Reisetagebuch (9): Countdown
Februar 2018: Tag acht Städtereise südlich der Alpen. Heute verbringe ich den Tag auf den Straßen Venedigs, gucke einem murmelnden Packzwerg zu und mache eine Reise mit dem Nachtzug.
Samstag, 17. Februar 2018
“Kann ich meinen Rucksack hierlassen?”, frage ich, “natürlich gegen Bezahlung!”
“Nein, nein, nein, keine Bezahlung, bitte!”, sagt der eine Hotelier, und sein Bruder fällt ihm ins Wort “Selbstverständlich können Sie Ihr Gepäck kostenlos hierlassen, wir passen bis heute Abend darauf auf”.
Dann streckt einer mir seine Bärenpranke entgegen und sagt “Verehrter Gast, seien Sie nicht traurig Venedig verlassen zu müssen. Sie können jederzeit wiederkommen, und wir werden dann hier sein und würden uns freuen, wenn Sie wieder zu uns kämen”. Er strahlt, als ich seine Hand schüttele. Das ist das erste Mal das ich ihn lächeln sehe seit ich hier bin, und ich habe ihn jeden Tag an der Rezeption gesehen. Tja, man kann eben in familiengeführten Hotels den Leuten eine Freude machen, wenn man ihre Arbeit und ihr Haus lobt. Das Caprera hat das Lob wirklich verdient: Alle geben sich richtig Mühe, die Zimmer sind schön, sehr sauber und ruhig – und damit das auch so bleibt, greifen die Gastwirte schon mal durch und machen chinesischen Brillenmädchen klar, dass dies ein Hotel ist und keine Disko, in der man nächtelang lautstark rumgröhlt. Ich habe mich hier sehr wohl gefühlt, und das habe ich den beiden gerade gesagt und mich für den angenehmen Aufenthalt bedankt. Jetzt strahlen sie um die Wette.
Ich stelle meinen Rucksack in einen Nebenraum und verlasse das Hotel. An der Rezeption tut gerade ein chinesischer Gast recht laut und auf schroffe Art kund, dass er gedenke sein Gepäck hier zu lassen. “Natürlich”, entgegnet der Mann an der Rezeption reserviert, “Macht 5 Euro”. Der Gast schnaubt und ruft “FÜNF EURO!??”
“Pro Stunde”, sagt der Hotelier. Ich kann ihn in dem Moment nicht sehen, aber ich vermute, dass er eine Augenbraue dabei hochzieht.
Ich mache mich auf den Weg ins Sestiere Dorsoduro. Heute geht es nach Hause, aber der Nachtzug fährt erst um 21:00 Uhr. Das sind noch 12 Stunden hin, aber die Zeit rum zu bekommen sollte nicht schwer sein. Fühlt sich komisch an, dass meine Zeit in der Stadt so sicht- und fühlbar wegtickert. Ab jetzt, nehme ich mir vor, mache ich jede Stunde ein Bild und twittere das. Venedig liegt noch ruhig in der Sonne. Der Lieferverkehr bringt Ware für die kleinen Geschäfte an den Kanälen. Ein Boot lädt Container mit sauberer Betwäsche und Handtüchern für ein nahegelegenes Hotel aus.
Städtische Arbeiter laden von einem Boot kleine Wägelchen aus, mit denen sie durch die Gassen ziehen und Müll einsammeln werden. Zu festgelegten Zeiten treffen sie sich wieder mit dem Boot an vorher ausgemachten Haltestellen, um die Wagen wieder zu leeren. Ein routiniertes und eingespieltes System, angepasst an die Besonderheiten von Venedig und ganz anders als auf dem Festland.
Eine Möwe schaut interessiert zu.
Ich laufe langsam, denn ich bin ohnehin zu früh dran, und schaue mir die Plätze und Gassen des Univiertels an, die noch leer sind.
Mein Weg führt mich zum Ca´ Foscari, einem alten Palazzo mit hohen Mauern am Canale Grande. Er ist der Verwaltungssitz der Università Ca´ Foscari. Das Gebäude ist weiß und groß und der Innenhof ist von hohen Mauern umgeben.
Ich blicke auf die Uhr. Noch 11 Stunden.
Hier treffe ich Daniela, die mich durch das Gebäude führt.
Das Gebäude ist nett. Früher was es als “Haus der zwei Türme” bekannt. Dann kaufte es der Doge Foscari im Jahr 1450, liess die Türme abreissen und das Gebäude um ein weiteres Stockwerk ergänzen. Jahrelang ließ er an dem Palazzo rumbauen, bis der das größte Privathaus im gothischen Stil in ganz Venedig war. Foscari konnte sich das leisten, und nicht mal der Baustellenlärm störte ihn. Als Doge wohnte er ohnehin in den Gemächern im Dogenpalast, und als er den Job aufgab, war er schon alt und sehr geschwächt. Am Ende wohnte er noch ganze sieben Tage im Ca´Foscari, bevor man ihn tot im Bett fand.
Das Hinterhaus den Hauptgebäudes ist auch interessant. Nicht nur wegen der beiden Kanonenkugeln, die immer noch in den Wänden des Innenhofs stecken…
…sondern auch und vor allem weil Richard Wagner hier Tristan und Isolde schrieb. Deswegen kommen hier immer noch manchmal Menschen her und legen Blumen vor der Tür ab.
Innen ist der Ca´Foscari ein Unigebäude, wie es zu viele gibt. Graue Korridore, mit Zetteln behängte Pinwände. An einer Wand hängen die bisherigen Kanzler der Uni in einer langen Reihe und gucken mal streng, mal grimmig. Erst ab den 1990er Jahren lächelt mal einer.
An den Prestigeräumen merkt man dann aber doch, in welch ehrwürdigem Haus man hier ist. Räume wie die Aula Baratto, in der man die historische Bausubstanz, in der man sitzt, bewusst wahrnehmen kann. Parkettboden und Holzgestühl in einem Raum, der durch die Fassade des Gebäudes direkt die Biegung des Canale Grandes hinausblickt. Was für ein Raum. Hätte ich hier Unterricht, ich würde die ganze Zeit nur aus dem Fenster gucken.
Natürlich hat auch der Ca´Foscari seinen Haupteingang zum Wasser hin. Als Lehrkraft könnte man hier mit dem Boot anreisen. Weil die Lage des Gebäudes so eine tolle Aussicht ermöglicht, wird während der Regatta Storico, der historischen Regatta im September, eine Holzkonstrukt direkt vor dem Gebäude am Fluß verankert. “La Macchina”, wie das Ding heißt, schwimmt auf dem Wasser und ist die Tribüne für Zuschauer und der Ort, an dem später die Preisverleihung stattfindet.
Neben dem Ca´foscari steht der Ca´Dolfin, der ebenfalls zur Univerwaltung gehört. Das Gebäude hat einen geheimen Garten, den man von der Straße aus nicht sehen kann.
Auch eine Zisterne mit einem hübschen, umrankten Brunnen gibt es. Der Garten muss im Sommer eine wahre Pracht sein. Jetzt, im Februar, wirkt er etwas trostlos.
Im Inneren lassen die großen Räume erahnen, wie prächtig sie einst waren – bevor ein gewisser Guggenheim das Haus kaufte und alle Gemälde daraus entfernen ließ. In der Aula Magna hängen stattdessen nun Spiegel, blind und angelaufen. Immerhin sind die Wandmalereien noch ganz hübsch.
Nach der kleinen Führung ist es gerade mal kurz vor elf Uhr. Jetzt habe ich nichts mehr vor, und mein Zug fährt erst in 10 Stunden.
Unweit der Uni ist die Kirche Santa Maria Gloriosa dei Frari, ein großer Backsteinbau, den Fans von “Assassins Creed II” sicher zu gut kennen.
Hier besuche ich das Grab von Canova, das in einer Nische steht und das er eigentlich für Tizian entworfen hatte.
Den chilligen Löwen am Grab habe ich doch gestern erst in der Accademia gesehen?
Ich bummele ein wenig durch die Stadt. Die Stadt, in der Sofakissen schon mal 120 Euro kosten, die dann aber auch drei Generationen lang vererbt werden.
Dann laufe ich zum Markusplatz, der heute bis zum Anschlag voll mit Besuchern ist. Die Schlange vor der Markuskirche ist mehr als Hundert Meter lang.
Bei Fabris kaufe ich meine zweite Krawatte (mit Einstecktuch!).
Ich laufe weiter nach Norden, und sofort verebben die Touristenströme wieder. Zu entdecken gibt es hier jede Menge, wie diesen Schmuckstein über einer Gasse:
Oder der Tastsache, dass Venedig hier gerade in Rekordzeit Glasfaser-Internet bekommt. Im Akkord nageln Männer die Kabel einfach an die Hauswände und stellen externe Verteiler auf. So wie das überall in Europa gemacht wird. Nur in Deutschland, das ohnehin schon abgehängt ist, lässt die Politik der Telekom so einen Quatsch wie “Supervectoring” auf dem alten Klingeldraht aus Kupfer durchgehen.
Ich laufe zu einer meiner Lieblingskirchen, der Chiesa dei Miracolei. Die ist winzig klein, hat ein Tonnengewölbe und duckt sich zwischen die umstehenden Häuser. Ich finde die überaus… darf man knuffig zu Gebäuden sagen?.
Ich laufe weiter zum Fondamente Nuove an der Nordseite der Stadt. Lange, stille Backsteingassen durchziehen das Viertel, die immer wieder in kleinen Plätzen münden. Hier wird Wäsche getrocknet, im Kaffee gesessen oder alte Schallplatten auf einem Flohmarkt gehandelt.
Eine Katze sitzt völlig regungslos auf einem Brunnen und starrt konzentriert einen Punkt in der Ferne an. Wie ausgestopft wirkt sie. Leute gucken vorbei und versuchen ihrem Blick zu folgen, aber was auch immer sie anstarrt: Außer der Katze sieht es niemand. Ich gucke ihr minutenlang dabei zu. Dann schaut sie weg.
Durch das Gewirr der Gassen finde ich mich in der Nähe des Arsenale wieder, heute genau wie vor Jahrhunderten militärisches Sperrgebiet.
Vor dem Haupttor halten steinerne Löwen Wacht. Einer hat eine ganz dicke Nase. Ich frage mich, ob die anderen Löwen ihn deswegen hänseln.
Ich meine, sieht der hier nicht aus, als ob er über seinen dicknasigen Kollegen lacht, auf den er auch noch hinunterschaut?
Ich kichere vor mich hin. Solche Gedanken zeigen, das ich unterzuckert bin. Ich kaufe mir ein Mortadellobrötchen und schlendere weiter, weg vom Arsenale.
Weiter nach Westen liegen große Parks. Hier ist das Bienale-Gelände. Im Sommer gibt es hier prächtige Ausstellungen, aber jetzt liegt alles verlassen und kahl da, wie ein morbider Vergnügungspark, der vor Jahrzehnten geschlossen wurde.
Vorbei an einem Fußballstadion und geht es wieder ans Wasser. Hier mache ich mal ein kurzes Päuschen.
Aber nicht zu lange, denn das Wetter ist umgeschlagen. Es ist bedeckt, vom Wasser aus kommt kalte Luft, und die Temperaturen fallen auf nahe Null Grad. War ja klar, ausgerechnet heute, wo ich nicht einfach in die warme Unterkunft kann, sondern den ganzen Tag in den Straßen unterwegs bin.
Mit dem Vaporetto setze ich über nach San Giorgio, der kleinen Insel mit der Kirche, deren Glockenturm wie der auf dem Markusplatz ist, aber viel weniger besucht. Im Bild ist links San Giorgio, rechts sieht man den Turm am Markusplatz.
Die Kirche selbst ist auch seltsam, denn sie ist leer. Fast kein Gestühl, einfach nur heilige Hallen. Fühlt sich seltsam an.
Ich gucke mir das kurz an, dann fahre ich eine Bushaltestelle weiter, nach Giudecca.
Zur besseren Orientierung hier die bislang besuchten Stationen bislang:
Auf dem Weg nach Giudecca, die Insel, die Venedig vorgelagert ist, komme ich an Kanonenbooten der Finanzbehörde vorbei. Wieso braucht das Finanzamt bewaffnete Schiffe?
Auf Giudecca leben noch echte Menschen, wie die Wohnhäuser beweisen. Hier ist noch nicht alles in Air BNBs umgewandelt. Ich strolche durch die Gassen und Höfe der Insel, von Osten nach Westen.
In manchen Hinterhöfen finden sich kleine Geschäfte, wie diese Gärtnerei oder das Atelier eine Künstlergruppe, die den Ausverkauf Venedigs anprangert.
Der passiert am Westende von Giudecca. Dort stehen alte Fabrikgebäude und der Backsteinkolosse der Stucky-Mühle, die jetzt ein Hilton-Hotel ist. Die Menschen, die da ein- und ausgehen, leben in einem ganz anderen Kosmos als ich.
Es beginnt zu regnen. Ich schlage den Jackenkragen hoch und stapfe zur nächsten Vaporettohaltestelle zurück. Am Hilton gibt es auch eine Anlegestelle, aber die ist für einen privaten Shuttleservice, den Normalsterbliche nicht benutzen dürfe.
Ich setze über nach Dorsoduro und will Zuflucht in der Basilika von Santa Maria della Salute suchen, aber die hat schon geschlossen. Mist. Noch mehr als drei Stunden. Der Regen wird schlimmer, und die Dunkelheit setzt ein. Die Lichter von Venedig erwachen zum Leben.
Meine M65-Jacke ist imprägniert, aber lange wird es nicht dauern, bis der Baumwollstoff durchnässt ist. Im Moment ist mir nur kalt, aber dann werde ich richtig frieren. Ich schiebe die Hände tiefer in die Taschen und stapfe die regennassen Gassen entlang, immer ein wenig Schutz vor dem Regen unter Markisen und an Hauswänden suchend.
Ich laufe durch Dorsudoro und Santa Croce, zur Piazzale Roma, ich laufe zum Bahnhof und dann wieder Richtung San Polo. Ich laufe und laufe und laufe bis ich kaum noch kann.
Am Ende sagt das Telefon, dass es 25 Kilometer in 11 Stunden waren, die ich da zusammenspaziert bin. Der GPS-Tracker sagt dazu leider nichts, er ist kurz nach der Universitätsführung ausgefallen. Der Gurt des Slingpacks hat wohl den Schiebeschalter ausgeschaltet. Sowas ist mir auch noch nicht passiert, und dann ausgerechnet an einem so interessanten Tag!
Eineinhalb Stunden vor Zugabfahhrt hole ich meinen Rucksack ab. Mit dem verkrümele ich mich am Bahnhof in eine weit draußen gelegene Ecke eines Gleises und packe dort meine Sachen um.
Ins Slingpack kommt nun alles, was ich für eine Nacht im Zug brauche, außerdem tausche ich Merinohemd gegen Fleecjacke und gönne meinen Füßen frische Socken. Doof, dass diese Umkleiderei am Gleis stattfinden muss, aber der Trend, Bahnhöfe zu Einkaufszentren umzubauen, hat auch vor Venedig nicht halt gemacht. Statt Sitzplätzen und Aufenthaltsräumen oder sogar Waschgelegenheiten ist der Bahnhof nun ein blitzendes Sammelsurium von Luxusboutiquen und stylischen Billigshops. Genau das, was Reisende nicht brauchen.
Dann wird es nochmal spannend. Zugfahren in Italien geh ja so, dass man normalerweise vorher nicht weiß, auf welchem Gleis der Zug abfährt. Also stehen alle Reisenden vor einer großen Tafel in der Eingangshalle, auf der nach und nach die Gleise angezeigt werden, und stürmen dann kollektiv los, wenn das Gleis erscheint.
Heute nicht, heute kommt für den Zug kein Gleis. Alle anderen Abfahrten vor und nach dem Nachtzug haben ein Gleis, meiner nicht. Stattdessen kommt eine Meldung “5 Minuten Verspätung”.
Um mich rum haben sich rund 50 Personen versammelt. Ich sehe mich um. Mit welcher dieser Gestalten würde ich das Abteil teilen wollen? Da ist die aggressiv-feministische Ökomutti, die ihr Baby vor die bare Brust gebunden und beides notdürftig in eine Jack-Wolfskin-Jacke verpackt hat. Neben ihr der mutmaßliche Erzeuger des Kindes, ein Kopf kleiner als sie, behängt mit einem Riesenrucksack, zahlreichen Taschen und Flaschen und den Kinderwagen schiebend. Sein Gesicht ist zwischen der Schiebermütze mit Antifa-Aufnäher und einem Bart, auf den Taliban stolz wären, kaum zu sehen. Er wirkt wie ein Zwerg aus einer Fantasywelt. Ein Packzwerg.
Mit den beiden ein Abteil zu teilen wäre die Höchststrafe. Dann lieber mit dem Studenten und seiner Freundin. Die haben zwar auch zu viel Gepäck dabei, quatschen aber bestimmt weniger dummes Zeug.
10 Minuten Verspätung. Die Herde wird unruhig. Die Ökomutti hält das für den richtigen Zeitpunkt, den Kindeserzeuger und Gepäckträger an ihrer Seit anzupfeifen. Unter der Schiebermütze murmelt es im Bart. Ich verstehe nicht, was er muemelt, aber die Ökotante wird schrill und entgegnet “Du, das war eine Zustandsbeschreibung, keine Schuldzuweisung”. Die Augenbrauen über dem Bart ziehen sich zusammen, dann murmelt wieder etwas aus der Tiefe des Gestrüpps, das ich nicht verstehe. “Natürlich können wir das diskutieren”, pfeift die Mutti den Bart an. “Ich erläutere dir gerne warum du falsch liegst”, schiebt sie hinterher. Jetzt traut sich er Bart nicht mehr zu murmeln. Aus welchem Film sind die denn bitte entsprungen? Die sind ja lebende Klischees!
Dann kommt langsam der Zug eingefahren. Zum Glück nur mit ein wenig Verspätung, ich hatte fast befürchtet, dass er ausfällt – genau das ist in der Nacht zuvor geschehen. Die Karawane atmet hörbar auf und setzt sich hektisch in Bewegung.
Im Gegensatz zu der Horde chinesischer Mädchen, die mit mir in einen Wagen einsteigt, weiß ich, wo ich hinmuss. Ich schiebe die verwirrten Teenagerinnen mit den Bierdeckelgroßen Brillen aus Fensterglas sanft aus dem Weg und mich in mein Abteil. Prompt kommen die alle hinterher. Ach Du schande, eine Nacht mit 5 Brillenmädchen?? Nein, die haben sich nur verlaufen, und ziehen nach lautstarken Gegacker wieder ab.
Damit habe ich das Abteil erst einmal für mich allein. Sehr gut, dann kann ich in Ruhe mein Gepäck verstauen, die Pritsche beziehen und Temperatur und Licht so einstellen wie ich will. Ich habe ein Bett unter dem Dach, das über eine kleine Leiter erreichbar ist. Das ist gut, damit kann ich nämlich meinen Rucksack direkt neben mir verstauen, auf der Ablage über der Tür.
Ein kleines Etui für die Brille klemme ich in das Netz neben dem Bett, das Slingpack mit einer kleinen Wasserflasche liegt neben mir. Der Zug rumpelt hinaus in die Nacht, ich liege im Dunkel und mag das Geschaukel und Geknarze der Bahn.
Wir fahren an San Biagio di Callalta vorbei, wo Sara und Francesco ihre Villa Maria Luigia betreiben. “Im nächsten Sommer”, denke ich und freue mich schon wieder auf den Besuch.
Dreißig Minuten später steigt in Conegliano, einem kleinen Ort am Rand der Alpen, noch ein älteres Ehepaar zu. Leise und ohne viel Aufsehen beziehen sie ihre Kojen und liegen dann still im Dunkel. Nebenan machen die Brillenmädchen Geschnatter, und der Wagen knarzt und scheppert. Das Gerumpel und Geschaukel lässt mich lange nicht einschlafen, zu aufgedreht ist das Hirn. Der Zug rollt nach Österreich hinein, dann verliert der Tracker den Satellitenkontakt und ich den mit der Realität. Ohne es zu bemerken schlafe ich ein.
Eben sehe ich noch auf die Uhr und sehe, dass es 01:30 Uhr ist, dann ist es plötzlich 04:30. Drei Stunden geschlafen, besser als nichts. Kurz darauf reißen Grenzschützer die Tür auf, brüllen “Morgen” und verschwinden sofort wieder, wie bei einem Klingelstreich.
Ich sehe nach draußen. Salzburg. Wie schön. Brr, und kalt ist es, das Thermometer sagt: Minus 2 Grad.
Danach ist an Schlaf nicht mehr zu denken, die Brillenmädchen schnattern wieder, und ohnehin kommt um 5:30 die Schaffnerin mit meinen Tickets wieder. Außerdem bringt sie mir ein Frühstück mit Kaffee und zwei Brötchen. DAS gab es bei der DB nicht. Danke, ÖBB!
Mit 10 Minuten Verspätung läuft der Zug um kurz nach 6 in München ein. Ich schultere den Rucksack und springe aus dem Nachtzug. Eisplacken kleben an der Außenwand.
Es schneit. Die Bäume und Straßen sind mit Schnee bedeckt. Eine kleine Familie aus einem arabischen Land kriegt sich gar nicht wieder ein. Die Kinder juchzen und bestaunen den Schnee, den sie wohl zum ersten Mal sehen, und ihre Mutter beginnt voller Begeisterung am Straßenrand einen Schneemann zu bauen.
Um 07:30 Uhr startet der nächste Zug, auch gleich mit 10 Minuten Verspätung. Ist mir egal, ich muss jetzt nicht mehr umsteigen.
Bayern ist tief verschneit, es sind minus 3 Grad. Schon erscheinen die Erlebnisse der vergangenen Tage wie ein Traum, der sich langsam auflöst. Die stiefeltragende Lady Verona. Das sonnendurchflutetet Genua. Turin mit dem ägyptischen Museum. Die langen Wanderungen durch das warme Venedig. Ist das wirklich passiert?
Es kommt mir so vor, als hätte ich eine Zeitreise gemacht. Ich war schon im Frühling, jetzt bin ich zurück aus der Zukunft und wieder im trüben, deutschen Winter. Ein hartes Los.
Aber dann komme ich zu Hause an, und als ich in Göttingen aus dem Zug steige, lässt sich auch hier die Sonne blicken.
Ja, es ist noch kalt, aber der Sommer wird kommen. So blöd es sich anhört: Ich habe ein wenig Frühling mitgebracht, zumindest in mir drin, und der wird mir die Kraft geben, den Rest des Winter auch noch zu überstehen.
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…und so war es dann auch. Der Februar ging schnell rum, März und April rauschten so durch, und ab Mai war in Deutschland schon Hochsommer. Das hier war der letzte Teil des Reisetagebuchs aus dem Februar. Ein Dank an alle, die mitgereist sind – Anmerkungen und Verbesserungsvorschläge gerne in die Kommentare! Das Reisetagebuch wird wiederkommen: Dieser Eintrag erscheint am 16. Juni 2018, und wenn alles nach Plan gelaufen ist, bin ich schon seit zwei Tagen wieder auf Reisen. Man liest sich!
Alle Teile der Städtetour im Überblick:
Teil 1: Die Lady Verona
Teil 2: Supermodel-Samstag
Teil 3: Alles rund ums Wasser
Teil 4: “Wer fremde Sprachen nicht kennt”
Teil 5: Wolfsoniana und der ängstliche Löwe
Teil 6: Unfinished Business mit Jessica Rabbit
Teil 7: Peak-Kunst in Disneyland
Teil 8: Supermond legt Venedig trocken!!!
Teil 9: Countdown
2 Gedanken zu „Reisetagebuch (9): Countdown“
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gefällt mir 🙂
Danke fürs “mitnehmen” und gute Reise aktuell! Bin schon sehr gespannt wo die Tour hingeht!