Reisetagebuch Motorradtour (7): Die Geisterburg

Reisetagebuch Motorradtour (7): Die Geisterburg


Im September 2017 ging es auf Tour, erstmals mit der V-Strom 650. Dies ist das Tagebuch der Reise. Heute: Glorreiche Eigenleistungen im Themenkomplex Scheißeparken und Verfahren auf Sperrgebiet.

Dienstag, 26. September 2017, Il Faggio Rosso, Pescasseroli

Der Tag ist schon länger angebrochen, aber im Tal von Pescasseroli herrscht ein seltsames, farbloses Zwielicht. Erst als sich gegen halb neun die Sonne über die Berggipfel schiebt wird es hell. Sie vertreibt auch in kürzester Zeit die Wolken, die in den Tälern hängen.

Seltsames Zwielicht: Es ist Tag, aber die Sonne ist noch nicht übern Berg.
Zehn Minuten später: Sonne ist da, Wolken verschwinden.

Draußen Bimmeln die Rinder in den Bergen rum. Der Frühstückssaal des Faggio Rosso, der roten Buche, könnte problemlos eine Hundertschaft aufnehmen, und vermutlich tut er das im Winter auch. Heute bin nur ich hier. Das Hotel hatte heute Nacht noch zwei andere Gäste, aber die schlafen noch.

Einen Caffé Doppio später bin ich abreisebereit. Als ich die Koffer zum Motorrad trage, macht sie das kleine Mädchen von gestern gerade für die Schule fertig. Sie trägt einen Schulranzen, der viel zu groß für sie ist, und nörgelt an dem Apfel rum, den ihre Mutter ihr noch zustecken will. Schulkinder sind überall gleich.

Die Rotte weißer Hunde beobachtet, wie ich die V-Strom startbereit mache. Welcher von denen ist wohl Clara? Ach, egal.

Zum Abschied sagt die Hotelierin “Einen Moment noch”, und verschwindet im Hinterzimmer der Rezeption. Dann kommt sie mit einer Flasche Wein wieder und will sie mir schenken. Mei, wie lieb! Ich habe echte Probleme ihr klarzumachen, dass ich die leider nicht mitnehmen kann – ich habe keinen Platz, sage ich und verschweige, dass ich heute einfach keine Glasflasche mit Flüssgkeit an Bord haben möchte, weil heute ein komischer Tag ist und alles mögliche passieren kann. “Ich dachte, wenn sie die vielleicht ein wenig irgendwie reinschieben”… ach, wie lieb die Frau ist! Aber nein, ich lehne ab und sage, dass ich die beim nächsten Mal gerne mitnehme.

Es geht die üble Zufahrtstraße vom Hotel den Berg runter, raus aus Pescasseroli und nach Süden, eine wundervolle Landstraße voller perfekter Kurven entlang.

Auf dem Weg liegt Barrea, von wo aus man einen tollen Ausblick auf den gleichnamigen See hat. Das Panaorama der Berge spiegelt sich im blauen Wasser, und ich verstehe, wieso das hier die “Perle der Abruzzen” genannt wird.

Dann weiter und quasi südlich aus den Abruzzen raus, um dann außen am Bergmassiv des Majella Nationalparks entlang zu fahren. Der Kurs ist per Hand abgesteckt und wirklich klasse.

Immer an der Wand lang: Bergstraße mit tollen Ausblicken.

Es geht über kleine Straßen und rauschige Kurven, und dann öffnet sich plötzlich eine Hochebene mit einer Steppe. Fantastisch.

Die Straßen sind meist nicht so super, an vielen Stellen ist der Asphalt von harten Wintern und heißen Sommern in kleine Stückchen gesprengt worden. Selbst mit der V-Strom muss ich aufpassen, aber die Reiseenduro huppelt wenigstens über die Strecken ohne dabei markerschütternd zu knirschen und zu schlagen wie es die ZZR jetzt tun würde. Da merkt man halt doch, dass die Konstruktion eine andere ist.

Abgesehen davon ist langsam fahren ist hier ohnehin Programm, denn es gibt so viel Landschaft zum Ansehen! Versteppte Berge, urige Wälder, manchmal blickt die Straße aus 700 Metern Höhe auf Orte hinab.

Nach knapp drei Stunden ändert sich das. Die Aussichten werden trübe, Regenwolken hängen an den Bergwänden. Ich drehe ab und fahre einen weiten Bogen, der mich leider von den Bergen wegführt und nur noch über uninteressante Straßen führt.

Gegen Mittag muss ich dann doch mitten rein ins Regengebiet, und mir bleibt nicht übrig als an einer Tankstelle anzuhalten. Ich wäre sogar bereit Benzin zu kaufen, aber der Benzinaio beachtet mich überhaupt nicht. Also reiße ich die Rolle mit der Regenkombi auf und ziehe mich um, und als er endlich guckt sage ich nur “Moin”. Er nickt und dreht sich um, steigt in ein Auto und fährt in die Mittagspause.

Der Regen kommt ordentlich runter, aber in der Regenkombi ist mir das egal. Ein Motorrad fährt sich bei Sonne wie Regen fast gleich, das Wasser ist nur eine Unannehmlichkeit.

Kurz vor meinem nächsten Ziel hört der Regen auf, aber die Regenklamotten behalte ich an. Das Garmin lotst mich auf eine kleine Straße, an deren Anfang Warnschilder stehen und die eher nach Feldweg aussieht.

Ich überlege, ob ich die wirklich fahren soll und bin schon wieder am Umdrehen, doch dann denke ich mir “ach, was solls”.

Die Straße ist stellenweise gerade mal zwei Meter breit, aber in erstaunlich gutem Zustand. Fein, aber hier sollte mir besser keiner entgegen kommen.

Dann steigt sie schlagartig an und beginnt sich in Kehren die Berge hochzuziehen. Es ist eng, ich muss auf Steinschlag achten, mehr als zweiter Gang ist kaum drin. Immer höher geht es, bis ich aus über einem Kilometer Höhe hinab sehen kann. Jetzt sieht alles im Tal winzig aus. Das die Straße keinerlei Leitplanken hat, macht die Sache etwas unheimlich.

Die kleine Straße will hoch hinaus.

Dann habe ich es geschafft und bin wieder auf einer offizellen Landstraße. Wow, was für ein Erlebnis! Und schade, dass es keine Bilder von der Aussicht gibt – in der Regenkombi habe ich die Handkamera nicht griffbereit. Das Bild hier ist von Streetview und kann zumindest einen kleinen Eindruck von der irren Landschaft vermitteln.

Es geht noch ein paar hundert Meter höher, und die führen mich genau in die Wolken. Wie dicke Wattebäusche schweben die über die Straße, und verschlucken die Welt nach ein paar Metern. Still ist es, fällt mir auf. Kein Wind zu hören, andere Fahrzeuge sowieso nicht. Nur die V-Strom, die durch die Wolken röhrt.

Dann komme ich an einen Parkplatz unterhalb des Orts Calascio. Fünfzig Meter weiter ist die Straße gesperrt, also lasse ich die V-Strom zurück und gehe zu Fuß weiter. Aus dem Nebel tauchen Ruinen auf. Ich weiß, dass der Ort hier ziemlich weit oben liegt – wenn diese Wolkenpracht hier nicht wäre, dann hätte ich hier einen beeindruckenden Ausblick.

Ich lasse die Barocca auf einem Parkplatz am Berg zurück und gehe die letzten Meter zu Fuß. Als ich den Ort Calacio betrete, wird mir klar, dass es sich hier um eine Geisterstadt handelt. Sie ist offiziell nicht so klassifiziert, aber wie soll man sonst einen Ort nennen, in dem fast alle Gebäude leer stehen und verfallen?

Nur ein Restaurant gibt es hier noch, dass sich um Ausflugsgäste kümmert und auch Zimmer vermietet, und ein Laden für Milch und Käse, der heute aber auch geschlossen hat.

Ich wandere weiter durch die seltsame Nebelwelt, die ganz unwirklich wirkt. Nach 10 Minuten taucht eine Kapelle aus den Wolken auf.

Sie sieht mitgenommen aus und ist verschlossen. Dann reißen die Wolken kurz auf und geben den Blick frei auf steppige Berge, die von Wanderpfaden druchzogen sind. Was muss das bei gutem Wetter für eine Aussicht sein!

Weil ich im Nebel den Pfad nicht finde, klettere ich über Felsen den Berg hinauf und finde endlich, weshalb ich hier her gekommen bin: Die Burg von Calacio. Auf Bildern und bei gutem Wetter sieht die aus wie eine Festung aus einem Fantasyfilm, heute wie ein Geisterschloss.

Bei gutem Wetter sieht die Burg aus wie direkt aus “Game of Thrones” entsprungen:

© Foto: Ra Boe / Wikipedia / Lizenz: Creative Commons CC-by-sa-3.0 de


Ich laufe ein wenig lustlos in den Ruinen herum, dann mache ich mich an den Abstieg. Den Moment wählen die Wolken, um mir zu zeigen wie lieb sie mich haben, und fangen an zu regnen.

Nass vom einsetzenden Regen und durchgeschwitzt komme ich wieder beim Motorrad an und pelle mich in den Regensachen, die ich eigentlich hoffte nicht mehr zu brauchen. Dann werfe ich den Motor an und steuere die V-Strom wieder vom Berg hinab. Eigentlich wollte ich jetzt noch weiter in die Berge fahren, aber das Wetter spielt nicht mit. Und zwar so dermaßen nicht, dass die Straßenwacht die Straße zum Campo Imperatore wegen Nebels geschlossen hat.

So ändere ich den Kurs und steuere direkt auf L´ Aquila zu. Die Stadt mit dem schönen Namen (“Der Adler”) ist die größte in den Abruzzen, nach ihr ist auch die Region hier benannt. 2009 wurde sie von einem Erdbeben verheert. Fast die gesamte Innenstadt wurde schwer beschädigt. Berlusconi und andere Politiker waren vor Ort und versprachen schnelle Hilfe für die Bewohner. Praktisch kam die Hilfe in erster Linie ihnen selbst zu Gute: Berlusconis Kumpel bauten eine Trabantenstadt für die Opfer und ließen sich dafür vom Staat die Nasen vergolden. Dann passierte… nicht mehr viel. Heute gilt L´Aquila als das Symbol des Versagens der italienischen Politik wenn es um Katastrophenhilfe geht.

Wie schlimm es wirklich ist, will ich mir jetzt selbst endlich einmal ansehen. Das gestaltet sich aber als gar nicht so einfach. L´Aquila ist ausufernd, und als ich mich fast eine halbe Stunde durch die Speckgürtel gekämpft habe, stecke ich im schlimmsten Stadtverkehr fest. Die Situation wird dadruch verkompliziert, dass Anna Routen vorschlägt, die durch Baustellen gesperrt sind – an einem Punkt bin ich gezwungen eine Rückwärtswende auf Kopfsteinpflaster in einer sehr steilen und engen Gasse vorzunehmen, was arschgefährlich und eine echt kippelige Sache ist.

Irgendwann habe ich mich so verfahren, dass ich in eine Straße abbiege, die sich auf den zweiten Blick als eine Zufahrt herausstellt. Eine Zufahrt mit großen “HALT”! Schildern, Betonbarrikaden und Hinweisen, dass hier alles Videoüberwacht ist und nur autorisierte Fahrzeuge durch dürfen. Ein Umdrehen ist nicht mehr möglich, recht und links der Fahrspur sind jetzt Zäune. Verdammt, fahre ich gerade auf militärisches Sperrgebiet?!

Ganz so schlimm ist es dann aber doch nicht. Ich habe mich nur ins städtische Busdepot verfahren. Unter den Augen feixender Busfahrer drehe ich eine Runde über das Gelände, dann finde ich den Ausgang und bin wieder weg. Die Nummer kann eine fette Anzeige nach sich ziehen, aber ich will verdammt sein wenn da auch nur ein Fünkchen Vorsatz dabei war.

Einmal durchs Busdepot.

Im zweite Anlauf finde ich mich zumindest in der Nähe der Innenstadt wieder, auf dem Burgberg. Hier gibt es zahlungspflichtige Parkplätze am Straßenrand. Ich versuche die V-Strom ordentlich zu parken, aber das ist gar nicht so einfach. Die Straße fällt zu einer Seite ab. Das Problem: Die Barocca wurde tiefergelegt, damit ich mehr Kontrolle über sie habe. Dabei musste auch der Seitenständer gekürzt werden, und die Werkstatt war dabei zu vorsichtig. Sie hat zu wenig rausgeschnitten, mit dem Ergebnis, dass die Maschine nun zu gerade steht. Das tut sie schon auf absolut Ebenen Flächen, aber sobald es zur verkehrten Seite leicht abschüssig wird ist es vorbei, dann kippt sie um.

Irgendwann finde ich doch eine Stelle, an der die Kiste halbwegs sicher steht, direkt vor einem Parkautomaten. Denke ich zumindest, und bin irritiert, als ich die Piktogramme darauf sehe. Geschlagene 10 Sekunden starre ich darauf und weiß nicht was das soll. Ich verstehe die Knöpfe und Zeichnungen einfach nicht. Einen Geldeinwurfschlitz gibt es nicht, einen zum Ziehen der Tickets auch nicht. Was soll das? Und dann begreife ich, dass das ein Automat für gebrauchte Spritzen ist. Die Parkautomaten sind alle mit Stoff verhüllt und mit Klebeband umwickelt, und die Autos die hier parken haben Anwohnerausweise. Mist. Da heisst es weiter nach einem Parkplatz suchen, ich will hier keinen Strafzettel kriegen.

Ich fahren den Burgberg wieder runter und finde eine tolle, kostenfreie Parklücke, nur um fest zu stellen, dass es sich dabei um eine Bushaltestelle handelt. Nach zweimal abbiegen bin ich plötzlich wieder auf dem Burgberg, und dieses Mal sehe ich das Schild “Kostenfrei, außer bei Festivals” – ach DESWEGEN sind die Automaten verklebt! Ich suche mir wieder einen Parkplatz, auf dem die Dicke gerade so stehen kann ohne umzufallen, dann klettere ich den Berg hoch. Die Festung von L´Aquila ist echt ein Riesending.

Ich gehe zurück zum Motorrad und steuere es in die Gassen der Stadt, um dann in der Straße mit den freien Plätzen zu parken. Kurz darauf weiß ich auch, warum hier niemand parkt. Ständig kommen und fahren hier LKW mit Bauschutt, die sich teilweise zentimeternah an den parkenden Fahrzeugen vorbeiquetschen. Ich vertraue den Künsten der LKW-Fahrer, habe aber trotzdem keine wirkliche Ruhe und mittlerweile auch keine Lust mehr. Ich gehe um eine Ecke und bin mitten in der Zona Rosso, wo es die Gebäude am schlimmsten erwischt hat. Überall sind Häuserwände mit Metallrahmen und Fensterstürze mit Holzbalken gesichert. Schirme an Hauswänden sollen Fußgänger schützen.

Überall wird gebaut, Steinstaub liegt in der Luft. Das ist in jeder Gasse so, in die ich schaue. Keine Ahnung in welcher Richting und wie weit weg der zentrale Platz der Altstadt ist, wo ich eigentlich hin wollte, aber ich habe jetzt die Nase voll. Schnellen Schrittes geht es zurück zum Motorrad, dann stürze ich mich in den Stadtverkehr und verlasse L´Aquila Richtung Osten. Nicht, ohne nochmal einen ordentlichen Regenguss abzubekommen, und natürlich sind die Regensachen schon wieder eingepackt. Ich könnte kotzen.

Wie kann das gute Werbung sein?

30 Kilometer weiter gibt es quasi nichts, die Orte sind alle runtergekommen und klein. Mitten in einem solchen Ort führt Signora Patricia den Agriturismo Cupello, aber von Agrarwirtschaft sehe ich hier nichts. Stattdessen sehe ich ein zentrales, ganz neu saniertes Gebäude mit Wegweisern zu 20 Zimmern, und über das Gelände verteilt mehrere kleine Ferienhäuser und ein Schwimmbad.

Mein Zimmer hat sogar einen Balkon! Ich lasse mich auf´s Bett fallen, stehe aber schnell wieder auf, als ich merke, dass ich sonst einschlafen werde. Dabei muss ich mich erstmal verarzten. Vor zwei Tagen habe ich mir einen tiefen Schnitt im Daumen zugezogen. Nichts Dramatisches, aber es tut sauweh, und weil der Daumen so beansprucht wird, schliesst sich der Schnitt nicht einfach so. Das ich die Hände den ganzen Tag in Handschuhen habe, macht es nicht besser: Ein Pflaster hält an der Stelle nicht. Aber ich habe was besseres.

Aus der Bordapotheke krame ich einen kleinen Flakon heraus. Statt Parfum enthält der Zerstäuber antiseptische Wundreinigung. Damit desinfiziere ich den Schnitt, dann klebe ich Wundverschluss darüber. Das Zeug wird heute statt Klammern bei Platz- und Schnittwunden verwendet. Der starke Hautkleber hält den Schnitt zusammen und wird dafür sorgen, dass die Haut schneller zusammenwächst.

So, dass war das – jetzt fehlt mir zu meinem Glück nur noch was zu essen, denn ich habe schon wieder den ganzen Tag keine Pause zur Nahrungsaufnahme gemacht.

Der Supermarkt, den Google im Ort kennt, erweist sich leider als nicht existent. Und das auf vielen Wegweisern angepriesene drei Sterne Restaurant, das eine überaus chique Website hat, entpuppt sich als runtergekommene Bude, von deren Namenszug an der Hauswand schon Buchstaben abfallen und heute geschlossen hat. Seufzend mache ich mich an den Fußmarsch zurück zum Cupello, dort gibt es Müsliriegel aus dem Notvorrat und Leitungswasser. Irgendwie läuft es mit dem Abendessen diesmal nicht rund.

Tour des Tages: Von Pescasseroli um die Majella herum nach L´Aquila und weiter auf´s Dorf.

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