Reisetagebuch London 2016 (4): Zauberhaft
Mittwoch, 10. Februar 2016, London
Wenn ich für eine Woche in einer Stadt bin, nehme ich mir gerne einen Ausflug nach Außerhalb vor. Von Florenz aus kommt man mit der Bahn gut nach Vinci, von Paris ist man schnell in Versailles, und von London aus ist man mit der Midland Bahn* vom Bahnhof Euston aus in 20 Minuten in Watford Junction.
Watford Watt? Gut, das muss man jetzt nicht kennen, lange bleiben die meisten Besucher dort eh´ nicht. Watford Junction hat viel Publikumsverkehr, aber die meisten Besucher sehen vom Ort gar nichts. Sie steigen aus dem Zug und direkt in einen der großen Busse auf dem Bahnhofsvorplatz, die von oben bis unten mit “Warner Bros.”-Motiven beklebt sind. Die bunten Busse fahren in das 10 Minuten entfernte Leavsden.
Leavsden? Das sagt Filmfreunden was! Hier steht schon lange ein Filmstudio. Das wurde in den 90ern so richtig groß, als George Lucas hier Teile der Star-Wars-Prequels drehen ließ. Dann siedelte sich die Produktion der Harry-Potter-Filme hier an. Für die wurden ganze Hallen neu gebaut, und als 2010 der letzte Harry-Potter-Film abgedreht war, ließ Warner Bros. die Gebäude stehen, dekorierte ein wenig um und machte sie dann der Öffentlichkeit zugänglich.
Die Hallen J und K beherbergen seitdem die “Warner Bos. Movie World Harry Potter Experience”. J und K? Kann eigentlich kein Zufall sein, dass die Autorin der Harry-Potter-Geschichten J.K. Rowling heißt, oder?
Als ich aus dem Bus steige, höre ich Schüsse in der Ferne. Hinter hohen Erdwällen und Sichtschutzzäunen lassen sich Greenscreen-Aufbauten erahnen, vermutlich wird da ein Kriegsfilm gedreht.
Bis zu meinem Einlasstermin ist noch ein wenig Zeit, und ich will am Rand der Straße um die Hallen herumgehen. Das Gras ist gefroren und knirscht unter den Schuhen. Der Wind ist eiskalt, und schon nach kurzer Zeit drehe ich um und gehe lieber ins warme Foyer und trinke einen Kaffee. Ich könnte auch Butterbier haben, aber wer weiß schon, was das ist?
Kurz vor meiner Einlassuhrzeit stelle ich mich in die Schlange vor dem Eingang. Es ist kurz nach 10 Uhr, noch ist nicht viel los. Das wird sich später ändern, wenn Reisebusse eintreffen und hunderte Leute gleichzeitig hier rein wollen.
Die Besucher werden immer in Gruppen eingelassen. Als ich dran bin, werde ich zusammen mit vielleicht 50 anderen in ein Kino geführt, in dem ein kurzer Film über die Geschichte der Filmstudios und -natürlich- der Harry-Potter-Filme gezeigt wird. Dann öffnet sich eine hohe Tür, und wir werden aus dem Kino in einen großen Raum geführt. Hier sieht es aus wie in einer gothischen Kirche, in die jemand lange Esstische gestellt hat. Die große Halle von Hogwarts, komplett mit Requisiten.
As alles sieht beeindruckend echt aus. Die Wände sind aus wuchtigen, rohen Steinen gemauert, alles wirkt uralt. Ist es natürlich nicht wirklich, aber das ist in dem Moment nur daran zu merken, dass der Saal keine Decke hat, sondern in Beleuchtungsgerüsten und schwarzen Stoffbahnen endet.
Bemerkenswert ist die Liebe zum Detail, mit der hier alles gefertigt ist. Das ist echte Handwerkskunst, von den Bauten bis zu den Knöpfen an den Kostümen.
Ich wandere durch die Ausstellung und kann mich kaum sattsehen an den vielen Requisiten. Es gibt verschiedene Räume, durch die man nacheinander geht. An multimedialen Stationen wird gezeigt, wie bestimmte Szenen umgesetzt wurden oder wo spezielle Requisiten vorkamen. Am beeindruckendsten sind aber die Filmsets, durch die man gehen kann. Dumbledores Büro, Snapes Klassenzimmer mit den vielen Tränken, The Burrough der Weasleyfamilie – alles ist hier, und alles wirkt so real!
Momment, das kenne ich doch? Tatsächlich, das Vorbild für den geflügelten Keiler war das “Porcelino”, das Schwein, das in Florenz in der Markthalle steht.
Auch interessant: Die unterschiedlichen Tierdarsteller und ihre verschiedenen Charakterzüge. Hedwig wurde von vier Eulen verkörpert: Elmo (“ruhig, ist gerne in der Nähe von Menschen”), Sprout (“An Daniel Radcliffe gewöhnt, anders als andere Eulen total relaxed”), WTON (“Spitzname steht für White Terror of the North, frech, sitzt nie still, trainiert für Flugszenen”) und Gizmo (“Sehr schlau, abgerichtet um Briefe aufzuheben und Besenstiele im Schnabel zu tragen”).
Auch ein Außengelände gibt es. Hier steht das Haus der Potters, windschief und mit eingestürztem Dach. Auch ein Teil der großen Brücke von Hogwarts sowie das Haus der Dursleys aus dem Privet Drive und der Knight Bus, der knalllila Dreidecker, finden sich im Außengelände.
Dann geht es im Inneren der kleineren Halle weiter. Hier gibt es einen Einblick in die Architektur- und Planungsabteilung und in die animatronischen Labore, in dem unter anderem ein sehr echt wirkender Kopf von Hagrid mit den Augen rollt.
Ein Stück weiter steht dampfend und abfahrbereit der Hogwarts Express.
Und auch hier wieder: Details, Details, Details. Zum Beispiel diese Werbetafel für ein verzaubertes Liebesparfüm.
Und dann stehe ich plötzlich in der Winkelgasse. Die komplette Diagon Alley ist als richtiger Straßenzug aufgebaut. Man kann daran entlangschlendern und sich die Auslagen der Geschäfte ansehen, natürlich auch dem Zauberstabladen von Mr. Olivander oder das Scherz-Emporium der Weasleys.
Ganz am Ende verschlägt es mir dann noch einmal den Atem. Ich komme um eine Ecke und stehe vor… Hogwarts! In einem großen Raum steht das Modell der Burg, und allein die schiere Größe ist beeindruckend. Das Modell muss fast 10 Meter hoch und 15 Meter breit sein. Auf einem Steg läuft man darum herum und kann es dadurch von allen Seiten und unterschiedlichen Höhe bewundern.
Ich hatte immer gedacht, dass die in den Filmen komplett aus dem Rechner ist, aber tatsächlich hat man ein detailgetreues, beleuchtetes Modell gebaut. Die Beleuchtung im Modellraum simuliert Tag und Nacht, alle paar Minuten wird das Sonnenlicht-Gelb der Scheinwerfer zu einem dunklen blau, wie in der Nacht. Beleuchtet sieht Hogwarts noch zauberhafter aus. Moment, ist da gerade jemand an einem Fenster vorbeigehuscht? Später lese ich auf einem Schild, dass mir die Augen keinen Streich gespielt haben. Die Liebe der Modellbauer ist so weit gegangen ist, das mit Glasfasern Bewegungen hinter den Fenstern zu erahnen sind.
Rund drei Stunden bin ich in den Kulissen unterwegs, dann kämpfe ich mir einen Weg durch den großen Giftshop (in dem man u.a. alle möglichen Zauberstäbe oder ein Quidditsch-Set kaufen kann), dann bringt mich der Bus wieder zurück nach Watford Junction und die Midland wieder nach Euston.
Noch unterwegs bestelle ich online die Harry-Potter-Filmbox auf Blu-Ray. Wieder Zuhause habe ich mit der viel Spaß, und ich muss sagen: Die ganze Detailverliebtheit, die vielen echten Sets und der weitgehende Verzicht auf Greenscreen-Aufnahmen, das zahlt sich aus. Die Filme sind wirklich sehr wertig und geerdet, was die Austattung angeht. War mir früher nie wo aufgefallen.
Wo ich schon mal in Euston bin, esse ich bei Speedys. Es gibt Bangers & Mash, das sind drei Frühstückwürstchen mit dickem, selbstgestampften Kartoffelbrei. Dann fahre ich nach Camden und lasse mich durch die Welt der Trödler treiben. Ich liebe das. Verrückte Mode, alte Bücher, dazwischen seltenes Spielzeug und Antiquitäten, viel Handwerkskunst, Buden mit exotischem Essen – Camden Lock ist ein riesiger, summender Flohmarkt, und egal ob man was kauft oder nicht – ein Erlebnis ist es auf jeden Fall.
Dann geht es wieder nach Paddington. Kurzer Einkauf eines Abendessens bei Sainsburys, dann lege ich mich auf´s Ohr. Keine Ahnung was los ist, irgendwie bin ich total kaputt.
Gegen 20 Uhr rappele ich mich wieder auf, fahre mit der Bakerloo nach Waterloo Station und besuche dort das iMax.
Leider läuft Star Wars nicht mehr, dafür erlebe ich die Premiere von Deadpool.
Das Bild, eine Laserprojektion, und der Ton sind brilliant. Die Bestuhlung leider nicht. Ich merke jede Sitzbewegung meiner Nachbarn, und der Fußraum ist so winzig, dass mit die Hinterfrau unabsichtlich, aber beständig gegen den Kopf tritt. Notiz: Man möchte im BFI iMax in der Mitte sitzen, am Besten Reihe F. Gerade noch erträglich ist Reihe G Platz 30, alles darunter kann man vergessen.
Als die Vorstellung vorbei ist, gehe ich zu Fuß in Richtung Themse. Als Junge vom Dorf, in dem Nachts die Straßenbeleuchtung ausgestellt wurde, faszinieren mich Städte bei Nacht, und London strahlt in der Dunkelheit besonders schön.
Um Mitternacht stehe ich auf der Waterloo Bridge und blicke auf die leuchtende Skyline von London. Als Big Ben 12 mal schlägt, bin ich 41 Jahre alt geworden. Ein schöner Ort, um ein neues Lebensjahr zu beginnen.
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* Ticket kosten knapp 18 Pfund für Hin- und Rückfahrt zu beliebiger Uhrzeit. Info hier: https://www.buytickets.eastmidlandstrains.co.uk, kaufen am Automaten im Bahnhof.
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Weiter zu Teil 5: Custard. Geschüttelt, nicht gerührt.
3 Gedanken zu „Reisetagebuch London 2016 (4): Zauberhaft“
Tja. Wenn niemand einen Kommentar abgibt, gefällt der Beitrag niemandem oder allen, oder es liest ihn niemand oder niemand Deiner Leser war jemals an diesen Orten…
Wann kommt das Buch ?
Buch? Der Text liegt doch vor, wer braucht denn den noch auf totem Baum?
Jene, welche lieber und oder auch blättern als wischen oder klicken – das ist noch die Mehrheit [glaube ich ;-)]