sage ich und lege dem Mann hinter der Theke einen Zettel mit Cinzias Unterschrift hin. “Ah, klar, such Dir was aus!”, sagt er.
Wenig später steht ein doppelter Espresso vor mir, und während ich den Ausblick auf das Meer in der Morgensonne genieße, mümmele ich ein Cornetto, das mit dickem, sämigen Vanillepudding gefüllt ist. Auf Sizilien versteht man zu Essen, und gerade Süßspeisen können die wirklich.
Siracusa liegt nur 25 Kilometer von Avola entfernt. Der morgendliche Stadtverkehr ist wirklich chaotisch, aber mit Italienischem Stadtverkehr habe ich keine Probleme (Mit Ausnahme von Neapel, aber das ist kein Straßenverkehr, das ist Autoscooter). Italiener fahren instinktiv, aufmerksam und schauen sich viel um, anders als die Deutschen, die erst den Kopf aus dem StVO-Regelwerk ziehen, wenn es gekracht hat.
Krachen tut es erst, als ich schon in der Nähe des Parco Arceologico geparkt habe. Der nächste Tourist hat sich so über das Winken des Parkweinweisers so erschreckt, dass er mit seinem riesigen Geländewagen viel zu dicht an meinen kleinen Twingo rangefahren ist. Zwar öffnet er die Tür noch umsichtig, aber als er seine Plautze aus dem SUV hieft ist es mit der Vorsicht vorbei und er haut seine Tür ins Blech des feuerroten Spielmobils. “EY!”, brülle ich und gucke böse. Meine Mietkaution hätte ich schon gerne wieder.
Zum Glück ist nichts passiert, und ich laufe Richtung Archäologiepark. Dort wird man von zahlreichen “Bigletteria”-Schildern in die irre geführt. Folgt man ihnen, muss man sich durch lange Gänge voller Verkaufsstände mit Kinkerlitzchen und Andenken, belegten Brötchen und kalten Getränken schieben. Dort gibt es aber gar keine Tickets. Die gibt es in einem Häuschen ein Stück hinter dem Hier-gibt´s-alles-Platz, alternativ kann man auch direkt in den Park laufen und dort Tickets kaufen.
Mit Tickets erhält man Zugang zu den antiken Steinbrüchen mitten in Syrakus. Dort gibt esso einiges zum Angucken, u.a. ein römisches Amphitheater, ein griechische Theater und das Ohr des Dionysius. Es gibt wenige Orte, an denen sich der Unterschied zwischen einem Theater nund einem AMPHI-Theater besser sehen lässt. Das Amphitheater ist immer rundrum mit Zuschauerrängen gesäumt. Bei einem THEATER gibt es für die Zuschauer nur ein Halbrund gegenüber der Bühne.
Das “Ohr des Dionsysius” ist eine große Spalte in einer Felswand. Sie ist der Eingang zu einer 64 Meter tiefen, künstlichen Höhle. Auch hier wurden Steine abgebaut. Durch die Form der Höhle kann man am Eingang recht genau verstehen, über was sich Personen am Ende der Höhle unterhalten. Der Sage nach hat sich das König Dionysus der Erste zu nutze gemacht, in dem er Gefangene hier unterbrachte und sie heimlich belauschte.
Das “Ohr” liegt mitten in der “Latomia del Paradiso”. Die Latomien sind alte Kalksteinbrüche, aus denen in der Antike Material für den Bau von Siracusa gewonnen wurde. Zurückgeblieben ist ein bizarr zersägtes Gelände, das heute von üppiger Vegetation überwuchert ist. Als Besucher flaniert man auf Holzstegen und Steinpfaden durch dichte Papyruswälder, geht an hüfthohen Wiesen vorbei und bewundert bizarr verdrehte Kiefern, die auf Felsen wachsen. Das ist schon sehr faszinierend und entspannend, und unter dem Blätterdach ist es vor allem: Kühl! Denn auch, wenn bereits Mitte Oktober ist und der Rest von Europa schon friert: Auf Sizilien sind gerade fast 30 Grad und strahlender Sonnenschein.
Eine Stunde später sitze ich wieder im Twingo und fahre in Richtung Syrakuser Altstadt. Die liegt auf einer Halbinsel, und auf der Straße dahin gibt es viele Ampeln, was für Sizilien total ungewöhnlich ist. Ampeln habe ich hier bislang sehr selten gesehen, aber Siracusa ist voll davon.
Als ich mal wieder an einer roten Ampel halten muss, kommt links von mir ein weiteres Auto zum Stehen, und zwischen das Auto und mich quetschen sich im nu ein halbes Dutzend Motorroller. Als die Ampel grün wird fahre ich an und ziehe etwas nach rechts rüber, damit die Vespas etwas mehr Platz haben. Der Twingo ist halb über die Kreuzuung, als plötzlich ein Schlag durch den Wagen geht und ein lautes Krachen zu hören ist. Im Reflex zucke ich weg vom Seitenfenster, falls das splittern sollte. Tut es zum Glück nicht. “Was war das??”, schießt es mir durch den Kopf. Irgend etwas ist gerade in die Fahrerseite des Twingo eingeschlagen – aber was?? Ich will in den Seitenspiegel gucken, aber der hängt verdreht herunter. Keine Ahnung, was gerade das Auto getroffen hat, es hat auf jeden Fall den Seitenspiegel abgerissen.
Die Straße ist breit und ich kann gefahrlos rechts ranfahren und anhalten. Vor mir hält eine Vespa mit einem älteren Paar. Die habe ich im Rückspiegel gesehen als ich an der Ampel stand, die waren neben mir. Beide tragen Jethelme und verspiegelte Sonnenbrillen und gucken mich an. Ich steige aus und sehe mir den Twingo an. Der Spiegel ist nur ausgehakt und hängt an einem Kabel aus der Halterung. Er lässt sich wieder sich zurück ins Gelenk drücken und schnappt dort ein. Auch ansonsten sieht alles gut aus, der Wagen hat nicht mal einen Kratzer. Ich verriegele den Twingo und gehe zu den beiden hinüber. Wie Betrüger sehen die nicht aus, das war wohl wirklich ein Unfall.
“Tutto bene?”, will ich wissen, “alles gesund?” Der Fahrer erzählt mir mit ernstem Gesicht irgendwas in sizilianischem Akzent, das ich nicht verstehe, die Dame auf dem Soziasitz zeigt auf ihren Knöchel. Er gestikuliert in Richtung seines Vorderradblechs. Die Kommunikation ist gerade albern, ich verstehe ihre Worte nicht und kann nicht mal die Mimik der beiden lesen, dank der riesigen, verspiegelten Sonnenbrillen.
“Tutto BENE?”, frage ich erneut und lauter. Ich habe keinen blassen Schimmer was passiert ist, vermute aber, das Signore beim Anfahren schlicht umgefallen ist. Oder er hat sich anderweitig verschätzt und ist deshalb mit meinem Twingo kollidiert. Ist aber auch egal, denn was auch immer passiert ist: Es ist nicht meine Schuld, ich habe keinen Schaden, und die beiden sollen einfach nicht weiter rumdiskutieren und die Flatter machen. Ich habe überhaupt gar keine Lust darauf jetzt die Polizei zu holen und den Rest des Vormittags damit zu verbringen, einem Lokalpolizisten auseinanderzusetzen, dass Signore Vespafahrer umgefallen ist.
“Tutto bene, certo”, brummt der Fahrer schließlich. Seine Sozia fingert an ihrer Sandalette rum und zeigt immer wieder auf ihren Knöchel. Nun, DER hat den Twingo mit Sicherheit nicht touchiert, das sähe man in der mittlerweile millimeterdicken Schmutzschicht auf dem Wagen. “D´Avvero?!”, will ich wissen. Sind sie sicher? “Si, si”, sagt der Fahrer und dann mache ich Schuuh-Schuuh-Bewegungen und gehe zum Auto zurück. Die beiden fädeln in den Verkehr zurück und sind verschwunden.
Als ich wieder im Auto sitze und einen Kilometer vom Unfallort entfernt bin, fangen meine Hände an zu zittern. Ich fahre rechts ran und atme tief durch. Ich kenne das von mir: In unerwarteten und Notsituationen bin ich voll da und handlungsfähig, aber später, wenn Zeit dafür ist, dann kommt das Zittern und ein Moment der Sprachlosigkeit. Der dauert zum Glück nicht lange, ist ja auch nichts passiert. Ich muss nur mal die Anspannung ausatmen und die Bilder verdrängen, was hätte passiert sein können.
Der Kern der Altstadt von Syrakus liegt auf der Halbinsel Ortygia, die über zwei Brücken mit dem Festland verbunden ist. Am östlichen Teil liegt der Parcheggio Talete, ein großer, als Schutz gegen die Sonne unterirdisch angelegter Parkplatz. Mein Miniauto findet sofort einen Platz darin, währendum mich rum Limousinen und SUVs dutzende Male zwischen den Säulen hin- und hermanövrieren müssen.
Fast zwei Stunden schlendere ich durch Siracusa, über den Fischmarkt, an den römischen Ruinen vorbei zum Dom, am Hafen entlang zum Strand und wieder zurück. Alles wirkt wenig touristisch, obwohl überall Touristen unterwegs sind. Syrakus ist eine störrische, kleine Stadt, die sich von Fremden nicht aus der Ruhe bringen lässt.
In einem LIDL kaufe ich noch ein wenig Fertigkram: Abgepacktes Tabouleh, Joghurt und belegte Sandwiches. Das lagere ich im Fußraum der Beifahrerseite. Dort bleibt es durch die Klimanlage, die ich immer öfter anmachen muss, schön kühl, während es im Kofferraum – vielleicht auch durch den darunter liegenden Motor – immer ordentlich heiss wird. Deshalb liegen darin jetzt die Hemden, die ich letzte Nacht durchgewaschen habe, und trocknen. Praktisches Auto, dieser kleine Twingo. Vorne Kühlschrank, hinten Trockenraum.
Die Straße von Syrakus weg führt in die Berge. Von oben hat man einen tollen Blick über das Land!
Eine Stunde von Syrakus entfernt liegt die Nekropole di Pantalica. Nekropolen sind immer gut, sowas besuche ich gerne. Allerdings entpuppt sich dieses UNESCO-Naturwunder als tiefe Schlucht und ausgedehntes Wandergebiet. Viel zu groß, um es in wenigen Stunden zu durchwandern. Hier müsste ich mir mindestens einen vollen Tag Zeit nehmen.
Ich klettere eine Stunde in den Felsen herum, dann kehre ich zurück zum Ausgang und fahre weiter nach Norden. Dort liegt die Catania, eine der größten Städte Siziliens. Ich meide die Stadt. Zum einen, weil es dort wenig zum Angucken gibt was mich interessiert, zum anderen, weil die Kriminalitätsrate gegenüber Touristen dort immer noch recht hoch ist. Beliebt ist wohl das Spielchen, Mietwagen mittels einem Motorroller abzudrängen und zu stoppen. Während man sich als Touri noch fragt, warum der Roller so blöd auf der Straße rumsteht, halten links und rechts neben dem Wagen zwei weitere Roller, die Fahrer reißen Hecktüren und Kofferraum auf und machen sich mit den Gepäck aus dem Staub. Auch wenn sowas heute seltener passiert als früher (schon weil die Mafia ein Interesse daran hat, dass es den Touristen gut geht) – in Catania kann es einem passieren, die Stadt gilt auch unter Sizilianern als unsicher. Ich bin normalerweise nicht ängstlich und lasse mich durch Warnungen vor Dieben und Räubern vo nichts abschrecken, aber Catania muss ich mir nicht geben. Ich bin froh, dass ich hier nur durchfahre, auch wenn es im Feierabendverkehr nur langsam vorangeht.
Hinter Catania beginnen direkt die Ausläufer des Ätna, dem legendären Vulkan und höchsten Berg der Insel. Als der Twingo sich durch die letzten Dörfchen am Fuß des Vulkans herausgearbeitet hat und freie Bergstraße vor uns liegt, beginnt die Sonne bereits unterzugehen. Ich gebe Gas und scheuche das kleine Auto im höchstmöglichen Tempo über die breiten Serpentinen. Ich will unbedingt noch vor Einbruch der Dunkelheit in meinem Nachtquartier ankommen, und so liefere ich mir ein Rennen mit dem Sonnenuntergang.
Immer höher und höher geht es. Wie hoch ich schon bin merke ich sehr schnell, als ich nach einer halben Stunde den Berg hinauf anhalte und mir die Fahrertür beim Öffnen aus der Hand gerissen wird. Hier oben bläst ein heftiger Wind, und es ist arschkalt. Mit kalt hatte gerechnet und deswegen sogar eine Mütze eingepackt, aber so dermaßen ARSCHKALT auf einem Drittel des Weges zum Gipfel – hua!
Mein heutiges Tagesziel liegt auf 2.000 Metern. Das Refugio Sapienza ist ein Hotel an der südlichen Touristenstation des Ätna, und mit dem letzten Sonnenstrahl erreiche ich den Parkplatz.
Das iPhone zeigt an, wo ich gerade bin: Auf dem Vulkan!
Vor dem Hotel ist ein großer Busparkplatz, und dutzende Andenkenhütten stehen in einem Halbkreis. Die Hütten sind geschlossen und der Platz ist leer. Ganz allein gehe ich im Sturm spazieren. Ein seltsam intimer Moment an einem Ort, den andere Besucher nur als überlaufen kennen.
Das Hotel wurde schon mehrfach wieder aufgebaut. Hier ist eine Mauer vom Vorgängergebäude zu sehen, dahinter erstarrte Lava.
Trotz der Massen an Gästen hat das “Refugio” nach wie vor den Charme eines Familienhotels, ist günstiger und besser als die Unterbringungen am Fuße des Bergs und hat auch noch ein Restaurant mit sehr guten Preisen.
Es ist so dermaßen stürmisch und kalt, dass sich drei Hunde im Windfang des Hotels eng zusammengekauert haben.
Hier esse ich auch zu Abend – eine Pizza Pistacchio, die genauso seltsam schmeckt wie der Name klingt. Das Zimmer ist schlicht, aber gemütlich eingerichtetet. Um das Haus heult ein kalter Sturmwind.
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3 Gedanken zu „Reisetagebuch Sizilien (5): Der Einschlag“
Brrr, nen Einschlag oder Unfall im Ausland wäre der reinste Horror für mich. Tröste dich mit dem nachträglichem Zittern, das geht nicht nur dir so. Bei mir geht das so weit, daß ich erstmal Fahrpause brauche um “runterzufahren”.
>>In unerwarteten und Notsituationen bin ich voll da und handlungsfähig, aber später, wenn Zeit dafür ist, dann kommt das Zittern.<<
Hier auch. (war klar, oder? ? )
Albrecht: Ja, die Auszeit sollte man sich auch gönnen, so lange man sie braucht.
Kalesco: No surprise here 🙂