Reisetagebuch: Wispern, Wellen, Wale

Nachts und am Wochenende sind Hochschulen seltsame und friedliche Orte. Geisterhafte Korridore, alte Wachmänner, lange Stunden. 

Das Arbeitswochenende war nett, aber nun ist es vorbei. Es ist Sonntag Morgen, und  die übernächtigten Teilnehmer sitzen noch kurz beim Frühstück zusammen, dann brechen sie zum nahegelegenen Bahnhof auf oder beladen Autos für die Fahrt nach Hause.
Ich nicht.

Nach Hause will ich nicht, und statt eines Dienstwagens steht die Renaissance vor der Tür, noch nass vom Tau der Nacht.

Ich klippe die kleinen Koffer an, in denen die Arbeitssachen für die letzten Tage waren, und starte den Motor. Dann geht es im morgendlichen Sonnenschein hinaus auf die Landstraße.

Kurz hinter der Hochschule liegt, auf einer Fläche so groß wie das Saarland, das Saarland.
Die ZZR summt über die noch leeren Landstraßen. Es ist Sonntags, kurz nach 8 Uhr, da ist noch nicht viel los. Ich sauge die kalte Morgenluft tief in die Lungen. Es ist Juli, aber während Südeuropa unter Dauertemperaturen über 40 Grad ächzt, sind sie hier mit 9 Grad einstellig.
Egal.

Frische Luft, leere Straßen, das Motorrad. Mein Gott, wie habe ich das vermisst. War mir gar nicht so klar, wie sehr die Sommerreise mit dem Mopped schon zum festen Bestandteil meines Lebens geworden sind. Dieses Jahr ist sie ausgefallen, und jetzt wird mir klar, wie sehr mir das fehlt.

Die ZZR schnurrt dahin und läuft absolut makelos. Keine Unwucht, nirgends. Keine merkwürdigen Geräusche. Einfach nur perfekt, elegant, kraftvoll.
Wie ich diese Kiste liebe!

Nach einer Stunde komme ich in einem kleinen Ort an. Die Straßen sind hier jetzt nicht mehr leer, sondern voller Motorradfahrer und SUVs. Auf den Motorrädern hocken dicke alte Männer, in den SUVs Großeltern mit den Enkeln.

Allen gemein ist, dass sie zur Saarschleife wollen. Und so stehen wir alle kurz darauf auf einer Plattform aus Natursteinen und gucken von oben auf das Tal der Saar.

Auch ein Arboretum gibt es hier, eine riesige Holzkonstruktion, in der man zwischen den Baumwipfeln rumlaufen kann. Aber so hoch will ich heute nicht hinaus.


Ich steige auf´s Motorrad und quere die Mosel in einem kleinen Ort mit einem großen Namen: Schengen. Der Ort liegt in einem Zipfelchen von Luxemburg, das zwischen zwei Ländern eingekeilt ist. Im Osten fährt man von Deutschland aus rein, verlässt man den Ort Richtung Westen, ist man schon in Frankreich.

SO WINZIG ist Schengen! Nimmt nicht viel Raum ein.

Auch hier haben kleine Orte große Namen, wie Cattenom. Allerdings macht der Name Gänsehaut, denn meist hört man ihn nur im Zusammenhang mit Meldungen wie „Reaktor 2 musste wegen eines Zwischenfalls abgeschaltet werden. Es besteht kein Grund zur Beunruhigung, für die Bevölkerung besteht keine Gefahr“.

Frankreich und seine maroden Atomkraftwerke können einem Angst machen. Vielerorts reicht im Sommer die Kühlung durch die Flüsse nicht mehr aus, und die Dinger bekommen noch mehr Fehlfunktionen als ohnehin schon und müssen runtergefahren werden.

Frankreichs Landstraßen sind doof, die führen viel durch Orte und dort durch Kreisel und man kann stundenlang fahren ohne voran zu kommen. Ist mir aber egal, ich genieße die Zeit auf dem Motorrad und mit der Straße.

Die ZZR 600 kennt zwei Zustände: Entweder sie summt vor sich hin, oder sie brüllt. Heute morgen brüllt sie nur, wenn sie brachial beschleunigt um an einem Wohmobil oder einem Trecker vorbei zu zischen. Den Großteil der Zeit gleitet sie einfach über den rauen, französischen Asphalt, der dabei ein Wispern und Raunen von sich gibt.

Nach eineinhalb Stunden komme ich über ein Bergkette, und ein Talkessel öffnet sich, in dem ein Ort ausgebreitet liegt. Sein Name ist ein Synonym für die Hölle auf Erden: Verdun.

Die Berge, die ich gerade gequert habe, waren der Schauplatz der unaussprechlichen Gräuel des Grabenkriegs im ersten Weltkrieg.

Vor 4 Jahren hatte mich mal eine fiese Erkältung fast 3 Wochen außer Gefecht gesetzt. Kaum fähig etwas anderes zu tun als auf dem Sofa zu liegen, spielte ich in ein recht seltsames Videospiel hinein. „Valiant Hearts“ spielte im ersten Weltkrieg und brachte einem auf spielerische Art die Geschichte des Krieges bei. In der Folge las und schaute ich alles über den ersten Weltkrieg was ich finden konnte. Seit diesem Zeitpunkt wollte ich Verdun einmal besuchen, einfach um diesen Ort für mich zu erspüren.

Heute ist es nun soweit, und mein erster Weg führt mich zur Zitadelle. Die alte Festungsanlage ist gigantisch, und von der Bauweise mit nichts vergleichbar was ich bislang gesehen habe. Sie scheint nur aus Mauern zu bestehen, riesigen, 20 Meter hohen Mauern, obendrauf ein Wald.

Gigantisch!

Tatsächlich ist die gesamte Festungsanlage unterirdisch, und genau deshalb wurde sie im großen Krieg zur Kommandostation. Ich lasse die Renaissance vor dem Eingang zu einem Park zurück, dann sehe ich mir den Eingang zur Zitadelle genauer an.

Die Festung lässt sich besichtigen, aber nicht zu Fuß. Zu sechst werden die Besucher in ein Elektrowägelchen gesetzt, dass automatisch durch die Tunnels fährt. Immer wieder stoppt es, und im Halbdunkel spielen Schauspieler als Hologramme Szenen aus der Vergangenheit nach.

In den Gängen und Tunnels lebten Soldaten, Offiziere und Zivilisten, hier unten gab es Unterkünfte, Bäckereien, Lazarette… aber keine Lüftung. Der Gestank muss unmenschlich gewesen sein, zumal die Schlacht vor den Toren der Stadt täglich Tausende von Verwundeten produzierte. Der Generalstab aber, auch das kommt in den Spielszenen vor, versuchte gegenüber der Regierung den Anschein der Normalität aufrecht zu erhalten. Während auf den Feldern vor Verdun jeden Tag 6.000 Menschen starben, sorgten sich die Generäle um geputzte Stiefel und polierte Uniformknöpfe bei der nächsten Heeresinspektion.

Die Tour endet in der Halle, in der mit Puppen nachgestellt ist, wie der letzte Überlebende einer Division nach Kriegsende einen Kameraden ausgewählt. Der liegt nun als unbekannter Soldat unter dem Arc de Triomphe in Paris.

Nach der Rundfahrt kann man noch alte Uniformen besichtigen.

Rumänische Uniform.

Russische Uniform.

Frankreich.

Kolonien.

Britische Uniform

Ich bin ein wenig kaputt, als ich wieder ans Tageslicht komme. Ich lege mich im Schatten der großen Bäume vor der Zitadelle ins Gras und mache die Augen zu. Eine halbe Stunde schlafe ich tief und fest, dann weckt mich meine innere Uhr. Ich bin ausgeruht und wieder konzentriert.

Mein nächstes Ziel liegt außerhalb von Verdun auf einer Anhöhe. Dort, wo vor 100 Jahren die Schlacht stattfand, steht nun das Memorial und Museum.

Der große Bau beherbergt eine große Sammlung an Stücken aus der Zeit. Uniformen, Ausrüstung, Waffen stehen in Glaskästen, Fahrzeuge sind in Dioramen eingebettet. Animierte Karten zeigen den Verlauf der Schlacht von Verdun. Die Ausstellung ist beeindruckend und beängstigend. Dieser Helm eines kaiserlichen Flammenwerfer-Strumtrupplers stammt direkt aus einem Albtraum.

Flammenwerfer.

Gut sichtbar ist auch die Anpassung an die Realität des Krieges. Zogen die Soldaten anfangs noch mit Pickelhauben aus Leder in eine Schlacht, in der ihnen Schrapnelle und Scharfschützenkugel die Schädel perforierten, verbreitete sich sehr schnell der Stahlhelm.

Feldtelefone verbreiteten sich ebenfalls. Bei den französischen Offizieren waren die verpönt, weil darüber empfangene Befehle keinen Paper Trail hinterließen.

Ich verlasse das Memorial und besuche das Ville Destruit Douaumont, das verlorene Dorf von Douaumont.

Vom Dorf ist nichts mehr zu sehen, es wurde völlig vernichtet und lag im Niemandsland zwischen den Fronten. Das ist auch immer noch zu sehen. Heute, 100 Jahre später, ist der Boden wellig und hügelig.

Hier wächst nur dünnes Gras und seltsam dürre Bäume, von denen viele krank aussehen. Kein Wunder. Eine Quelle – bei der ich aber nicht genau weiß wie zuverlässig die –  schätzt, dass pro Quadratmeter noch 5 Kilo Metall im Boden sind. Schwermetall vor allem, und Arsen. In Konzentrationen, die auch heute noch hoch toxisch sind. Es sind auch immer noch Entschärfungstrupps im Einsatz, die Blindgänger entschärfen, die hier immer noch gefunden werden. Auf den umliegenden Feldern, aus denen die Bauern auch Knochen rausholen. Diese Bäume, wird mir plötzlich klar, wachsen auf einem Boden, der aus Waffenteilen und menschlichem Fleisch besteht. Obwohl die Sonne scheint und es sehr warm ist, fröstelt mich plötzlich. Ich habe den Ort erspürt.

Zwei Kilometer entfernt steht ein riesiger Bau, das Beinhaus von Douaumont. Hier her hat man all die Leichenteile gebracht, die keiner Person mehr zugeordnet werden konnten. Niemand weiß, wieviele Menschen wirklich vor Verdun gestorben sind. Die Hänge des Bergs vor dem Ossarium sind mit Kreuzen gespickt. Das Innere des Ossariums ist orange ausgeleuchtet. Im Keller gibt es einen Kinosaal, in dem man einen Film über Verdun sehen kann. Und es gibt einen Turm, der sich besteigen lässt. Dort oben gibt es riesige Scheinwerfer, die bis vor ein paar Jahren bei Nacht die ehemaligen Schlachtfelder rot anstrahlten. Das macht man nicht mehr.

Ich fahre zurück zur Stadt. Heute will ich nicht mehr weiter. In einer Nebenstraße liegt ein kleines B&B, das von Madame Règine betrieben wird. Sie begrüßt mich überschwänglich und wirbelt herum, während sie mir alles zeigt. Das schmucke Haus ist grün von oben bis unten, und sieht im Inneren aus, als wäre eine Innendekorateurin durchgedreht. Madame Règine ist im Hauptberuf Floristin, und das merkt man.

Hund Falco betrachtet geduldig, wie ich die Koffer des Motorrads in das kleine Dachgeschosszimmer trage, dass ich heute bewohne. Dann schäle ich mich aus den durchgeschwitzten Motorradklamotten, dusche und schlüpfe in Jeans und Hemd. Jetzt will ich sehen, wie die Innenstadt von Verdun aussieht!

Einen kurzen Spaziergang später stehe ich vor dem Stadttor. Wie ein Burggraben fliesst ein Fluß um die Innenstadt herum. Auf dem findet heute irgendein Sommerfest statt, zum Auftakt zieht ein kleines Boot eine… Konstruktion durchs Wasser, die ab und zu unter dem lauten Gejohle der Kinder eine Walfluke hebt oder eine Wasserfontäne in die Luft schießt, die im Sonnenlicht Regenbögen macht.

Ansonsten ist die Altstadt bemerkenswert schmuck. Aber auch hier finden sich überall Mahnmale zur Erinnerung: Vergesst nicht, was hier passiert ist! Und noch etwas anderes findet sich. Scheint so, als hätten die Politiker späterer Jahre Verdun zu einem Ort der Deutsch-Französischen Freundschaft gemacht. DAS finde ich wirklich bemerkenswert.

Ich folge Madame Règines Rat und esse bei „Chêz Mami“, einem Lokal für einheimische Kundschaft.

Das Essen ist großartig, aber merkwürdig. Ich bestelle einen Hamburger und bekomme das hier:

Eine daumendicke Scheibe getoastetes Graubrot, darauf Salat und Kartoffelscheiben. Im zweiten Stock wohnt aus irgendeinem Grund eine dicke, in Schinken eingeschlagene Scheibe Weichkäse, darauf ein winziger Klacks Ketchup, gefolgt von einem Patty aus blutigem Tartar. Dazu Ofenkartoffeln. Das ist doch kein Hamburger! Wenn da Käse drauf ist, ist es ein Cheeseburger! Aber ich verzichte auf solche Belehrungen und schleppe irgendwann meinen dicken Bauch zurück zum B&B. War ein langer Tag, der mich noch eine Zeitlang beschäftigen wird.

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Kategorien: Motorrad, Reisen | 6 Kommentare

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6 Gedanken zu „Reisetagebuch: Wispern, Wellen, Wale

  1. ralf0809

    Zum Glück muß der dicke alte Mann aus dem Siegerland nicht mehr mit dem Motorrad zur Saarschleife fahren. Da war er nämlich schon. Damals, vor gut 25 Jahren, als junger schmaler Biker… 😉

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  2. Und in Verdun warst du auch schon! Ich hole gaaaanz langsam auf 🙂

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  3. Und ich bekomme hier ganz umsonst Reisevorschläge, wenn ich mal von meiner
    Zeit ein Stück davon übrig habe.

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  4. Reisevorschläge … die krieg‘ ich hier ebenfalls.
    Doch ich lese lieber die süditalienischen, die ‚Ndrangheta ist lange nicht so blutlüstern wie diese Rechtsstaaten es waren…

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  5. Ganz kriegshasenrein waren auch diese Gegenden nicht. Nur ein Beispiel:
    https://de.m.wikipedia.org/wiki/Italienisch-Türkischer_Krieg.
    Verdun ist nur ein weiterer Schauplatz mit dunkler Wolke.

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  6. Pingback: Im Elsass – Elli und Emma

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