Reisetagebuch Motorradtour 2018 (3): Interludium
Silencer ist mit dem Motorrad auf Sommertour. Eigentlich. Heute gibt es eine Unterbrechung.
17.-22.06.2018, “I Papaveri”, San Vincenzo
Eine Woche werde ich auf I Papaveri sein. Ging nicht anders, so kurz vor der Hauptsaison vermieten Licio und Franca ihr Appartement “La Conchiglia” nur noch wochenweise. Fand ich erst ein wenig doof, weil ich dieses Mal gerne nur kurz Zwischenstation hier gemacht hätte. Drei, vier Tage Pause würden reichen, dachte ich.
Denkste.
Mein Körper sagt jetzt etwas anderes. Er erinnert mich daran, wie anstrengend die letzten Monate waren, und dass es gerade alles genug war und ein wenig Ruhe nicht schlecht wäre. Ich gebe dem nach, und bevor ich mich versehe, schlafe und schlafe und schlafe ich.
Ich schlafe morgens lange und quäle mich erst gegen Mittag aus dem Bett, dann fahre ich an den Strand im Nachbarort Castagneto Carducci. Kaum dort angekommen und einmal ins Wasser gehüpft, schlafe ich unter dem Sonnenschirm ein.
Wieder auf I Papaveri bin ich so kaputt, dass ich auf der Couch einschlafe. Dabei träume ich oft und viel und am Anfang von der Arbeit, aber das wird immer weniger. Es ist, als ob ich den Stress der letzten Monate im Unterbewusstsein aufarbeite und wegschlafe.
Wenn ich wach bin, mache ich nur profane Dinge, wie zum Markt fahren und einkaufen oder kochen oder lesen.
Anfangs kommt mir das ein wenig wie Verschwendung vor. Ich habe Urlaub, bin mit dem Motorrad in Italien, und was tue ich? Pennen und Hausarbeit. Erst langsam dämmert mir, dass ich diese Ruhe bitter nötig habe. In den vergangenen Wochen fühlte ich mich oft schlagartig hohl und leer, und in diese Leere schlichen sich Traurigkeit und ein tiefes Gefühl von Hoffnungslosigkeit und Verzweifelung.
Für diese Gefühle gab es objektiv keinerlei Grund, privat und auf der Arbeit läuft alles super, und dennoch kamen diese Attacken aus dem Nichts immer häufiger. Jedes Mal hatte ich trotzig die Lippen zusammengepresst und die Traurigkeit Mal um Mal beiseite geschoben. Aber oft genug hätte ich einfach losweinen können. Dazu kam die andauernde Müdigkeit. Das ganze erste Halbjahr war ich müde und kraftlos und musste mich oft zusammenreissen, um morgens überhaupt aufzustehen.
So ein Mix aus tiefer Erschöpfung und den Gefühlen von Hoffnungslosigkeit, Leere und Trauer gibt es in der geistigen Welt jedes Menschen. Es ist die Grenze zwischen normalem und zu viel Stress. Ich stelle es mir wie ein graues Band vor, das in der Peripherie lauert, ganz am Rand der eigenen Wahrnehmung. Wenn ich dauerhaft Stress ausgesetzt bin, wächst das graue Band, es wird breiter und verengt erst meinen Blick, dann mein Leben.
Am Ende schaue ich wie mit einem Tunnelblick in die Welt. Das ist natürlich nicht gesund, aber das Schlimme ist: Ich merke das manchmal nicht. Dann sagt mir mein Körper irgendwann, dass es jetzt reicht. Ich werde zwar so gut wie nie krank, aber wenn ich sowas passiert wie die Panikattacke neulich, dann weiß ich: Jetzt ist das Limit erreicht, noch Bißchen weiter, und ich bin über die Grenze. Soweit war es jetzt zum Glück noch nicht, aber an dieser Grenze war ich viel zu dicht und ungesund lange.
Ab dem dritten Tag fühle ich mich fitter und schlafe weniger. Jetzt schwimme ich viel im Meer, und das warme Wasser und die Wellen spülen über meinen Körper. Jeder Schwimmzug wäscht die Gedanken und Sorgen, die Traumfetzen und die Verspannungen Stück für Stück weg. Ich muss an nichts denken, niemand zwingt mich irgend etwas zu tun. Entscheiden muss ich nur, was es heute zum Abendessen gibt.
Jedes Mal, wenn ich aus dem Wasser steige, bin ich ein Bißchen mehr wieder ich selbst. Ich finde meine Ruhe wieder, und mein Selbstvertrauen, und meine Souveränität wieder.
Wie ich dieses Wetter genieße! In den vergangenen drei Jahren war das Wetter in San Vincenzo immer schlecht, wenn ich hier war, nun ist es fantastisch: Bei fast 30 Grad brennt die Sonne herab, aber am Strand wird die Hitze durch eine angenehme Brise erträglich, und das Appartement ist auch kühl.
Nachdem ich vier Tage lang nichts weiter getan habe als schlafen, schwimmen, lesen und abends alte Captain Future-Folgen zu gucken, habe ich wieder genug Kraft und Motivation für kleinere Ausflüge.
Ein Abstecher nach Florenz gehört dazu, wobei ich unterwegs in Empoli in einem riesigen Einkaufszentrum anhalte und bei OBI ein wenig Öl kaufe – anscheinend hat sich die V-Strom in den Alpen einen ordentlichen Schluck gegönnt. Vielleicht war auch von Anfang an zu wenig drin, ohne Hauptständer und alleine ist das Ablesen des Ölstandes über ein seitlich angebrachtes Schauglas nicht einfach.
Was bei OBI einkaufen ist auch so herrlich gewöhnlich. Ich mag es, gewöhnliche Dinge im Urlaub zu tun. Das gibt mir das Gefühl, selbstständig zu sein und mich hier gut auszukennen.
Obi in Italien ist übrigens lustig, weil alle Waren auf Deutsch beschriftet sind. Manche Italiener stehen vor den Regalen und konsultieren ihre Smartphones um rauszukriegen, was “Filzzuschnitt, selbstklebend” wohl ist.
Der Stadtverkehr in Florenz ist recht chaotisch und anstrengend. Mir macht das nichts aus, ich kann italienisch fahren, aber die Wege durch die Stadt sind teils sehr lang.
In Florenz ist wieder total der Bär los, und es ist mit über 30 Grad und in der Motorradjacke fast unerträglich heiß. Ich besuche meinen Lieblingskrawattenladen, erstehe vier neue Langbinder und freue mich, dass Frau Evangelisti mich immer noch wiedererkennt.
Vor der Kirche Santa Croce sind große Tribünen aufgebaut. Hier wird bald Fußball gespielt. Allerdings kein normaler Fußball, sondern der “Calcio Storico”, eine alte, archaische Form, bei der es nicht nur darum geht den Ball zu treten, sondern auch die gegnerische Mannschaft aufzumischen, mit Fäusten und Tritten und Kopfnüssen. Das muss man sich vorstellen wie eine Mischung aus Fußball und Barschlägerei, und wird ohne Schutzausrüstung gespielt. Gewonnen hat am Ende nicht nur, wer die meisten Tore gemacht hat, sondern auch, wessen Knochen weniger zertreten und wer noch mehr Zähne hat.
Auf dem Piazzale Michaelangelo, hoch über der Stadt, lassen sich noch die Spuren der “Grand Tour” erahnen. In der Autoserie mit Jeremy Clarkson, James May und Richard Hammond haben die auf diesem ehrwürdigen Platz Donuts gedreht.
Ich bin körperlich schon wieder am Ende. Es ist über 30 Grad heiss, und in der Motorradkombi noch viel wärmer. Die Tech-Air-Jacke ist nicht nur schwer, begreife ich jetzt, sondern auch völlig luftundurchlässig. Der eingebaute Airbag wirkt wie eine Plastiktüte, und in diesem schweren und versiegelten Ding gehe ich gerade kaputt. Sicher mag die Jacke ja sein, aber “tragbar” ist sie nur so mittel und für Reisen eigentlich nicht zu gebrauchen. Trotzdem, die Aussicht von hier oben lohnt sich immer.
Florenz liegt, wie Siena, über 100 Kilometer Luftlinie von San Vincenzo entfernt. Das bietet sich als sind nette Tagestouren an, zumal der Weg dahin durch Gebiete führt, die ich noch nicht oder nur zum Teil kenne.
Die Gegend um Volterra herum kenne ich, das ist Kitschpostkartenklischee-Toskana mit wogenden Feldern und Steinhäusern am Ende von Zypressenalleen. Kitschig, und trotzdem haut mich das jedesmal wieder um. Das ist alles so harmonisch, als ob hier jemand Landschaft nach dem goldenen Schnitt gebaut hätte.
Der Weg nach Siena führt mich über allerkleinste Dörfchen und Bergstraßen. Das dauert rund 3 Stunden, aber die sind purer Fahrspaß. Die Barocca gleitet über den Asphalt, schraubt sich Serpentinen empor und rumpelt manchmal über Schlaglochstrecken. Dabei ist die Gegend so einsam, dass mir manchmal eine halbe Stunde lang kein anderes Fahrzeug begegnet. Die Fahrt ist auch eine gute Gelegenheit, um wieder sauberes Kurvenfahren zu üben.
Unterwegs entdecke ich ein Tal voller Kraftwerke. Dicke Rohrleitungen laufen wie Spinnenfäden in alle Richtungen über die Berghänge, und überall dampfen Kühltürme. Geothermie und Fernwärme, wie sich später rausstellt. Italien hat ja keine Atomkraftwerke, aber da, wo es sich anbietet, in abgelegenen Regionen, hat man wohl ganze Täler in natürliche Energielieferanten umgebaut.
Auch hier ist die Landschaft kitschig.
In Siena ist Hauptsaison, und um 11 Uhr steppt schon sonstwas von der Bär.
Ich esse ein Eis und mache das obligatorische Foto davon. Das ist wichtig, einmal im Jahr muss ich was auf Facebook posten.
In ihrem Haushaltswarenlädchen ist Christina am Verzweifeln. Eine Gruppe Koreaner steht um sie herum und guckt schon ungeduldig auf die Uhren, während die Ladenbesitzerin mit einem Formular zur Umsatzsteuerfreistellung kämpft, das offensichtlich verkehrt rechnet.
“Kennst Du Dich mit Computern aus?!”, fragt sie mich mit einem flehenden Unterton. Ich gucke auf den Bildschirm, dann schüttele ich schnell den Kopf. Computer sind eine Sache, italienische Steuerprogramme eine ganz andere. Am Ende bittet Christina mich kurz aufzupassen und rennt aus dem Laden. Eine Minute später kommt der Kioskbesitzer aus dem Haus gegenüber angelaufen, setzt sich den den Computer, klickt herum, flucht, klickt weiter, steht auf und rennt wieder raus. Dann kommt Christina wieder reingejoggt, springt hinter den Schreibtisch, druckt etwas aus und verabschiedet die Koreaner.
Dann sinkt sie im Bürostuhl zusammen, verdreht die Augen und macht “puuuuh”. “Harter Tag”, frage ich. “Formulare vom Finanzamt”, stößt die Ladenbesitzerin hervor. “Die bringen mich nochmal ins Grab”.
Als ich wieder in den Gassen unterwegs bin, höre ich plötzlich meinen Namen.
Es ist Bruno, der Wirt der anerkannt schlechtesten Spaghetteria in Siena. Wirklich, das einzige, was man da essen kann, ist Pici mit Sugo Cinghale. Das ist eine sienisische Spezialität: Dicke Nudeln mit Wildschweinsoße und vermutlich das einzige, was bei Bruno wirklich selbstgemacht ist. Ist mir aber egal, weil das Essen günstig ist und immer ein Platz frei ist.
“Wie geht´s Dir?” rufe ich erfreut. Normalerweise verzieht Bruno auf die Frage das Gesicht und wackelt missmutig mit dem Kopf, aber heute strahlt und sagt “Ich habe Verstärkung”. Tatsächlich: Hinter dem Tresen der Bar Novecento steht eine ausgesprochen hübsche, junge Frau. “Meine Tochter”, sagt Bruno stolz. Bruno hat eine Tochter? Wie hat er das denn hingekriegt, der ist doch immer hier in seiner Bar. “Piacere”, sage ich “Es ist mir ein Vergnügen”.
“Wie wäre es mit deinem üblichen Teller Pici mit Sugo Cinghale, Wildschweinsoße? Und dazu ein… warte… Du nimmst immer Wasser ohne Sprudel, richtig?”
Hatte ich erwähnt, dass sich das alles hier ein wenig wie nach Hause kommen anfühlt?
Wenig später bin ich wieder auf der Straße nach San Vincenzo unterwegs. Dieses Mal ein anderer Weg, aber die sind auch schön zu fahren. Den Motorschutzkorb der V-Strom abzubauen, weil er manchmal in den Kurven aufsetzte, war die richtige Entscheidung; Nach 5 Stunden Straßentraining fahre ich Kurven wie ein junger Gott und setze ab und zu mit der Fußraste auf, aber nicht mit dem Rest des Bikes.
Vormittags Ausflüge und Motorradtouren, Nachmittags bin ich wieder am Strand und genieße Meer und Sonne. Es ist windstill, sehr heiß und Wellen gibt es gerade nicht. Abends mache ich eine Passegiata, eine Schlenderrunde durch den Ort, aber die Stadt ist um 20 Uhr noch tot – es ist mit 28 Grad nach Sonnenuntergang Grad einfach zu heiß.
Na egal, dann setze ich mich eben auf die Terrasse von “La Conchiglia” und genieße den warmen Abend und das Zirpen der Grillen in den umliegenden Feldern.
Life is good, und der Mond schaut zu.
2 Gedanken zu „Reisetagebuch Motorradtour 2018 (3): Interludium“
*gerne gelesen
… ebenso !!