Reisetagebuch Sizilien (10): Vie dei Tesori

Reisetagebuch Sizilien (10): Vie dei Tesori

Sonntag, 16. Oktober 2016, Palermo

Federica und Marco, die jungen Akademiker denen der B&B-Palazzo gehört, haben Frühstück hingestellt und sich dann nochmal ins Bett verzogen. Richtig so, immerhin ist Sonntag.

Und was mache ich heute mal so? Ins Bett legen und den Tag verpennen ist keine Option. Allerdings habe ich auch keinen festen Plan und laufe darum einfach mal los, die lange Prachtstraße Via Roma entlang und Richtung Bahnhof. Heute ist die Straße für Autos gesperrt und eine einzige, große Fußgängerzone. Ich bin nicht allein, gefühlt ist bereits halb Palermo auf den Füßen.

Vielleicht liegt das am Sonntag und dem schönen Wetter, vielleicht aber auch den den Vie dei Tesori – den Straßen voller Schätze oder anders übersetzt, den Schätzen am Wegesrand. Passen würde beides. Palermo hat viele Schätze, die meisten existieren im Verborgenen. Das Vie dei Tesori ist ein Festivalprogramm, dass die verborgenen und weniger verborgenen Attraktionen ins Licht rückt. Überall sehe ich Aufsteller, die auf Sehenswürdigkeiten hinweisen, und ein Heer Ehrenamtlicher Helfer organisiert und lenkt die Besucher.

Gedacht ist das Programm vor allem für die Einwohner von Palermo, damit die ihre Stadt besser kennen- und schätzen lernen. Dem kommen die auch gerne nach. Besonders die bekannteren, aber sonst nicht zugänglichen Orte sind bereits überlaufen. Vor dem Luftschutzbunker unter dem Rathaus haben sich schon lange Schlangen gebildet.

Auf halbem Weg liegt die Galleria Nationale dell´Arte Noveau, und dort findet gerade eine McCurry-Ausstellung statt. Die nehme ich mit.

Sie stellt sich leider als sehr klein heraus – gerade mal ein paar Dutzend Fotos in zwei Räumen. Kein Vergleich zu Siena, wo ich vor zwei Jahren im alten Hospital hunderte von Fotos von McCurry sehen konnte.

In weiten Schleifen laufe ich durch die Innenstadt. Palermo ist wirklich seltsam. Jeder Quadratzentimeter ist bebaut und bewohnt, sei das Mauerwerk auch noch so bröckelig. Gebäude und Ruinen gehen ineinander über, und bewohnt wird selbst das, was nie dafür gedacht schien. Alte Grandezza, dem Verfall preisgegeben, wird gleich zum Bauen mitbenutzt. Brand- und Sicherheitsregularien spielen dabei keine Rolle. Alte Stadtmauern werden bewohnt, auf ehrwürdige Palazzi werden einfach noch Stockwerke im Plattenbau draufgestellt. Und wenn man die Außenmauer einer Kirche als Wand für ein Wohnhaus mitnutzen kann, dann wird das eben gemacht:


Niedlich sind die Pferkutschen, die überall herumfahren.

Schließlich lande ich am botanischen Garten, dessen Ausstellungshäuser merkwürdigerweise sehr ägyptisch aussehen. Leider sind sie heute geschlossen.

Mein Spaziergang führt mich zum Meer. Das endet hier nicht in einem Strand, sondern in Felsbrocken.

Das Wiesel hält die Nase in die Seeluft.
Familien gehen auf der breiten Promenade spazieren und bespaßen die Kleinsten. Kinder sind in Italien Könige, und im Jahr 2016 müssen sie nicht mal mehr selbst laufen. Der neueste heiße Shice für Kids sind elektrische Minimotorräder mit Stützrädern, wahlweise im Dekor “BMW GS1200” oder “Barbie”. Damit tuckern die 3jährigen durch die Gegend.

Es ist Oktober, aber die Sonne scheint und es ist um die 25 Grad warm. Eine winzige Brise weht vom Meer und mir um die Nase. Ein schöner Ort, auch wenn die Industrieanlagen in einigen Kilometern Entfernung immer dran erinnern, dass das hier eine echte Hafen- und Arbeiterstadt ist.

Auf dem Rückweg zur Stadt komme ich am alten zoologischen Institut vorbei. Das müsste eigentlich geschlossen haben, aber auch das altehrwürdige Institute Zoologica macht bei der “Tesori”-Aktion mit. So komme ich doch in das Museum, das die Bezeichnung “altehrwürdig” wirklich verdient hat.

In einem doppelstöckigen Raum stehen hunderte von Exponaten, die man so heute nicht mehr fertigen würde. Ausgestopfte und aufgeklappte Tiere, seltene Arten – an den Ausstellungsstücken merkt man, dass das Institut in viktorianischer Zeit entstanden ist. Ich mag diese alten Museen.

Das Wiesel hat einen Freund gefunden.

So eines gibt es auch in Florenz, und was man dort sehen kann, gibt es in keinem modernen Museum. Palermo ist maritim geprägt, und so gibt es einige wirklich Erstaunliche Dinge aus dem Meer zu bestaunen. Wer hätte zum Beispiel gedacht, dass ein Rochen aus so vielen Einzelteilen besteht?

Einige Exponate haben allerdings schon deutlich gelitten und sind gruselig. Einem Flamingo z.B. hat man erkennbar die zerfallenden Beine mit Klebeband geflickt und dass dann mit rosa Sprühfarbe angemalt.

Ernüchternd ist auch das Politeama, der Veranstaltungsbau in der Innenstadt. Er ist rund und sieht von Außen beeindruckend aus, im Inneren hat er aber den Charme der Göttinger Stadthalle. Das einzig nette, die Wandbemalung, ist verblichen und an vielen Stellen abgeblättert. Aber die Akustik ist toll. Von den oberen Rängen kann ich das Youtube-Video hören, dass ein Typ im Zuschauerraum guckt.

Ich laufe nochmal an der Oper vorbei, die ich gestern besucht habe. Davor schiebt ein älterer Herr einen Stand in Position. Moment… davon hatte ich doch was gelesen?

Tatsächlich! Der Herr ist Piero Caccamo, und er ist selbst so etwas wie eine Berühmtheit. Er führt eine Familientradition fort und bereitet seit über 40 Jahren Grattatella vor der Oper zu. Sein Stand ist geschmückt mit Ausschnitten von Zeitungen aus der ganzen Welt, die schon über ihn berichtet haben.

Ich kann nicht anders und muss eine Grattatella bestellen. Piero fragt, welche Sorte ich möchte. Ich mag es klassisch und nehme Zitrone. Piero nickt und greift sich eine Werkzeug, das wie eine runde Käsereibe aussieht. Damit schabt er über einen fast einen Meter langen Eisblock, der auf der Arbeitsfläche des Wagens liegt, und füllt die Eisraspel in einen Becher. Dann gießt er Zitronensirup über das Eis und fügt Zitronensaft hinzu. Das Ergebnis ist ein Eisgetränk, dass so sauer ist, dass es einem erst die Zunge zusammenzieht – und dann wunderbar erfrischend ist!

In manchen Teilen Italiens kennt man das Getränk auch als Grattachecca. Auf Youtube gibt es ein Video, in dem man Piero bei der Arbeit sehen kann:

Seine Kunst ist eine aussterbende. Heute wird diese Art von Eismixgetränk in Automaten gemacht, die “Slushis” sind nichts anderes als Grattatella in industrieller Zubereitung. Aber hier, auf Sizilien, als Erfrischung aus großen Eisblöcken, haben sie ihren Ursprung.

Im Schatten der Oper genieße ich das Eisgetränk. Dann bummele ich weiter durch die Straßen und bewundere die Auslagen. Die sizilianische Küche ist schon toll. Durch den Fischfang und die Landwirtschaft hatte sie ohnehin von Anfang an eine gute Grundlage, und durch die Einflüsse der vielen Eroberer hat sie im Laufe der Jahrhunderte immer weiter gewonnen. Seien es deftige, einfache Gerichte wie die von mir heiß geliebten Arancini oder auch die Süßwaren, wie die Cannoli. Oder das hier:

Das ist eine Cassata, ein Schichtkuchen aus Biscuitteig, Ricotta und kandierten Früchten. Wird leider nur als Ganzes verkauft, und eine wäre zu viel für mich. Stattdessen probiere ich lieber ein Sandwich, das gefüllt ist mit Kartoffelteigdreiecken und bestreut mit Salzblumen. Schmeckt fast nach nichts, aber das Mouthfeeling ist irre.

Ich laufe noch ein wenig hierhin und dorthin, über den großen Markt, an einem Arancini-Stand vorbei, und dann ist der Tag auch schon weg.

Am nächsten Morgen breche ich noch vor dem Sonnenaufgang auf. Der Palazzo liegt noch still und dunkel dar, als ich meinen Zimmerschlüssel auf den Dielenflur lege und die große Tür hinter mir zuziehe.

Draußen sind die Straßen noch leer, nur die Kioskverkäufer verräumen die ersten Zeitungslieferungen.

Um 6.45 fährt vom Politeama ein “Commande & Presenta”-Bus zum Flughafen. Dort gucke ich nochmal bei Hertz vorbei, aber leider ist weder “mein” Twingo da, noch haben die was gefunden. Die VIRB-Fernbedienung, die ich in dem Mietwagen vergessen habe, ist weg. Ärgerlich.

Ich setze mich an den Rand des Rollfelds und sehe dabei zu wie die Sonne langsam aufgeht und höher klettert.

Das waren also 11 Tage Sizilien. Einmal rundrum bin ich gefahren, zwei Mal durch die Mitte, ein Mal auf den Etna. Erlebt habe ich eine landschaftlich überraschend abwechselungsreiche Insel, die genauso karge, wüstenartige Regionen besitzt wie grüne Felder voll sattem Klee, die atemberaubende Felsformationen vorweisen kann, aber auch langweilig-platte Landstraßen bis zum Horizont. Sizilien ist abwechselungsreich und spannend, und überall finden sich freundliche Menschen und leckere Speisen. Vieles wirkt hinimprovsiert und halb fertig, oder schon wieder halb verfallen. Das gehört vielleicht zur sizilianischen Art des Lebens, das zu einem guten Teil auf der Straße stattfindet, und die muss nicht immer schön sein. Vor allem ist Sizilien ALT. Das merkt man überall. In den touristischen Orten wie den Barockstädten oder den Tempelbauten und Kirchen sowieso, aber man merkt es auch in den Traditionen, die noch gepflegt werden. Die Märkte, der Fischfang, die Landwirtschaft – das alles wird immer weniger, aber das es das heute noch gibt, ist ein Zeichen einer Gesellschaft, die zum einen ein wenig hinter der Entwicklung von Kontinentaleuropa hinterher ist, zum anderen aber auch stolz auf Traditionen ist und die noch bewahren will. Zumindest manche wollen das, denn das Sizilien Probleme hat, ist unübersehbar. Die harte, armselig entlohnt Landarbeit will niemand mehr machen, also ziehen die Leute in die Küstenstädte. Catania und Palermo sind riesige Metropolen, denen deutlich anzusehen ist, das hier die wenigsten ihr Glück finden. Für die meisten dürfte der Traum von der großen Stadt in einer kleinen Plattenbauwohnung enden. An manchen Orten ist die Resignation geradezu körperlich fühlbar, und dennoch mischen sich immer wieder kleine Momente mit einem Lichtblick ein. Der Schnack mit den Nachbarn, der lautstarke Streit mit dem Ehegespons, die Kinder, die abends auf dem Kirchplatz um die Wette bolzen.

Lange hänge ich diesen Gedanken nicht nach, dann ist schon wieder Zeit ins Flugzeug zu steigen.

Der Flug führt wieder über Regionen, die ich schon aus der Luft erkenne. An diesem künstlichen See, dem Lago Artificiale di Montedoglio nahe Sansepolcro, habe ich mich schon mit dem Motorrad verfahren. War das ein Scheiß.

Überraschend ist das hier, hier hat doch glatt jemand Buchstaben in einen Wald geschnitzt!

Tatsächlich ist DVX ein Hersteller von Quads, und in der Toskana haben die ein Testgelände. [Update August 2018] Keine Ahnung wo ich das her hatte. Tatsächlich steht “DVX” für Duce, das haben 1939 Forstschüler in einen Wald am Monte Giano nahe Rieto geschlagen. Kann man an guten Tagen von Rom aus sehen.

Dann landet der Flieger in Berlin-fucking-Schönefeld, und auf einen Schlag hat mich die Wirklichkeit wieder. Alles ist kalt und grau, Menschen laufen griesgesichtig und eingemummelt herum und verzweifeln an der Bedienung von DB-Automaten.

Als ich vor 3 Stunden in den Flieger stieg waren es um die 25 Grad, hier sind es 5. In den kommenden Tagen werde ich frieren wie ein Schneider. Ich bin halt eher für südliche Temperaturen gemacht. Kein Wunder, dass ich mich auf Sizilien wohl gefühlt habe – und bestimmt noch einmal dorthin zurückkehren werde. Schon allein um dann doch Catania nachzuholen, und um im Meer zubaden.

Aber für heute endet diese Reise erst einmal, und zwar genau hier.

Übersicht über alle Teile des Reisetagebuchs Sizilien 2017:

3 Gedanken zu „Reisetagebuch Sizilien (10): Vie dei Tesori

  1. Interessant, die Grattatella, die di beschreibst, haben wir ebenfalls auf Sizilien und auch in Palermo auch als “Granite” kennengelernt. Zumindest wurde unter dem Namen ebenfalls ein Slushi-artiges Zeug verkauft, das sehr lecker ist (Mandelgeschmack!). Oder ist das dann doch noch mal was anderes?

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

 


Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.