Reisetagebuch London (8): Zwei Madames

Reisetagebuch London (8): Zwei Madames

Dienstag, 07.Februar 2017

Es ist kurz vor neun, und ich wandere die Straßen nach Marleybone entlang. Das Viertel ist null touristisch, hier passiert einfach das ganz normale Vormittagsleben einer Großstadt. Menschen kaufen ein, gehen ihren Geschäften nach, manche vertreiben sich die Zeit.

Wenig später komme ich an der Baker Street vorbei, deren bekanntester nicht existenter Bewohner auf einem Denkmal verewigt ist.

Er bewacht zudem einen unterirdischen Fußgängertunnel, der etwas anders aussieht als ein normaler Tunnel.

Auf der anderen Seite des Tunnels liegt ein großer Gebäudekomplex mit einer skurrilen, riesigen Kuppel.


Das ist die Londoner Dependance von Madame Tussauds, dem weltberühmten Wachsfigurenkabinett. Bislang habe ich alle Filialen der Kette gemieden, weil die Tickets so unfassbar teuer sind, aber kurz vor Weihnachten gab es schöne Sparangebote, und deshalb will ich es heute wissen.

Das wollen allerdings auch ca. 300 andere Leute, die bereits um kurz vor 10 Uhr Schlange stehen.

Egal, denke ich mir, ich habe immerhin schon eine Ticketreservierung für 10.15 Uhr, da wird es ja wohl eine Fast Lane oder Priority Access oder sowas geben. Aber Pustekuchen, alle anderen haben auch so eine Reservierung, und dafür gibt es nur eine Schlange, die schon um den halben Block reicht. Da zwischendurch immer noch Busladungen von Senioren, die tatsächlich Vorrang haben, in die Reihe eingespeist werden, geht es nur sehr langsam voran.

Erst nach über einer Stunde anstehen darf ich die heiligen Hallen betreten.

Ganz egal, was ich bislang von Madame Tussauds als überteuerte und schlecht organisierte Touristenfalle gedacht habe, ich bin jetzt doch beeindruckt. Was hier aufgefahren wird, geht weit über eine simple Ausstellung von Wachsfiguren hinaus.

Auf mehren Stockwerken ist das Gebäude in große Säle aufgeteilt. Jeder ist szenisch dekoriert, mal wie ein Partyraum, in dem eine rauschende Cocktailparty stattfindet, mal wie Turnhalle, in der Sportler turnen und über Goldmedaillen strahlen. Dazwischen stehen kleine Dioramen herum: Steven Spielberg steht vor einer Fototapete vor einem Wald, Arnold Schwarzenegger in vollem “T2”-Outfit vor einer Flammenwand.

Überall stehen, großzügig auseinanderpositioniert, Prominente herum. Die dürfen von den Besuchern angefasst, umarmt und für Selfies mißbraucht werden – hätte ich auch nicht gedacht, immerhin müssen die Figuren bei dem Detailgrad sehr empfindlich sein.

Fast alles findet sich hier, von Sharuk Khan über Angelina Jolie und Brad Pitt (die sehr weit auseinander stehen), die Royals, Shakespeare, Einstein, bis hin zu Alfred Hitchcock. Der sieht sich allerdings nicht mal entfernt ähnlich, genauso wenig wie Audrey Hepburn.

Das Wiesel mag ja Colin Firth:

Die neueren Figuren treffen ihre Vorbilder deutlich besser als die alten. Richtig gut getroffen ist Donald Trump, dem man in einem Set des Weißen Hauses die Meinung sagen kann, oder Boris Johnson, der doof in der Gegen rumsteht.

Dazwischen gibt es immer wieder Attraktionen wie die Sherlock Holmes-Suche, die ein wenig nach London Dungeon anmutet und in der echte Schauspieler in einem alten London herumführen. Oder die Zeitreise durch London, eine Bahnfahrt voller schlimm unheimlicher animatronischer Figuren.

Oder die Marvel 4D-Experience, ein 3D-Film mit dem üblichen Wassergespritze und boxenden Sessel. Der Film läuft übrigens in der Kuppel, dafür ist die da.

Auch die neuesten und alle alten Star Wars-Charaktere finden sich hier:

Und natürlich darf auch ein Blick hinter die Kulissen nicht fehlen.

Beyonce in zwei Stadien der Bearbeitung.

Inklusive Anstehen brauche ich drei Stunden in Madames, mit soviel hatte ich gar nicht gerechnet. Ja, es war teuer, aber es hat sich gelohnt.

Weniger zeitaufwendig ist das Sea Life Aquarium in der alten County Hall von Westminster. Das ist das gleiche Gebäude neben dem London Eye, dass auch den London Dungeon beherbergt, den ich hier vor einem Jahr besucht habe.

Das Sea Life ist unheimlich cool, denn alles ist wie eine niedrige Höhle aufgebaut, die im Betonfundament des Gebäudes eingelassen ist. Das hat ein wenig was vom See unter dem Opernhaus in Paris. Unheimlich ist es auch, zumindest ein wenig.

Im Dunkeln sieht man links und rechts Aquarien, und in einem großen Becken liegt ein künstliches Saurierskelett und wird von allerhand Haien, Schildkröten und Fischen umschwommen.

Da am Nachmittag unfassbar viele Mütter mit Kinderwagen unterwegs sind, halte ich mich nicht allzu lange an den einzelnen Schauflächen auf – und bin nach einer halben Stunde wieder draußen.

Ich fahre kurz nach Paddington raus, um meine wunden Füße noch ein wenig zu erholen, dann geht es wieder ins Westend, Kultur tanken.

“Kinky Boots” steht auf dem Programm. Ein Musical, geschrieben und produziert von Cindy Lauper. Läuft im Adelphi Theatre in Stadtteil The Strand an der Themse.

Die Story: Ein junger Mann erbt in der englischen Provinz die Schuhfbrik seiner Familie. Leider will niemand mehr die veraltete Produktpalette. deshalb sucht er nach einer Nische, um die Fabrik erhalten zu können. Er findet sie in der Produktion von Higheels, die auch das Gewicht von Männern tragen können, und so produziert er fortan Stiefel für Drag Queens – Kinky Boots, eben. Die Performance ist hinreissend, die Schauspieler sehr gut.

Neben mir sitzt eine alte Dame, komplett in feiner Abendgarderobe, voll geschminkt und mit Ausgeh-Schmuck behängt. Die Madame ist krasser Unterschied zu allen anderen Besuchern, die in Räuberzivil erschienen sind. Echt, Briten schluffen im gleichen Outfit ins Theater wie zu McDonalds.

Die Dame ist allein, neben ihr sind zwei Plätze frei. Sie hat sich erst heute dazu entschieden ins Theater zu gehen, sagt sie mit einem schweren, seltsam anmutendem und schwer verortbarem Akzent. Da wohl drei Leute für die Vorstellung abgesagt haben, hat sie einen der besten Plätze des Hauses für lau bekommen. Glück muss man haben! In der Pause fragt sie mich, ob ich alles verstanden hätte, und wir gehen den Plot kurz durch.

“Ach wissen sie, das ist so schwer für mich, ich verstehe vieles nicht, mein englisch ist nicht gut”, sagt sie. Sie stellt sich als Signora Fiorella aus Mailand vor. Ein schöner Name, und ein seltener, wie sie betont.

Wir unterhalten uns die ganze Pause durch. Sie ist mir sympathisch – bis zu dem Moment, in dem Sie anfängt sich darüber zu mokieren, dass die Hauptrolle von einem Farbigen gespielt wird. Ach die Farbigen, denen könnte man ja nicht trauen. In Mailand würde sie sich ja schon gar nicht mehr in die Straßenbahn wagen, aus Angst vor all den Ausländern. Ach wenn doch nur der Berlusconi noch am Ruder wäre, dieser Cavaliere, dann wäre Italien sicher und sauber, aber so…

Signora Fiorella hat schlagartig sämtliche Sympathien bei mir verspielt. Ich schiebe dem Gespräch freundlich, aber bestimmt einen Riegel vor und schweige. Ihre Einstellung ist weit verbreitet bei älteren Italienerinnen, die würden auch noch 100 Mal Berlusconi wählen, wenn der ihnen nur weiterhin schön die Hucke vollügt und fein grinst.

Während des zweiten Teils der Vorstellung gluckst und kichert die alte Dame, und als im Schlussakt die Offenheit gegenüber anderen als wichtigstes Gut betont wird, ruft sie “Bravo!!”. Ja, klar. Offenheit gegenüber anderen, so lange sie nicht im eigene Vorgarten stattfindet und alle die gleiche Hautfarbe haben wie man selbst. Die Bigotterie, sie hat viele Gesichter. Heute Abend trägt sie Pelz und riecht nach Tosca.

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3 Gedanken zu „Reisetagebuch London (8): Zwei Madames

  1. Aaaah, Madam Tussauds, ich glaube, das wird bei meiner geplanten Reise mit dem Neffen zu den must haves gehören. Als ich mit 16 das erste Mal in London war, wollte ich da unbedingt rein und ich hätte auch gar nicht viel dagegen, das nochmal zu machen. Seitdem hat sich ja doch auch einiges getan, allein schon das “Gruppenbild” der Royal Family war bis auf Liz und den DoE komplett anders zusammen gesetzt, da gehörten seinerzeit noch Diana und Fergie (nicht die Sängerin) dazu. William und Harry fehlten, die waren da noch kleine Kinder, die man vermutlich alle halbe Jahr hätte neu modellieren müssen.

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