Reisetagebuch London 2016 (6): Das Herz des Empire ist eine Bruchbude
Im Februar 2016 sind Silencer und das Wiesel in London unterwegs. Heute geht es mit mir rapide bergab, das Empire zerfällt und der Quantensprungzeitbeschleuniger des Blogs wird für billige literarische Kniffe missbraucht.
Freitag, 12.02.2016
Die Erkältung hat mich jetzt voll erwischt. Ich bekomme die verquollenen Augen kaum auf, die Nase ist zu und die Stimme weg. In meinem Kopf ist eine Rotte Zwerge mit Presslufthämmern am Werk und meißelt mein Hirn in die Wandung des Schädels. Ich rolle mich aus dem Bett und muss mich am Schreibtisch abstützen. Gut, dass das Zimmer so klein ist, hier kann ich nicht umfallen.
Ich schleppe mich zum Rucksack und wühle den roten Stoffbeutel mit der kleinen Reiseapotheke heraus. Nasenspray stoppt den steten Schleimfluß und macht ein Durchatmen möglich, Aspirin wird gegen die Kopfschmerzen helfen, und Salbeibonbons wirken gegen den schlimmsten Hustenreiz.
So aufmedikamentiert mache ich mich auf dem Weg nach Westminster, genauer: Zum Palast von Westminster.
Den Uhrenturm des Palasts mit Big Ben, der berühmten Glocke mit dem markanten Klang, kennt jeder.
Den Palast hinter dem Uhrenturm zu besuchen gelingt aber den wenigsten. Er ist eine Ansammlung von Hallen, Kammern, Gängen und Gebäudeflügeln, in die man als Normalsterblicher kaum reinkommt.
Selbst ich habe noch Probleme als ich durch die Sicherheitsschleuse am Cromwell Green, dem nördlichen Palasteingang, will. Zwar kann ich eine Eintrittserlaubnis vorweisen, aber den Beamten an den Metallscannern kommt es komisch vor, dass ihre Geräte nicht anschlagen als ich hindurchgehe. Ja, wieso auch? Jacke und Rucksack gehen separat durch eine Röntgenanlage, und alles, was ich dann noch am Leib habe, ist aus Kunststoff. Absichtlich.
Genau wegen dieser ganzen Securitychecks habe ich mir einen Gürtel und eine Uhr aus Kunststoff zugelegt, damit ich nicht dauernd… “Sir, bitte legen Sie Gürtel und Uhr ab und ziehen Sie die Schuhe aus”, sagt der Sicherheitsmann.
Ja, genau DESWEGEN trage ich den Kunststoffkram, damit genau das nicht passiert und ich mich dauernd an- und ausziehen muss. Angesäuert pfriemele ich den Gürtel aus der Hose und hüpfe auf Socken vor den Sicherheitsleuten rum. Unwürdig, dieses Theater.
Kurz darauf bin ich wieder angekleidet und betrete eine hohe, offene und sehr kalte Halle.
Das ist Westminster Hall, die große Empfangshalle des Palastes. Die erinnert mich spontan eher an die Halle von Wikingern oder eine dieser großen Versammlungshallen aus “Game of Thrones” als an einen Palast. Damit liege ich auch gar nicht so daneben, lese ich später. Westminster Hall ist der älteste Teil des Komplexes und fast 1.000 Jahre alt, sie datiert auf das Jahr 1.097. Das ist von den Wikingern nicht weit weg. Wahnsinn.
Hier treffe ich mich mit Michael Whalley. Michael ist Mitte 50, hochgewachsen, schlank, kurze graue Haare, Lippen so schmal, dass sie praktisch nicht vorhanden sind. So stellt man sich einen britischen Butler vor, aristokratische Haltung, aber etwas steif. Er trägt eine runde Brille und einen grauen Pullover, an dem seine Securityfreigabe befestigt ist und ein Badge, der ihn als offiziellen Tourguide ausweist. Seine akzentuierte Sprechweise lässt deutlich erahnen, dass er Sprachtraining gehabt hat – Michael ist als Schauspieler für Rundfunk und Fernsehen tätig, wenn er nicht gerade Touren durch Westminster Palace macht.
“Ich bin heute ihr Guide und ihre Begleitung. Bitte halten Sie sich in meiner Nähe auf, wir wollen doch Probleme mit der Security vermeiden, nicht wahr?”, sagt Michael und weist dann darauf hin, dass das fotografieren im Palast streng verboten sei. Ich halte mich daran, die machen hier keine Gefangenen.
Es gibt nicht viele Touren durch den Palast, und die einzige andere Möglichkeit hier rein zu kommen ist, in dem man als Brite den Abgeordneten seines Wohnortes um einen Besuchstermin bittet. Als Nicht-Brite bleiben einem nur Michael Whalley und seine Kolleginnen und Kollegen, aber ich bin mir sehr sicher, dass ich mit Michael besser dran bin als mit einem Politiker. Der hätte bestimmt nicht so ein gentlemenhaftes Auftreten und so einen feinen und ironischen Witz, wie Michael ihn nun an den Tag legt.
Er führt mich durch das Gebäude, und schafft es immer wieder -ohne eine Miene zu verziehen- Bemerkungen über das britische Regierungssystem loszulassen, die für sich genommen vollkommen unverdächtig wirken, die mich im Kontext aber breit Grinsen lassen. Manchmal ist sogar das witzig, was er NICHT ausspricht.
So erzählt er, während wir durch gothisch anmutende Hallen wandeln: “Das ganze Gebäude ist zuletzt in den 50ern, kurz nach dem Krieg, renoviert worden. Heute zieht es durch die Fenster, das Mauerwerk hat Risse, dauernd fliegen Sicherungen raus weil die Stromversorgung nicht dem heutigen Standard entspricht und bevor Sie nach Internet fragen: Nein, es gibt kaum eine Infrastruktur dafür. Das ist eben ein traditionsbewusstes Gebäude, vom Dach bis zum Keller.” Was er nicht ausspricht, aber im Raum hängt, ist die Einstellung der Menschen, die hier arbeiten: Der Politiker des Landes. Internet und Strom. Dumme Moden, die muss man nicht mitmachen, die gehen bestimmt von alleine weg.
Wow. Das Herz des Vereinigten Königreichs, eine Bruchbude, bei der es vermutlich sogar durchs Dach regnet? Aber nicht mehr lange, sagt Michael, die Sanierung habe dann jetzt doch mal begonnen. Einige Gebäudeteile sind eingerüstet und die nächsten Jahre gesperrt. Mit den Arbeiten habe man aber nur beginnen dürfen, weil den Abgeordneten Teile des Dachs auf die Köpfe zu fallen drohte.
Dann erzählt er was über die Hallen und Gänge und die Intrigen und Deals, die hier ihren Anfang nahmen oder besiegelt wurden. Schließlich betreten wir
das House of Commons, das britische Unterhaus. Oder wie es offiziell heißt: „Die Ehrenwerten Ortschaften des Vereinigten Königreichs von Großbritannien und Nordirland, im Parlament versammelt“ (engl. „The Honourable the Commons of the United Kingdom of Great Britain and Northern Ireland in Parliament assembled“).
Es ist ein großer, hoher Saal mit vertäfelten Wänden. Er wirkt fast schlicht, wie eine alte Bibliothek. An den Wänden ziehen sich Ränge mit Sitzplätzen für Zuschauer entlang. Um Raum stehen schlichte, enge Bänke, die mit grünem Leder bezogen sind. Die Bankreihen stehen sich gegenüber, auf der einen Seite sitzt die regierende Partei, auf der anderen die Opposition. Platz ist für alle Abgeordneten der Wahlkreise, insgesamt 650.
Beide Seiten sehen sich direkt an. In der Mitte des Raums ist ein breiter Gang freigelassen. An dessen Ende steht ein Thron. Hier sitzt der Speaker, der die Versammlung leitet. Das darf er aber nur, wenn auf einem Tisch vor ihm zuvor der rituelle Streitkolben abgelegt wurde. Ja, auf solche Humbugzeremonien legen die Briten VIEL wert. Tradition und so, wissen schon.
Ich muss grinsen, weil ich bei diesem Humbug immer an das Ritual mit den Schlüsseln der Königin denken muss. Das ist das älteste Militärritual der Welt und geht so: Jeden Abend schlufft der Oberwächter des Towers von London mit einer traditionellen Laterne in der einen Hand und einem Schlüsselbund in der anderen los und schliesst das Haupttor für die Nacht ab. Auf dem Rückweg hält ihn, direkt am Tordurchgang zum Verdammt blutigen Turm, eine Wache auf und brüllt ihn an:
“HALT! WER IST DA?”
Der Oberwächter drückt dann den Rücken durch und schreit zurück
“DIE SCHLÜSSEL”
Darauf brüllt die Wache: “WESSEN SCHLÜSSEL?!?”
“QUEEN ELIZABETHS SCHLÜSSEL”
Dann gibt die Wache den Weg frei und schreit “KÖNIGIN ELIZABETHS SCHLÜSSEL DÜRFEN DURCH!
ALLES IST GUT!”
Dann gehen sie gemeinsam ein paar Schritte, bis der Oberwächter seinen Hut lüpft und mit großem Ernst röhrt: “GOTT SCHÜTZE DIE KÖNIGIN!!!”, worauf die Wache schreit: “AMEN!!!!!!!!!” – das muss sie aber genau dann tun, wenn eine nahegelegende Uhr zur vollen Stunde schlägt, sonst gilt das nicht.
Und das machen die jeden Abend. Seit mindestens 600 Jahren schreien sich jeden Abend zwei Leute an, nur weil der eine eine Tür abschließen will. Traditionen haben manchmal einen seltsamen Ursprung, diesen würde ich zu gerne wissen.
Michael holt mich aus meinen Gedanken zurück und erläutert den Ablauf einer Sitzung des House of Commons. Wenn der Streitkolben ordnungsgemäß platziert ist und der Speaker die Sitzung eröffnet hat, dann redet in der Regel ein Politiker und läuft dabei um den Tisch mit den Streitkolben herum.
Geredet wird frei und ohne Manuskript, was die rhetorischen Fähigkeiten der britischen Politiker erklärt. Freie Rede wird bereits auf dem College gelehrt und gehört zum Handwerkszeug von Politikern. Peinliches Gestammel oder abgelesene Reden vom Blatt wie in unserem Bundestag kommen hier nicht vor.
Im House of Commons buht bei hitzigen Debatten immer die eine Seite des Raumes, während die andere Hurra! ruft. Ohne Scheiß. Aber was manchmal anmutet wie eine Gaudi ist tatsächlich das Zentrum der Macht in UK. Hier wird alles entschieden, von einfachen Gesetzen bis zum Brexit, und ohne Rückhalt des Unterhauses fällt der Premierminister sofort aus dem Amt. Ich bin wirklich, wirklich ehrfürchtig. Was dieser Raum schon alles gesehen hat!
In den Ecken des Saals sehe ich Kameras von TV-Kaliber. Michael nickt. “Die meisten Debatten sind öffentlich und werden im Fernsehen und im Internet übertragen.” Tatsächlich! Der Livestream findet sich hier: http://www.parliamentlive.tv/Commons
Mein Schädel dröhnt immer noch, aber die Führung ist zu faszinierend, um mich davon ablenken zu lassen. Ich folge Michael durch eine Tür. “Auf genau einer Achse mit dem House of Commons, aber am anderen Ende des Gebäudes, liegt das House of Lords”, sagt er. “Das ist ganz praktisch, weil man schnell laufende Boten zwischen Unterhaus und Oberhaus hin und herschicken kann, und in den dem Gang zwischen den Häusern kann man sich unverfänglich treffen und… Deals aushandeln”. Aha.
Im Bild ist links das Unterhaus, rechts das Oberhaus markiert. In den Gebäudeteilen drumrum sind Büros, vor allem für die 650 Abgeordneten der Wahlkreise.
Das “Oberhaus” ist wieder ein großer Saal, aber prächtiger ausgestaltet. Fast wie eine vergoldete Kirche wirkt der Raum. Auch hier gibt es Bankreihen die einander gegenüber stehen, aber sie sind größer und aus weichem, vornehm gestepptem und knallrotem Leder.
Im Mittelgang stehen plüschige, weiche Sitzbänke ohne Rückenlehne. Sieht aus wie in einem Puff. Zumindest wie ich es mir in einem Puff vorstelle.
“Das ist der Judges Woolsack, der Sitzplatz des Lordkanzlers. Wenn er darauf Platz nimmt, wird ihm sein bequemes Kissen für den Rücken gebracht”, sagt Michael. Aha. Man reiche dem Lordkanzler sein bequemes Kissen, sonst kann er nicht arbeiten. Monty Python war weit weniger absurd als wir immer dachten. Wie alte Säcke sieht de rote Bank aber nicht aus. Eher wie etwas, wo sich gut drauf räkeln lässt. Zusammen mit der Bemerkung, dass es ja nicht nur Lords hier gibt, sondern auch die ein oder andere Baroness, schiebt sich ein Bild in meinen Grippekopf. Das ich schnell wegwische.
Am Ende des Raumes steht wieder ein Thron, und der ist diesmal wirklich für die Queen. Hier sitzt sie, wenn sie zu Beginn einer neuen Legislaturperiode das Regierungsprogramm verliest.
“So ganz habe ich das System nicht verstanden”, sage ich. “Wozu braucht man die Lords noch?”. Michael schmunzelt. “Lords sind auf Lebenszeit ernannt. Sie sind absolute Experten auf ihrem Gebiet und können völlig frei vom Tagesgeschäft oder irgendwelchen Deals entscheiden. Sie sind ein Korrektiv und eine Kontrollinstanz für das Parlament, in dem Berufspolitiker sitzen.” Er macht eine ausladende Handbewegung “In diesem Haus haben sie alle ihre Büros. Und sie arbeiten hier wirklich, und sie sind wirklich Experten! Stellen Sie sich das vor, wenn es um Fragen von Musik und Kultur geht, haben wir Andrew Lloyd Webber als Experten. Und durch die Ernennung auf Lebenszeit fällt der Druck durch Wahlen weg. Die Lords müssen sich nicht opportun gegenüber Moden, Wählerwillen oder politischem Klima verhalten. Sie können so handeln, wie es ihr Gewissen ihnen sagt.”
Ich bin beeindruckt, weil mir das System einleuchtet. Wie sich später raustellt, hat Michael mir aber eine stark romantisierte Version erzählt. In der Praxis ist es nämlich so, dass auch das House of Lords zum überwiegenden Teil nicht aus hart arbeitenden, überparteilichen und unbestechlichen Experten besteht, sondern eben doch aus Berufspolitikern. Adeligen, alten, weißen Männern, die darauf aus sind ihre Pfründe zu sichern und vom alten England zu träumen. Nach einer 2015 veröffentlichten Studie reichen die zudem gerne große Rechnungen ein ohne viel zu tun. Nunja. Aber die IDEE war gut.
Nach knapp zwei Stunden endet die Tour, und ich stehe im Nieselregen vor dem Palast und bin um viele Erkenntnisse reicher. Das Herz des Empire – eine baufällige Bruchbude voller alter Männer, die bizarre Traditionen pflegen. Ich überlege, was ich nun tue. Weit zu laufen versuche ich besser gar nicht erst, ich bin wackelig auf den Beinen und habe nur noch Watte im Kopf. Da kommt es mir zupass, dass direkt am Parlament ein Bootsanleger ist.
Ich besteige eines der kleinen Boote, die die Themse hoch- und runterschippern und die im Sommer völlig überfüllt sind mit Touristen. Heute sind außer mir vielleicht noch 5 Personen an Bord. Ich suche mir einen Platz unter Deck, lehne die heiße Stirn gegen die kühle Scheibe und lasse London langsam draußen vorbeiziehen.
Auch am OXO-Tower kommt das Boot vorbei. OXO war früher eine Firma, die mit Fleischextrakt handelte. Am Themeseufer herrschte in den 1930er Jahren eigentlich Werbeverbot, aber als die Firma die den Bauantrag einreichte, fiel den Beamten die beiden großen Os mit dem dezenten X nicht auf. Erst als der Turm stand und der Schriftzug beleuchtet wurde, ging denen auf, was sie da genehmigt hatten.
Viele, alte Dockgebäude stehen noch, sind aber nun aufwendig in Luxusappartments oder Einkaufsorgien saniert worden.
Nach der Tower Bridge nehmen die großen Bauten langsam ab, die Häuser werden kleiner. Es wird dörflicher, zumindest ein wenig und nach Londoner Maßstäben.
Dann hält das Boot auf Greenwich zu. Ander als ich lange dachte, wird das nicht “Grennitsch”, sondern wirklich “Griehn-itsch” ausgesprochen.
Am Pier steht stolz die Cutty Sark, ein alter Teesegler. Einst eines der schnellsten Schiffe der Welt. Heute steht es auf Stützen, der Rumpf ist halb im Boden versenkt, rundrum ist ein Glasbau errichtet. Von Außen sieht es aus, als ob die Cutty Sark durch die See pflügt, im Inneren kann man um das Schiff herumlaufen. Sehr cool!
Das Innere der Sark ist ein Museum, und ein gut gemachtes noch dazu. Hier lernt man viel über den Wert des Tees vor 150 Jahren und wie die Seeleute damals gearbeitet haben.
Der Name des Schiffe kommt von der Gallionsfigur und heißt wohl so viel wie “Kurzes Hemdchen”. Und tatsächlich ist das Hemd der Meerjungfrau so kurz, dass ihr beim runterziehen oben die Brüste rausfallen. Kein Wunder, das die so böse guckt.
Andere Gallionsfiguren haben es da besser, eine bunte Sammlung der Dinger steht unter der Cutty Sark.
Neben der Cutty Sark ist das Marinemuseum.
Ich muss lachen, als ich das Schild “Royal Hospital for Seamen” lese.
Ich finde das urkomisch! Das ist bestimmt die königliche Samenbank! Königliches Sperma! Buahahaha! Ich breche in lautes Gelächter aus, und die umstehenden Leute fangen an zu gucken, wie ich vor dem Schild stehe und mich gar nicht wieder einkriege. Ich kriege keine Luft mehr vor Lachen, dass in einen Hustenanfall übergeht.
“Alles OK mit Ihnen, Sir?”, fragt einer der Rentner, die hier Aufsicht machen. Ich nicke, kichere noch kurz und sage “alles OK”, dann knicken mir die Knie weg und ich sinke schief gegen die Wand. “Geht es Ihnen wirklich gut?”, fragt der Rentner und guckt besorgt. Ich mache eine wegwischende Handbewegung und stemme mich wieder in die Vertikale. “Geht schon”, krächze ich und bewege mich zum Ausgang.
Geht mir natürlich nicht gut. Ich habe Fieber, das merke ich jetzt ganz deutlich. Es fühlt sich an, als ob meine Schädeldecke kribbelt und die Augäpfel ein Eigenleben führen. Außerdem muss ich dauernd husten, aus meiner Nase rinnt ohne Unterbrechung Schnodder und WIESO VERDAMMT DREHT SICH DAS STRAßENPFLASTER? Ist sowas überhaupt erlaubt? Seltsamerweise bin ich aber trotz des angeschlagenen Zustand merkwürdig euphorisch. Vielleicht das letzte Hoch kurz vor dem totalen Zusammenbruch.
Ich laufe durch den alten Tunnel vor der Cutty Sark unter der Themse durch und setze mich auf der anderen Seite in die Dockland Bahn. Das ist die schnellste Linie um zurück nach Paddington zu gelangen.
Als ich auf den letzten Metern vor dem Hotel noch einem waschechten General begegne grüße ich ihn zackig und breche ich wieder in irres Gekicher aus.
General Litter! HAHAHA! Mega!
Ich bin froh, als ich endlich die 152 Stufen im Belvedere hochgefallen bin und die Tür meines Zimmerchens hinter mit schließen kann. Fünf Minuten später sieht die kleine Butze aus wie ein Lazarett. Überall liegen Taschentücher und Aspirinblister und Nasentropfen rum.
Ich sinke auf´s Bett und schließe die Augen.
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Ich öffne die Augen. Wenn ich jetzt einschlafe, ist der Tag gelaufen. Das will ich aber noch nicht, nach 8 Stunden Bahnfahrt habe ich ein wenig Bewegungsdrang.
Es ist schön wieder im Belvedere zu sein, und ich habe sogar das gleiche Zimmer wie vor einem Jahr! Gut gelaunt mache ich mich auf den Weg. Es wird zwar schon dunkel, aber ich genieße den Fußmarsch durch London. Hier wollte ich doch unbedingt nochmal hin, nachdem im vergangenen Jahr alles so… ausgefranzt ist.
Ich erinnere mich noch eine königliche Samenbank und irgendwas mit einem General und das ich irgendwann vor Grippe nicht mehr aus den Augen gucken konnte. In dem Zustand habe ich wohl versucht eine Aufführung von STOMP! zu besuchen, die aus irgendeinem Grund nicht beheizt war, zumindest habe ich die ganze Zeit gefroren wie irre.
Aber daran habe ich kaum noch eine konkrete Erinnerung, genau wie ich nicht mehr wirklich was von der Zugfahrt nach Hause weiß. Ich kann mich nur noch daran erinnern, dass mir sind die Taschentücher ausgegangen sind, weil mehr Flüssigkeit aus meiner Nase lief als ein normaler menschlicher Körper überhaupt enthalten kann. Wie ich dann nach Hause gekommen bin, ist in dem Nebel des veritablen grippalen Infekts verschwunden.
Aber nun bin ich wieder in London, und heute Abend führt mich mein Weg in den Stadteil Bayswater. Dort bleibe ich vor dem Haus Leinster Gardens 23-24 stehen und besehe mir das Gebäude. Auf den ersten Blick wirkt es ganz normal.
Auf den zweiten Blick stimmt aber etwas nicht. Die Haustüren, zum Beispiel. Sie sehen aus wir normale Haustüren, aber das Hirn merkt unbewusst sofort, dass irgend etwas nicht normal ist. Dann kommt das Bewusstsein damit hinterher die Informationen der Augen auszuwerten, und plötzlich wird klar: Die haben keine Briefschlitze. Und keine keine Klingeln. Und wenn man genau hinsieht, merkt man, dass die Fenster nur aufgemalt sind.
Wenn man um zwei Straßenecken herumwandert, sieht man das ganze Ausmaß der Scharade. Leinster Gardens 23/24 ist ein potemkinsches Haus. Es besteht nur auf einer Fassade, die verdeckt, dass hier in Wirklichkeit eine Bahnlinie verläuft.
Das ist schon lange so, seit der Zeit der Dampfloks. Die mussten immer wieder Dampf ablassen, weshalb Tunnel nicht zu lang sein durften und immer wieder eine Öffnung brauchten. Eine solche Öffnung findet sich hier, hinter der Fassade.
Um dieses Fakehaus ranken sich viele Geschichten. Eine davon ist besonders wild: In den 30er Jahren verkaufte ein Trickbetrüger Eintrittskarten zu einem furiosen Ball, DEM gesellschaftlichen Erlebnis des Jahres. Stattfinden sollte es in den Leinster Gardens 23/24. Das sie 10 Pfund für wertlose Karten ausgegeben hatten, merkten die Besucher erst, als sie in ihrer feiner Abendgarderobe vergeblich an der Tür klopften.
Ich muss schmunzeln, dann setze ich meinen abendlichen Spaziergang fort.
Aaah, London!
Zurück zu Teil 5: Custard. Geschüttelt, nicht gerührt.
Weiter zu Teil 7: Verwunschenes Grün
6 Gedanken zu „Reisetagebuch London 2016 (6): Das Herz des Empire ist eine Bruchbude“
HAHAHA … ;-))))
Zu diesem Teilbeitrag der Reise würde ich am Liebsten 2x Gefällt vergeben, muß mir eine 2. Identität zulegen…
HAHAHA ist nicht alles was mir dazu einfällt was Ihnen auffällt Herr Silencer, denn was man aus einem Städtebesuch machen kann, ist (für mich UrbanIgnoranten) immer erstaunlich … lange Zeit dachte ich, Piccadilly (in der Adoleszenz) und der Teaclipper (ein wenig später) wären so ziemlich die einzig sehenswerten Dinge in dieser, in meinen Augen in der optischen Erscheinung tatsächlich immer häßlicher werdenden Stadt (der Spagat zwischen ultramodernem und bröckelndem Resterscheinungsbild ist für Architekturstudenten sicher interessant).
Daß Sie als Inhaber eines deliranten Syndroms nächtens erneut ein Beispiel des SichSelbstAufDieSchaufelNehmen-Könnens der Briten in dann illuminiertem Zustand ablichteten um jene Ihrer bereits aufgeklärten Leserschaft im Bild vorführen zu können, verdient außerdem die Prämisse Respect, wie Motorradfahrer sagen würden :-}
Welch sympathische Ansicht: Internet & Co seien eine Modeerscheinung, die von selbst vergehen wird. Ich denke dabei zwar eher an die Macht unkontrollierbarer Sonnenstürme, aber dem Universum wird der Grund in jedem Fall egal sein.
Olpo: Danke! Aber tun Sie London nicht unrecht, es ist eine echte Wundertüte an Eindrücken – wie wir noch sehen werden 🙂
Ich kenne selbst so eine Wundertüte: Motoden – an 3 Standorten in Londinium … Ein Gericke, Polo und Detlef in einem. Nur kleiner, dafür mit begeistertem Personal; alles Verrückte Moppetfahrer, Gelände und so 😉
Falls einmal zB die Kette der Barocca Downtown zickt ;} …
Verkauf und Werkstatt für Suzuki wären in der Kingsland Road 507, E8 4AU.
😉
Mit einem motorisierten Vehikel in London einzufallen ist ein Grad an Masochismus, den ich in diese Leben wohl nicht mehr erreiche 🙂
Halb so schlimm, glaub’ mir … wenn Du das zweite Mal beim Rechtsabbiegen einen Frontalzusammenstoß verhindert hast (oder ev auch Dein fiktiver Unfallgegner) sitzt die Sache, daß die halt auf der falschen Seite fahren. Die Inder und Thais machen’s ebenso falsch und dort passiert verhältnismäßig wenig bei dem vorgegebenen Tempo und der Verkehrsdichte … 😉