Samstag, 06.02.2016
Der Februar ist in diesem Jahr zwar trocken, aber auch kalt und grau. Ich sitze am Schreibtisch, blicke raus in das winterliche Zwielicht und muffele vor mich hin. Bis sich der Frühling blicken lässt, wird es noch mindestens zwei Monate dauern. Ich will diese grauen Suppe da draußen nicht mehr. Ich brauche Abwechselung. Es muss ja nicht Sonne und Wärme sein, aber Winter in Deutschland, das ist wie ein halbes Jahr lang Rauhfasertapete anstarren. Das macht auf die Dauer dullig im Kopf. Ich will Input, was zum Ansehen, wenn es gar nicht anders geht würde ich mir jetzt sogar Kultur angucken!
Um den winterleeren Kopf wieder zu füllen bietet sich eine Städetreise an, zumal einer der großen Vorteile meines Wohnortes die Verkehrsanbindung ist. Hier kommt man schnell weg, was durchaus ein taktischer Vorteil ist. Ich brauche hier nur in den Bus zu steigen, der vor meiner Haustür abfährt, und nach maximal drei Mal umsteigen bin ich in Paris, Mailand oder… London.
Hm.
London.
Warum eigentlich nicht? Da war ich zwar schon mal, aber die Stadt ist groß. Und da ist es wärmer als hier UND es gibt mehr zum Ansehen. Geringfügig zumindest.
So kommt es, dass ich an einem Samstag Morgen das verschlafene Wiesel in den großen Rucksack setze, dann in den Bus steige und es mir dann in einen ICE gemütlich mache.
Es ist 2016, und am Frankfurter Bahnhof sind gerade Schilder zur Begrüßung von Flüchtlingen aufgestellt worden. Wird auch Zeit.
Kurzer Aufenthalt in Frankfurt bietet Gelegenheit für einen Kaffee. Beim Bäcker beugen sich Indiana Jones und eine Hexe über die Auslage. Klar, ist ja bald Karneval! Ganz vergessen. Kenne ich ja praktisch nicht, in Südniedersachsen bemerkt man Karneval nur daran, dass man im Rest der Republik niemanden erreicht.
Dann geht es mit einem anderen ICE nach Brüssel und dort durch den Bahnhof Bruxelles-Midi, der von Soldaten in voller Montur und mit automatischen Gewehren gesichert wird, dann durch die Grenzkontrollen. Die UK haben ihre Grenze bis in das unterirdische Eurostar-Terminal verlegt und kontrollieren alle Pässe.
Dann heißt es warten.
Die Wartehalle sieht aus wie ein Flughafenterminal, nur wartet hier niemand auf so etwas profanes wie ein Flugzeug. Nein, hier wollen alle in eine Rakete einsteigen: Den Eurostar. Der wirkt mittlerweile ein wenig aus der Zeit gefallen, denn er ist ein Bißchen runtergekommen, und mit seinen Bahnsteigschildern und den Angestellten in Uniformkostüm, Schleifenschal und Barret wirkt alles eher wie eine Fluglinie aus den 60er Jahren als ein moderner Schnellzug. Immerhin, schnell ist der Eurostar noch: für die 370 Kilometer von Brüssel nach London braucht er nur zwei Stunden.
Er ist sogar SO schnell, dass die Zeit eine Stunde rückwärts springt.

Uhrenvergleich: Ja, in London ist es eine Stunde früher. Dadurch dauert die Hinfahrt auch nicht so lange.
Der Zug läuft im internationalen Bahnhof London St. Pancras ein. Rund acht Stunden hat die Fahrt von meiner Haustür bis nach London gedauert. Ein Flug hätte ähnlich viel Zeit benötigt, denn ich hätte in Deutschland erst mal zu einem Flughafen hinkommen müssen, und in England dann wieder vom Flughafen zurück in die Stadt. Da war die Zugfahrt bequemer.
Ich sehe mich in der Bahnhofshalle um, durch die bewaffnete und gepanzerte Polizisten patroullieren. Große Poster künden vom Streik der U-Bahn. Streik, schon wieder. Ich fasse es nicht. Genau wie beim letzten Mal streikt die U-Bahn in London. „Ey, das ist der erste Streik seit 2 Jahren“, sagt ein Angestellter der Tube im TV-Interview. Tja. Ist auch zwei Jahre her, seit ich das letzte Mal hier war. Damals bin ich mit dem Gefühl weg gefahren, nur an der Oberfläche der Metropole an der Themse gekratzt und nicht wirklich ihre Essenz begriffen zu haben.
Mein erster Weg führt mich an einige Automaten, und kurze Zeit später schlendere ich durch den Bahnhof, in der Tasche frisch aus dem Automaten gezogenes Spielgeld, dass die Briten hier stat dem Euro als Währung haben, und eine aufgeladene Oystercard zur Nutzung des Nahverkehrs. Es ist übrigens die vom letzten Mal, ich hatte schon geahnt, dass ich wiederkomme. Wie das mit dem Nahverkehr genau geht, habe ich übrigens in den Tips für London aufgeschrieben.
Ein Schild blinkt inmitten des Bahnhofs:
Saturday’s planned 48-hour Tube strike has been called off by the Rail, Maritime and Transport Union.
Ah, SEHR gut! Strrrrrrike, no strike!
Ich nehme die Tube bis Paddington, wo mich prompt die Bronzestatue von Paddington begrüßt. Der alte Knabe steht jetzt an Gleis 1, er musste von seinen alten Ort in der Vorhalle weichen um Platz für einen weiteren Bagelwagen zu schaffen .
Mein Hotel liegt wieder unmittelbar am Bahnhof Paddington, aber in einer ruhigen Seitenstraße. Der „Norfolk Square“ besteht aus typischen, Londoner Stadthäusern, die um einen Minipark herum angeordnet sind.
Ich wohne hier gerne, nicht nur weil ich den Bären Paddington so mag, sondern einfach, weil hier Unterbringungen noch einigermaßen bezahlbar sind. Ein Zimmer in einem der kleinen Hotels kostet zwischen 70 und 100 Euro pro Nacht. Für London im Jahr 2016 ist das spottbillig. Aber jetzt weiß man hier auch noch nichts vom Brexit, der in vier Monaten beschlossen werden wird. Kaum ist der entschieden, fallen die Preise zeitweise um 50 Prozent.
Das „Belvedere“ liegt am Ende des Norfolk Square und stellt sich als Glücksfall heraus. Das Hotel ist sauber und das Personal desinteressiert, aber freundlich, mein Zimmer ruhig, frei von Schimmel und sogar die Wasserhähne im Bad und die Heizung funktionieren – nicht selbstverständlich in London. In einer Stadt, in der Touristen im Schnitt nur drei Nächste bleiben und dann nie wieder kommen, geben sich viele Hotels nicht die geringste Mühe. Verschimmelte Zimmer, nicht funktionierende Klos, kaputte Heizungen und Fenster und papierdünne Wände sind eher die Regel als die Ausnahme.
Mein Zimmer, die 14, liegt im obersten Stock. Das heißt: Sechs enge, schiefe Treppen hoch, rund 130 Stufen. Ist mir aber egal, denn das Zimmer ist ruhig, von der U-Bahn-Station unter dem Haus bekomme ich nichts mit. Dafür habe ich einen Blick über die umliegenden Dächer. Natürlich ist der Raum klein, aber das ist hier halt normal. Das Bad ist so winzig, dass man die Knie unters Waschbecken falten muss, wenn man auf dem Klo sitzt. Um das muss man sich rumwinden, wenn man aus der Dusche will. Wieder mal so eine Gelegenheit, wo ich froh bin, nicht 1,90 Meter groß zu sein.
Es regnet und stürmt draußen. Dennoch hält es mich nicht im Hotel, ich will was sehen! Ich wage mich raus und fahre mit der U-Bahn bis an die Themse. Big Ben begrüßt mich mit seinen unverwechselbaren Schlägen, und das Millenium Eye trotzt wacker dem Sturm.
Schließlich treibt mich das Wetter doch zurück ins Hotel. Vorher kaufe ich im Bahnhof Paddington noch britischen Schweinkram ein, sprich: Unfassbar süße Süßigkeiten und seltsam belegte Sandwiches. Mein Abendessen.
Sonntag, 07.02.2016
Der Sonntag ist freundlicher, der Sturm hat sich gelegt und regnen tut es auch nicht mehr. Ich mache einen Ausflug in den Norden der Stadt und fröhne dem Thanatourismus, sprich: Ich besuche einen Friedhof. Der Highgate Cemetary ist einer der „Magnificient Seven“, einer von sieben Friedhöfen, die zu viktorianischer Zeit um das Stadtzentrum herum angelegt wurden. Das war damals auch dringend nötig, denn London wuchs rapide, und die alten Friedhöfe platzten aus allen Nähten.
Highgate Cemetary ist zweigeteilt, mittendurch verläuft eine Straße. Der Ostteil ist frei zugänglich, der ältere Westteil ist für die Öffentlichkeit geschlossen. Zum Glück gibt es die „Friends of Highgate“, die ehrenamtlich den Friedhof in Ordnung halten und im Westteil Führungen veranstalten. In Begleitung von Friend Martha darf ich in den verbotenen Teil, der sich verwildert präsentiert. Martha erzählt unaufgeregt über die Geschichte des Ortes und die Geschichten einzelner Gräber.
Zu meinem Erstaunen ist der Friedhof immer noch in Benutzung. Einer der prominentesten Zugänge der letzten Jahre ist Alexander Walterowitsch Litwinenko. Der Name wird niemandem was sagen, aber kennen tun ihn die meisten: Er ist der Geheimagent, der 2006 an einer Poloniumvergiftung starb.
Ich staune ich ein wenig wie weit die Vegetation schon ist: Überall blüht es hier! Schneeglöckchen, Krokusse, sogar Narzissen kommen schon aus der Erde!
Der Friedhof wird dominiert von großen Grabanlagen und halboberirdischen Katakomben. Auch Modeerscheinungen der Zeit sind zu sehen. In den 1850er Jahren fuhren Briten total auf Ägypten ab, und so gibt es hier auch ein ägyptisches Tor.
Ansonsten präsentiert sich Highgate grün und verwunschen. Ein fast schon magischer Ort.
Irgendwo hier ist das Grab von Douglas Adams, aber das finde ich nicht. Stattdessen zeigt mir Martha das Grab von Tom Sayers. Auf der Grabplatte ist das Wesen verweigt, dass er am meisten liebte: Seinen Hund Lion, ein Mastiff.
Sayers Beerdigung war eine der größten, die Highgate gesehen hat. Dabei war er nur ein Bare-Knuckle-Fighter, jemand, der sich gegen Geld mit anderen prügelte. Beim Barenuckle-Fighting ging im Kern darum, den Gegner mit bloßen Fäuste zu Matsch zu hauen und die Extremitäten aus den Gelenken zu drehen. Wie das ausgesehen haben muss, zeigt eindrucksvoll Dame Evie Frye in „Assassins Creed: Syndicate“:
Ultrabrutal, im Jahr 1860 bereits illegal, aber genau deswegen ein Publikumsspekakel und ein riesiges Geschäft. Zur Legende wurde Sayers in einem Kampf, in dem er gegen den amerikanischen Champion John C. Heenan antrat.
Die beiden Männer standen halbnackt im Ring und prügelten aufeinander ein, der Amerikaner 20 kg schwerer und einen Kopf größer als der 1,73 Meter große Sayer.
Sayers rechter Arm wurde früh im Kampf aus dem Gelenk gedreht, so dass er nur mit dem linken angreifen konnte. Das reichte aber auch, denn zu dem Zeitpunkt hatte er seinem Kontrahenten bereits ein Auge und den Großteil des Gesichts zu Matsch gehauen, so dass der praktisch blind um sich schlug. Zwei Stunden und über 40 Runden hieben die Kämpfer aufeinander ein.
Die Stimmung kochte so hoch, dass der unbedingte Kampfeswille der beiden auf das Publikum übersprang: Es begann sich auch zu prügeln, und die Polizei griff ein und brach die Veranstaltung ab. Der Schiedsrichter erklärte daraufhin ein technisches Unentschieden, aber für die Londoner war klar, das Sayer gewonnen hatte. Als fünf Jahre später, im Alter von nur 39 Jahren, an Diabetes starb, umfasste der Trauerzug über 100.000 Personen und war acht Kilometer lang, von Highgate bis nach Camden Lock.
Nach der fast schon kontemplativen Ruhe auf dem Westteil wirkt der öffentlich zugängliche Ostteil von Highgate fast schon überlaufen. Hier liegen einige Promis, unter anderem Karl Marx, dem heute ein Vogel auf die Nase geschissen hat.
Sieht man von den vielen Besuchern ab, wirkt auch der Ostteil verwunschen. Wege und Grabsteine sind mit Efeu und Moos überwuchert, Grabmale stehen krumm und schief in der Landschaft.
Dann verlasse ich Highgate wieder, nicht ohne über die Schilder an der Straße zu schmunzeln.
Am Nachmittag begebe ich mich zum Bahnhof Paddington. Hier grüßt der Bär, und ich treffe mich mit Tony.
Tony ist ein total durchgeknallter U-Bahn-Fan. Er brennt für die Tube und erzählt voller Begeisterung von ihrer Geschichte, der Bedeutung, den Stationen und dem Plan der U-Bahn. Der Plan der Tube ist nämlich etwas Besonderes. Als erster Plan stellte er ab 1933 die unterirdischen Bahnlinien nicht topographisch korrekt dar, sondern stilisiert und in 90 und 45 Grad Winkeln, wie auf einem Mikropozessor.
Heute sind alle großen Linienpläne so dargestellt, aber als der Erfinder, Harry Beck, 1933 seinen neuen Plan der London Underground Gesellschaft vorstellte, lehnte sie ihn rundweg ab. Und das drei Mal, bis sie seinen Entwurf für 10 Guineas – etwas 70 Pfund pder 100 Euro – kaufte und Beck noch eine zeitlang als Grafiker beschäftigte.
70 Jahre später ist der Linienplan gar nicht mehr anders denkbar. Er ist so unverwechselbar, dass er eine eigene Marke ist. Es gibt ihn auf Tassen, T-shirts und allem möglichen, sogar auf Duschvorhängen. Mit diesen Devotionalien setzt London Underground pro Jahr mehr um als mit dem Verkauf von Fahrkarten, nämlich unfassbare 7 Milliarden Pfund.
Behauptet zumindest Tony, aber diese Information zweifele ich heftig an. Offiziellen Zahlen zufolge können es maximal 700 Millionen sein, was aber immer noch viel ist. Egal, Tony ist liebenswürdig und leicht irre, aber er erzählt mit Hingabe und ist freundlich. Anders sein Kollege, der mich durch mehrere weitere U-Bahnstationen führt und sich als unerfahrene Schlaftablette entpuppt. Immerhin kann er noch was interessantes zur Westminster-Station erzählen. Durch die vielen Säulen und das Metall („mit deutschen Patentschrauben!“) komme ich mir vor, als würde ich in einem Raumschiff stehen.
Das kommt nicht von ungefähr. Beim Bau war Westminster Station eigentlich nur ein riesiger, 40 Meter tiefer Schacht. In den wurde dann eine Metalltreppe eingehakt, die wie eine Schere aufgebaut ist stückweise entfaltet wurde. Sie ist schwimmend zwischen riesigen Säulen aufgehängt, die nicht nur die Station stützen, sondern auch den Elizabeth-Tower, der direkt darüber steht. Den kennt jeder: Das ist der Uhrenturm in dem eine der berühmtesten Glocken der Welt hängt: Big Ben. Der Elizabeth-Tower steht nämlich genau darüber und hatte vorher schon Risse bekommen. Westminster Underground stützt das Wahrzeichen nun und verhindert Schwingungen im Fundament.
Ich bin amtlich beeindruckt, und nach einem Tag voller Rumlauferei auch amtlich müde.
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