Reisetagebuch Städtetour (3): Alles rund ums Wasser
Februar 2018: Tag drei einer Städtereise südlich der Alpen. Heute gibt es Duschkopfdesaster, Aquarien und Meeresgeschichte.
11. Februar 2018, Genua
Lo Zenzero, mein Appartement in Genua, ist super, aber auch etwas in die Jahre gekommen. Man merkt, dass das hier eine echte Wohnung ist, in der immer echte Menschen gelebt haben. Sie wurde wohl zuletzt Ende der 80er saniert, und gerade im Bad ist das zu merken.
Die Gastherme liefert nur so lange warmes Wasser, wie man den Duschkopf nicht über 1,5 Meter hoch hebt. Jedes Mal, wenn ich den Duschkopf über Brusthöhe hebe, wird das Wasser eiskalt und schießt seitlich aus der Brause und irgendwo hin, ohne dabei vorher den Umweg über meinen Körper zu nehmen. Nunja. Davon lasse ich mir die Laune bestimmt nicht verderben.
Kurz nachdem ich die Tür der Haus Nummer 13 hinter mir zugezogen habe ist mir auch schon zu warm. Die Sonne scheint an diesem 11. Februar aus allen Knopflöchern, und mit 10 Grad sind die Temperaturen nicht wirklich winterlich. Ich stecke die Wollmütze und die Lederhandschuhe in den Rucksack und trabe in die Stadt.
Schließlich komme ich am Hafen an und stehe vor dem Aquarium, dem zweitgrößten Europas.
Ich bin erstaunt, wieviele Leute an einem Sonntagmorgen um kurz nach 9 schon auf den Beinen sind. Die Stadt wimmelt schon vor Menschen, und am Aquarium hat sich schon eine kleine Schlange gebildet. Mit meinem vorab gebuchten Reservierungsbeleg kann ich einfach so durch den Eingang laufen, er muss nicht mehr an der Kasse gegen ein echtes Ticket umgetauscht werden.
Kaum betrete ich den großen Bau im Hafen von Genua, stehe ich schon bis zu den Hüften in Kindern. Das Aquarium ist bereits bis zum Anschlag voll mit Familien und Ausflugsgesellschaften. Sofort setzt mein Fluchtreflex ein und flüstert, dass ich sofort hier abhauen soll. Der Impuls ist so stark, dass ich wirklich dagegen ankämpfen muss nicht umzudrehen und weg zu gehen. Ich mag es nicht, in großen, statischen Menschenmengen fest zu stecken.
Ich bin froh, dass das hier mein zweiter Besuch ist. Vor drei Jahren hatte ich das alles hier für mich allein, heute muss ich an vielen Fenstern einfach vorbeilaufen, weil kein Durchkommen ist. Schön ist es aber dennoch, ich nehme mir in den ruhigeren Zonen einfach mehr Zeit und lerne dabei eine Menge. Quallen und Seesterne will niemand lange anschauen, die Becken sind wenig besucht.
Viel besucht sind dagegen, na klar, die Pinguine und das Promenadendeck, mit der Aussicht über den Hafen.
Die Delfinshow, die ich das letzte Mal fast allein gesehen habe, ist diesmal total überlaufen. Vom unteren Gang aus sehe ich, wie die Delfine ihre Bildungsshow abziehen. Denn tatsächlich geht es bei dieser Veranstaltung nicht um alberne Kunststückchen, zumindest nicht nur. Die Besucher bekommen tatsächlich am lebenden Tier alles mögliche erklärt, von der Fortbewegung bis hin zur Zahnpflege. So muss ein gutes Aquarium sein!
Nach einer Stunde nehme ich den Exit through the Gift Shop.
Dann bin ich dann wirklich draußen und gehe im alten Hafen nach Norden. Das Kinomuseum würdige ich keines Blickes, das ist dem Vernehmen nach eine Ansammlung von Kitsch und Spielzeug und sieht auch von Außen schon so aus.
10 Minuten vom Aquarium entfernt liegt das “Galata Meeresmuseum”. Ja, Galata wie in “Galatasaray Istanbul” oder wie der Galataturm in Istanbul, der wurde nämlich auch von Genuesen gebaut.
Das Museum zeigt auf fünf Stockwerken alles, was Italien im allgemeinen und Genua im Speziellen mit dem Meer verbindet. Das beginnt, natürlich, beim Hafen von Genua und Christopher Columbus. Der, so lerne ich, verleugnete seine Familie. Bis vor einigen Jahren war unklar, woher er kam, weil er zu Lebzeiten nicht zugeben wollte, dass sein Vater ein hoch verschuldeter Hirte mit Alkoholproblemen war, der an der Stadtmauer von Genua hauste.
Dann geht es weiter durch die Geschichte der Schifffahrt mit drei F. Prachtstück der Ausstellung ist eine Galeere in Originalgröße, die eine ganze Halle auf mehreren Stockwerken einnimmt.
Alle möglichen und Unmöglichen Fundstücke und Dioramen sind ausgestellt, auch unbequeme Exponate. Eine Halle dreht sich zum Beispiel um das Leiden der Sklaven auf dem Transport von Afrika nach Amerika und die Auswirkungen der Torturen auf den Voodoo-Glauben, und dann wiederum dessen Einfluss auf die Storys in Filmen. Die Ausstellung kommt echt vom Höcksgen zum Stöcksgen.
Richtig interesant wird es im vierten Stock. Hier geht es um die Geschichte der Imigration und der Emigration, also der Auswanderung und der Zwanderung. Italien war nämlich sehr lange ein Auswanderungsland, über Jahrzehnte verließen jedes Jahr Hunderttausende Menschen den Stiefel. Viele folgten dem Traum der “´Mericas” und gingen nach Nord- und Südamerika, allein nach Argentinien migrierten in wenigen Jahren über 2 Millionen Italiener.
Im 4. Stock des Museums ist ein Immigrantenschiff aus dem jahr 1890 nachgebaut. So ein Schiff hatte Platz für 1.400 Auswanderer, die unter Deck in 10er-Kabinen zusammengepfercht waren. Weil ihr Gepäck im Laderaum war, mussten sie wochenlang mit den gleichen Klamotten am Leib auskommen. Aufgrund des engen Raums kam es nicht selten zu Auseinandersetzungen, man ging sich halt gegenseitig schon schwer auf den Sack.
Aber die Reise war auch eine Chance. Irgendwann gab es nämlich Gesetze zum Schutz der Auswanderer, und die Schiffsgesellschaften mussten sich daran halten. Von Gesetz wegen gehörte auch gute Verpflegung zu einer Überfahrt, und für viele Familien, gerade aus dem bitterarmen Süden Italiens, war es das erste Mal im Leben das Erwachsene, Alte und Kinder gleichermaßen gute und ausreichende Mahlzeiten bekamen. Dementsprechend war für viele die Überfahrt selbst schon ein großes Glück: Sie gingen ausgemergelt an Bord und starteten Wochen später aufgepeppelt und gut genährt in ein neues Leben.
Die Schiffsgesellschaft erwartete übrigens, dass die Immigranten sich beim Essen jeweils Tischweise um eindecken, Speisenverteilung und Abwasch selbst kümmerten, wobei jeder Tisch einen “Kümmerer” für jeden Bereich hatte, und einen Tischchef, der die Verantwortung vor alles trug. Diese soziale Strukturierung sorgte für Zusammenhalt an den Tischen, führt nur gelegentlich dazu, dass Streitigkeiten jetzt Tisch gegen Tisch ausgetragen wurden.
Am Ende zeigt die Ausstellung Fakten über alternde Gesellschaften, in Italien wie in ganz Europa, die ohne Zuwanderung nicht mehr funktionieren werden, und stellen die Frage: Auswanderung gestern, Aufnahme von Flüchtlingen heute – ich das nicht die gleiche Geschichte, nur von zwei Seiten betrachtet? Und: Sind diese Entwicklungen, aller individueller Ängste zum Trotz, im geschichtlichen Rahmen nicht etwas ganz normales?
Tief beeindruckt verlasse ich das Migrationsstockwerk. Die Ausstellung regt zum Nachdenken an, und deshalb werden hier auch Schulklassen durchgeführt. Das ist sehr gut, sowas gibt es viel zu selten.
Im 5. Stock gibt es gerade noch eine Sonderausstellung über die “Andrea Doria“, das “schönste Linienschiff der Welt”. Ob das stimmt, sei mal dahingestellt, auf jeden Fall war das luxuriöse Linienschiff zwischen Europa und Amerika das schnellste der italienischen Flotte. 1960 kollidierte es durch einen Navigationsfehler mit einem anderen, bekam starke Schlagseite und sank schließlich. Hätten nicht andere Schiffe sofort reagiert, würde die “Andrea Doria” heute in einem Atemzug mit der 1912 gesunkenen “Titanic” genannt, denn beide Havarien hätten gleich viele Opfer gekostet. So konnten aber 1.660 Menschen gerettet werden, nur 50 starben.
Über der Ausstellung geht es auf einen Dachgarten, von dem aus man Genua in seiner Pracht sehen kann. Die übereinander geschachtelten Häuser mit ihren Sonnenseiten. Die erhabenen Kirchen. Die großen Kastelle.
Mit dem Aufzug fahre ich zurück ins Erdgeschoss, unterschreibe eine elendig lange Verzichtserklärung und bekomme im Gegenzug einen Helm ausgehändigt. Mit dem auf den Kopf darf ich in die U-518, ein U-Boot, das im Hafen vor dem Museum liegt.
Der Helm ist wirklich sinnvoll – meine Güte, ist das Ding eng! Ich bin mit 1,70 nicht groß, aber selbst ich bekomme hier fast Platzangst – wie muss das erst sein, wenn dieses Ding hunderte Meter unter Wasser unterwegs ist, und im inneren eine nach Öl stinkende, infernalisch laute Hölle ist?
Der Besuch in 518 dauert nur 5 Minuten und ist sein Geld eigentlich nicht wert, aber ich ärgere mich nicht.
Mehr als 3,5 Stunden war ich in den Ausstellungen unterwegs, jetzt bin ich etwas kaputt. Ich schlendere unter der Hochstraße entlang, die sich am Hafen und damit zwischen der Stadt und dem Meer entlang zieht. Dieses Ding mag pottenhässlich sein, eine echte Beleidigung für´s Auge und eine ästhetische Zumutung. Aber: Sie ist ein Bypass, der das Herz der Stadt vor dem Verkehrsinfarkt bewahrt. Und sie ist mittlerweile ein selbst ein Markenzeichen. In ihrem Schatten werden Märkte abgehalten, Filme gedreht (Colin Firth “Genoa”) und zum Teil ist sie selbst eine Kunstgalerie.
Mit der U-Bahn fahre ich nach Brignole, esse etwas und haue mich dann eine Stunde auf´s Ohr.
Später breche ich wieder auf in Richtung Innenstadt, die von Lo Zenzero nur 10 Minuten entfernt ist. Vorher suche ich aber noch einen chinesischen “Hier-gibts-alles-Laden”. Der neben Brignole ist beeindruckend, der zweitgrößte Kramladen, den ich je gesehen habe. Auf einer riesigen Verkaufsfläche wird wirklich alles angeboten, von Glühlampen bis Angelgewichte, von HDMI-Kabeln bis Kunstrasen. An Duschköpfen gibt es ein ganzes Regal, gleich neben Friteusen und vor dem Seidenpapier, und davon leiste ich mir einen.
Dann laufe ich kreuz und quer durch die Stadt und lasse mich treiben. Verlaufen ist das Programm des Abends, und erstaunlicherweise gelingt mir das nicht wirklich. Aber auch so ist es angenehm, bei zweistelligen Temperaturen durch die abendliche Stadt zu streifen und einfach Dinge anzusehen.
Immer wieder erstaunen mich die Kontraste, die Genua bietet. Hier das alte Stadttor mit dem angeblichen Geburtshaus von Christoph Columbus…
…dort moderne und ästhetisch fragwürdige Wohnbauten…
…zwischen die sich alte Kirchen kuscheln wie in Nischen.
Nach einiger Zeit komme ich in die Altstadt mit ihren superschmalen Straßen, und plötzlich bin ich wieder unter der Hochbrücke, unter der gerade ein Markt und ein kleines Fest abgehalten wird. Eine Kampfsportgruppe prügelt sich mit Lichtschwertern.
Kleine Mädchen sammeln Konfetti ein, das die in n ihre Rucksäcke schaufeln. Sollte hier etwa auch… Karneval gewesen sein??
Ich setze mich an den Hafen und sehe dabei zu, wie die Sonne untergeht. Das ist im Februar eine Sache von 20 Minuten. Eben noch dämmert es, zack, ist es dunkel.
Mit der Dunkelheit fallen die Temperaturen, und ich stehe auf und gehe weiter. Die riesige Halle des ehemaligen Baumwollagers beherbergt heute mehrere Restaurants, eine Kinderstadt, ein Kongresszentrum und ein Multiplexkino. Da läuft leider gerade nichts, was ich sehen wollen würden. Interessanter ist da schon das Riesenrad, das neu sein muss. Es steht am Ende des Piers und leuchtet in allen Farben. Das sieht schön aus.
Ich schlendere durch die Zufahrt zum Hafen, in der ich schon mit dem Motorrad geparkt habe. Heute ginge das nicht, alle Motorradparkplätze sind von einem Smart zugeparkt. Damit hat der Vogel sich sicherlich beliebt gemacht, zur Strafe hat ihm schon einer die Scheibenwischer hochgeklappt.
Schmunzeln muss ich, als ich an einem kleinen Fiat vorbeikomme, der nah am Wasser geparkt ist. Der Aufkleber ist witzig:
Ich wandere noch einige Zeit durch das Hafenviertel, was auch heute noch etwas zwielichtig ist. Aber mir wird nichts passieren, ich wirke einfach nicht wie ein Tourist oder ein potentielles Opfer.
Ich bekomme fast nicht genug von der frischen Nachtluft und den Eindrücken, aber irgendwann kehre ich doch nach Lo Zenzero zurück. Was für ein entspannter Tag.
Tour des Tages: Rund 17 Kilometer bin ich in der Stadt gelaufen.
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4 Gedanken zu „Reisetagebuch Städtetour (3): Alles rund ums Wasser“
Dieser Bericht hat einen rosa Einschlag: rosa Aufkleber, rosa Riesenrad, rosa Konfetti, rosa Rucksäcke, rosa Hauswände, rosa Duschkopf, rosa Aufschrift, rosa Steine, rosa Tafel, rosa Befinden. Waren Sie am Ende gar mit Frl. Rosa unterwegs und nicht alleine wie sonst, Herr Silencer ??!!
Das Foto mit den 5zipfeligen Stoffsackerln mußte ich mir ausborgen zum Vorzeigen – muß ich neuerdings deswegen gesondert unterschreiben, oder reicht es, wenn ich mich (versprochen) an die Bedingungen der GNU-Lizenzierung halte ;-?
‘hirnwirr’ bewies an anderer Stelle dieses Blogs einfühlsames Sprachempfinden und 3F an dieser Stelle sind Unsinn. Nun ja angeblich nicht mehr, aber die alte Regelung war interessanter.
Aufarbeitung von Geschichte: vorbildlich, nachahmenswert.
Hafenausbau Genua: geniale Nutzung der vorhandenen Wasserfläche.
Bauten: antik und neu, auffallend unauffällig koexistierend – das gibt es nur in ->
Italien: man merkt die gewachsene Kultur wie die japanische, die Chinesen scheinen leider aus der Reihe zu tanzen bzw noch nicht so weit zu sein….
Also der Smart wurde, glaube ich, seitlich in die Lücke hineingehoben/schoben 😉
Die Details sind es, die einen Bericht interessant machen (können), wo Bilder auch ohne Fotos entstehen (können).
Eingebauter Vorschaulink auf Teil 4, der (noch) nicht funktioniert: Buuuhhhh … !!
Rosa? Ist das nicht eher so eine Art Lila, also eher ein Mauve? 🙂 (“Mauve” sollte im Wortschatz eines Mannes genauso wenig vorhanden sein wie “Taupe” – mann weiß einfach nicht, was sowas ist)
Alle Bilder sind nicht unter GNU, sondern Creative Commons, BY SA NC. Also bedien Dich 🙂
Olpo Olponator hat meine Wortfindungsstörung beseitigt…
Er bringt auf den Punkt wonach ich die ganze Zeit suchte:
“… wo Bilder auch ohne Fotos entstehen”
Vielen Dank 🙂
@Rosa oder so: Stimmt, kannte ich beides nicht … ich dürfte also so ziemlich ausschließlich männlich sein. Meine Sozia kannte sowohl mauve als auch taupe und wußte sogar, daß es mauve taupe gibt. Der WebFarbcode für letztgenannte Colorierung ist übrigens (color=#915F6D)#915F6D, falls jemand die Darstellung der Schriftfarbe im Browser anpassen möchte 😉 … (/color)