Reisetagebuch Motorradtour (6): Mach Deine Hausaufgaben

Silencer ist mit dem Motorrad auf Sommertour. Heute geht es durch die Basilicata, die V-Strom sprüht Funke, eine Straße geht steil und nebenbei werden die Lieblingswerkzeuge zu Reisevorbereitung vorgestellt.

Gott, bin ich müde! Beim Schreiben dieser Zeilen fallen mir die Augen zu. War aber auch ein langer Tag und vorher schon klar. Ich plane ja sowas. Intensiv. Always do your resarch, mach Deine Hausaufgaben! Je mehr Zeit man in die Vorbereitung investiert, desto weniger Stress hat man später, und umso mehr hat man von der Reise. Ich nehme mir damit keine Spontanität, ich steigere mit Planung die Intensität. Bis zur Erschöpfung.

25.06.2018, Monte Sant´Angelo, Apulien
Zwölf Stunden früher: Im Zimmer ramentert es, was mich aus dem Schlaf reisst. Ich bin nicht ganz sicher, ob mich das Ehepaar im Zimmer nebenan geweckt hat, das sich anscheinend über das Fernsehprogramm streitt, oder ob es das Wiesel ist, das seine verfilzte Nase in die Morgenluft über dem Golf von Manfredonia hält.

Zu meiner Überraschung hat sich die Geburtstagsgesellschaft, die bis spät in die Nacht vor meinem Hotelzimmer gefeiert hat, komplett aufgelöst und ist verschwunden. Im Frühstückssaal bin ich nämlich allein. Interessant, die die haben gefeiert bis in die Puppen, aber übernachtet hat hier anscheinend keiner der Partygäste.

Sind die etwa alle letzte Nacht noch besoffen nach Hause gefahren? Ich lasse die Kuchengabel fallen und renne vor´s Haus. Puh, die V-Strom steht noch in der Zufahrt des Parkplatzes, ohne einen Kratzer. Hätte mir noch gefehlt, das ein Partygast die Karre umfährt.

Zwischen Monte Sant´Angelo und meinem ersten Ziel an diesem Tag liegen nur 30 Kilometer. Es ist warm, und die V-Strom summt in einem Tal im Bergmassiv des Gargano entlang und zum nächsten größeren Ort. Die Gegend hier ist ziemlich verlassen, nur ein paar Schafe gucken dem Motorrad hinterher.

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Bei dem Ort, zu dem ich nun will, handelt sich um San Giovanni Rotondo. Das ist eine kleine Stadt, aber einer der bekanntesten Orte Italiens. Kennt aber außerhalb des Landes kaum jemand. Solche Orte findet man, wenn man seine Hausaufgaben macht. So nenne ich die Vorbereitung einer Reise.

Von Monte Sant´Angelo im Osten nach San Giovanni Rotunda, rund 30 Kilometer.
Bild: Google Maps

Unter „Hausaufgaben machen“ gehört die Beschäftigung mit Land oder Region und den jeweiligen Eigenarten. Dabei helfen mir oft klassische Reiseführer, also gedruckte Bücher auf Papier(!). In den vergangenen Jahren haben sich aber auch Bild- und Fotobände bewährt, um Ziele zu finden, wo ich dann spontan sage: Da möchte ich hin!

Bei den elektronischen Medien nutze ich das bekannte Trip Advisor witzigerweise so gut wie gar nicht. Zu verschieden sind meine Vorlieben und die Empfehlungen der Masse, die Trip Advisor abbildet, darum finde ich nur selten Orte und Aktivitäten darin, die mich ansprechen.

Sehr cool und von mir gerne benutzt ist hingegen der Atlas Obscura, eine Sammlung von Orten, die von ungewöhnlich über skurril bis hin zu eklig reichen. Mein allerwichtigstes Planungstool ist Google Maps. Damit berechne ich nicht nur Etappen, damit suche ich auch, in der Satelitenansicht, nach interessanten Orten. Spätestens damit wäre mir San Giovanni Rotondo aufgefallen, denn mitten in dem Dorf steht das hier:

Bild: Google Maps 2018

Das will ich mir jetzt ansehen!

Unter „Mach Deine Hausaufgaben“ fällt auch die Suche nach geeigneten Motorradparkplätzen. Ich gucke vor einer Reise immer mit Streetview, ob ich in der Nähe eines Ziels kostenfreie Parkplätze finde, die ich direkt ansteuern kann. Das spart vor Ort Zeit, die ich nicht mit Parkplatzsuche vergeuden muss.

In San Giovanni di Rotonda habe ich eine Restfläche entdeckt. Restflächen entstehen manchmal auf Autoparkplätzen. Das sind so verschnittene Fitzel, die zu klein für PKW sind, auf die ein Mopped aber perfekt passt. Verschnitt, quasi. So etwas habe ich hier gefunden, gerade große genug für die V-Strom, und garantiert frei.

Auf Streetview sah´s gut aus…

Dem ist auch so, nur leider ist der Parkplatz bewacht. Ein schmierlappiger Nörgelrentner mit fettigen Haren pfeift mich an. Ja, wirklich, er pfeift mich mit einer Trillerpfeife an und brüllt dann: „Willste Sanctuario? Is´ gleich da drüben!“, spuckt er und deutet in Richtung einer Grünanlage. Ich überlege kurz, ob es dem Rentner was angeht, wo ich hinwill. Andererseits – was sollte ich sonst hier? „Brauchste Parken?“, donnert der Schmierlappen und hält die Hand auf. Der treibt hier Geld ein! Ich sehe mich um, schüttele den Kopf und gebe Gas.

Eine Ecke weiter stelle ich die Barocca an einer Bergstraße ab und ziehe ein Ticket aus dem Automaten. Ein Euro, eine Stunde, das wird reichen. Ich befestige den Parkschein mittels des unpatentierten Silencer´schem Magnetsystems an der V-Strom, dann schließe ich den Helm im Topcase ein und stapfe den Berg hinauf.

In der Halterung der Scheibe der V-Strom habe ich Magnete eingebaut, die die ebenfalls magnetische Hülle mit dem Parkschein festhalten.

Über mir, am Berghang, ragen ein halbes Dutzend Klinikgebäude in die Höhe, weitere befinden sich gerade im Bau.

Das passiert nicht, weil die Luft hier so gut ist, sondern die Leute erhoffen sich vom Aufenthalt hier Heilung. Dafür ist hier der modernste Klinikkomplex Süditaliens entstanden. Und was könnte besser sein als eine moderne Klinik mit Aussicht auf DIE KIRCHE?

DIE KIRCHE ist eine von zwei Megachurches auf dem europäischen Kontinent. Die eine Riesenkirche ist die Familia Sagrada in Barcelona, die andere ist diese hier: Die Chiesa Superiore.

Das Dorf San Giovanni Rotunda war der Wirkungskreis von Pio da Pietrelcina, einem strenggläubigen und mies gelaunten Kapuzinerpriesters. „Padre Pio“ legte sich gerne mit der Kirche in Rom an und behauptete Stigmata zu tragen.


Tatsächlich hatte er Wunden an den Händen, aber dass das göttliche Zeichen seien, glaubte ihm nicht mal seine eigene Kirche, gegen die er ohnehin gerne pöbelte. Auch deswegen schickte der Vatikan eine Spezialeinheit von Ermittlern, die den Fall des Nörgelpriesters aus Süditalien untersuchte.

Die Ermittler fanden folgendes heraus:
1. Der Priester hatte Wunden an den Händen, die aber nicht nach Wunden aussehen, wie sie von spitzen Gegenständen, wie z.B. Nägeln, verursacht werde.
2. Padre Pio kaufte regelmäßig ordentliche Mengen von Karbolsäure, einer ätzenden Substanz, die schwärende Wunden erzeugt, wenn sie in Kontakt mit der Haut kommt.
3. Man fand Rechnungen für große Mengen Veratrin, einem sehr starken Mittel gegen Wundschmerzen.
4. Der Mann hatte unfassbar viele Anhänger und in Süditalien quasi das Sagen.
5. Er hatte vermutlich sehr gute Kontakte zu den Faschisten.

Empfehlung: Bloss nichts gegen Padre Pio unternehmen! Gegen einen Priester, der einen Personenkult über ganz Süditalien hegte, konnte selbst der Papst nur verlieren.

Tatsächlich versuchte der Vatikan Pio geräuschlos kaltzustellen. Versetzung nach Sonstwohin, Verbot sich mit Gläubigen zu treffen, das war alles als Sanktionen im Gespräch. Durchgeführt wurde davon letztlich nicht, zum einen, weil Pio gute Verbindungen zu den regierenden Faschisten nachgesagt wurde, zum anderen, weil man Aufstände der Gläubigen befürchtete.

Pio war also ein polternder Scharlatan, aber das Tat seiner Beliebtheit keinen Abbruch. Immer mehr Menschen pilgerten zu ihm.

Irgendwann in den 1940ern wurde ihm nachgesagt, dass er Kranke heilen könne, und Pio unternahm nichts, um dem zu widersprechen. Im Gegenteil, er ließ die Geschichten um seine Person ins Kraut schießen: Er sei an mehreren Orten gleichzeitig gesehen worden, hieß es. An verschiedenen Orten auf der Welt! Er könne in die Zukunft sehen, und habe einem jungen Priester namens Carol Wojtyla voraus, das er einmal Papst werden würde!

Jeden Tag kamen nun tausende von Pilgern nach San Giovanni Rotunda, und Pio begann Geld von ihnen zu nehmen. Offiziell für Krankenhäuser, und 1956 wurde das modernste Krankenhaus Süditaliens in dem kleinen Bergdorf eröffnet.

1968 starb der streitbare Trickbetrüger mit 81 Jahren, aber die Zahl der Pio-Verehrer wurde nicht weniger. Im Gegenteil. Als er 2002, nach langem hin und her, heilig gesprochen werden sollte, reichte der Petersplatz in Rom nicht aus, um alle Gläubigen aufzunehmen die an der Zeremonie teilnehmen wollten. San Giovanni Rotonda wurde von Pilgern überrannt, und deshalb baute Stararchitekt Renzo Piano hier ab 1991 eine Megachurch.

Dreizehn Jahre dauerte die Bauzeit, 2004 war der muschelförmige Bau dann fertig. Der eigentliche Kirchenraum der Chiesa Superiore, der oberen Kirche, fasst 6.500 Personen.

Von Außen ist der Bau eine komische Mischung aus Bögen und Dachflächen, die sich überlappen.

Als ich die Riesenkirche betrete, ergreift mich Ehrfurcht. Nicht vor Gott oder Padre Pio, sondern vor dieser architektonischen Leistung.

Die Kirche wirkt wie eine Muschel. Das Innere wirkt vertraut und ist doch ganz anders. Das Innere ist harmonisch und warm, man fühlt sich geborgen, und gleichzeitig ist alles beeindruckend groß. Ein Meisterwerk.

Ausladende Bögen scheinen dem Boden zu entspringen, wölben sich über den Reihen von Bänken und laufen am Altar zusammen, fast wie eine Pflanze. Der Kalkstein, aus dem das alles gebaut ist, hat einen warmen, beruhigenden Farbton. Man fühlt sich hier sofort geborgen. Eine riesige Orgel ist in eine Wand eingelassen. Sie hat, so werde ich später lesen, 5.814 Pfeifen. Wahnsinn.

Ein riesiges „Fenster“ taucht den Innenraum in buntes Licht. Es zeigt Szenen aus der Apokalypse, allerdings ohne einen Jesus Christus, der am Ende triumphiert. Hier geht einfach nur die Welt unter, was tatsächlich zu Kritik aus der katholischen Kirche führt. Der Gag an diesem Fenster ist aber noch ein anderer: Es ist gar nicht aus Glas, sondern aus Stoff, und lässt sich dadurch aufrollen, um das Gebäude zum Platz vor der Kirche hin öffnen.

Spannend ist nicht nur der muschelförmige Bau der sichtbaren Kirche, sondern auch das, was unter ihr ist. In den Berg eingelassen sind mehrere Stockwerken mit Seminarräumen, Kapellen, Hörsälen und 30 Beichtstühlen.

Und es gibt die untere Kirche, die Chiesa inferiore, die tief in der Erde liegt. Um die Kirche UNTER der Kirche, das Scanctuario, dreht sich hier alles. Bzw. um das, was in ihr liegt.

Um zu der Unterkirche zu gelangen, muss man einen Weg entlangschreiten, der wie eine Schnecke nach unten führt. Es wirkt ein wenig wie ein Kreuzweg. An den Wänden ist in Mosaiken in Stationen das Leben des Padre Pio verewigt.

Padre Pio erklärt Jesus wie die Welt geht.

Padre Pio vergibt Wissenschaftlern für ihre Frevelei.

In einem unterirdischen Prunksaal liegt dann der Kapuziner. Unter strenger Aufsicht darf man an ihm vorbeidefilieren. „Aber jeder nur ein Foto! Und keine Selfies!“, ermahnt die Aufsicht die Familie vor mir. Als die weg ist, bin ich alleine hier. Das ist also Padre Pio, oder das, was von ihm übrig ist. Hm. Wieso sieht der so gut erhalten aus? Ah, weil sie dem Skelett eine Silikonmaske aufgesetzt haben. In welchem Zustand der Priester wirklich ist, sieht man nur an den skelettierten Händen.

Ich streife noch ein wenig durch die Megachurch und bin beeindruckt. In zig Sublevels sehe ich Büro, Meditationsräume, Empfangstresen und Konferenzräume. Das hier wirkt wie ein Headquarter eines Konzerns. Wahnsinn.

Dann strolche ich wieder nach oben und finde mich auf dem Vorplatz wieder. Wird die Apokalypsenwand der Kirche geöffnet und der Vorplatz mit in einen Gottesdienst einbezogen, dann bietet dieses Ding Platz für fast 40.000 Menschen!

Beeindruckt kehre ich zum Motorrad zurück und mache mich abreisebereit. Mit Annas tatkräftiger Unterstützung manövriere ich aus dem Ort hinaus und über eine Bergkuppe. San Giovanni Rotonda liegt noch im Gargano-Massiv, aber jetzt geht es die Bergflanke hinab und nach Apulien.

Apulien lässt sich genauso an, wie ich es mir vorgestellt habe: Flach und langweilig. Die Straßen, die ich fahre, führen schnurgerade aus. Links und rechts sind staubige Felder oder rauchende Industriegebäude.

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Es ist eigentlich sogar noch schlimmer als ich gedacht hatte. Ich hatte mir Apulien flach und langweilig und klein vorgestellt, so semiromantische, staubige Landstraßen zwischen Olivenbäumen. Aber stattdessen sind die Straßen hier breit wie Autobahnen. Dadurch sind sie nochmal extra langweilig, obwohl sie übersät sind von Schlaglöchern und Stellen, die durch die Hitze eingebrochen sind.

Der Rand der Straßen ist dicht bedeckt von Müll. Ab und an liegen ganze Berge von Plastikflaschen, Tüten, Säcken und alten Bauzäunen aus Kunststoff auf dem Randstreifen. Weil es heute sehr windig ist, fliegt der Müll unablässig über die Fahrbahn. Ich muss die V-Strom im Slalom durch einen Hagel aus Plastikflaschen und -tüten steuern, während ich den Schlaglöchern ausweiche. Das fühlt sich an wie ein Reaktionsspiel, aber trotzdem ist mir langweilig.

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Laaaaaaaaaangweilig.
Bild: Google Maps 2018

Zum ersten Mal spiele ich während der Fahrt mit den erweiterten Funktionen des Garmin ZUMO herum und gucke mir alternative Routen an, lasse mir Durchschnitts- und Spitzengeschwindigkeiten seit Annas erster Aktivierung anzeigen und bestaune den elektronischen Kompass. Das hat aber auch nur begrenzten Unterhaltungswert, und schnell ist mir wieder langweilig.

Ich drücke auf den Tasten am Helm herum, die ich noch nie benutzt habe. „FM RADIO“ sagt der Helm plötzlich und empfängt einen Lokalsender. Zwei völlig überdrehte Moderatoren führen hektische Dialoge in „lustigen“ Stimmen, dazwischen kommt italienische Popmusik und Nachrichten. Ich verstehe nicht viel und schalte das wieder aus. Ist mir zu laut, ich mag es, wenn ich alles um mich rum höre.

Es reicht mit außerdem, wenn mein Kopfradio Musik dudelt. Während die Barocca über den Asphalt dahingleitet, spielt die Jukebox in meinem Hirn ein altes Lied von Alanis Morisette:
„And I´ve got One Hand in my Pocket, and the other one… is steering a V-Strom“

Irgendwann quere ich den Bergzug von Alta Murgia, der die Regionen Apulien und Basilicata trennt. Danach geht es um Glück von der Autobahn runter und in die Wildnis. Keine Industrieanlagen mehr und kein Müll, jetzt liegen wirklich weite Felder vor mir.

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Um die Mittagszeit steuere ich auf einen Berg. Über schmale Sträßchen geht es durch die Wiesen, die auf dem Bergrücken liegen, bis zu einem asphaltierten Parkplatz.

Das ist der Belvedere, der Aussichtspunkt auf Matera, die Felsenstadt. Von der Klippe, die unterhalb des Parkplatzes liegt, kann man die alte Stadt mit ihren Höhlenbauten in ihrer ganzen Pracht sehen. Kräne drehen sich über der Silhouette. Hier wird noch heftig gebaut, denn Matera, das einstige Armenhaus Europas, wird im kommenden Jahr europäische Kulturhauptstadt 2019.

Ich lasse mich auf einem Felsen nieder und verzehre ein karges Mahl aus Leitungswasser und Müsliriegel. Währendessen lasse ich eine der VIRBs mitlaufen.

Rechts der Belvedere, wo ich gerade auf einer Klippe sitze, Links Matera. In der Mitte: Die Schlucht.
Bild: Google Maps 2018

Es ist windig, was in dem entstandenen Zeitrafferfilmchen gut zu sehen ist.

Nach dem Mittagessen schaue ich mir die Klippe genauer an. Wie der Berghang unter Matera ist auch sie gespickt mit Höhlen.

Ich hatte mal was gelesen, dass die Höhlen hier auch als Kapellen genutzt worden seien. Sowas sehe ich hier aber nicht, ich finde nur Höhlen, die von den Touristen als Toilette mißbraucht wurden und auch so riechen.

Matera und der Belvedere sind durch eine tiefe Schlucht getrennt, eine sogenannte Gravine. Die Gegend hier ist voll davon, die Landschaft sieht von oben aus, als sei sie an manchen Stelen zerrissen und an anderen in sich zusammengeschoben. Es gibt sogar einen Ort, der einfach „Gravine in Puglia“ heißt. Selbstredend liegt auch der an einer solchen Schlucht. Ich parke die V-Strom in einem Feldweg, um mir das mal näher anzusehen, und prompt hält ein Lieferwagen mit Handwerkern drin, die wissen wollen, ob ich Hilfe brauche. Freundlich!

Leider kann ich mir die Schlucht nicht in Ruhe ansehen. Am dortigen schönsten Aussichtspunkt macht ein frisch getrautes Paar Hochzeitsaufnahmen, und das heißt im Jahr 2018: Sie sind mit einem ganzen Filmteam unterwegs, das für Ausleuchtung sorgt, während ein Mann mit einer Fernsteuerung eine Drone um die Beiden kreisen lässt und filmt. Dafür muss natürlich alles weiträumig abgesperrt sein, und so kann ich nur ein paar rasche Schnappschüsse von der Schlucht und den Höhlenkirchen unterhalb der Stadt machen.

Gravine in Puglias Gravine .
Bild: Google Maps 2018

Dann fahre ich eine selbstausgedachte Strecke. Auch das gehört zu den Hausaufgaben: Mit Google Maps die schönsten Moppedstrecken ausgucken und dann mit der Software „Tyre“ dem Garmin Zumo beibiegen. Bei dieser Strecke hier habe ich es aber übertrieben, schon nach kurzer Zeit weiß ich, weshalb sich das Anna gegen sie sträubt und nur der Routenplanungsassistent dazu gezwungen werden kann: Die Straße ist verwinkelt, so ein Umweg und so kaputt, dass es einfach keinen Spaß macht und nur Zeit kostet.

Bild: Google Maps 2018

Einmal übersehe ich eine Welle in der Straße und erwische die mit so hoher Geschwindigkeit, dass das Motorrad kurz abhebt. Für einen Sekundenbruchteil fliegt die Barocca durch die Luft, dann kommt die Maschine wieder auf die Straße auf und federt dabei so tief ein, dass die Umlenkhebel an der Unterseite aufsetzen. Das dürfte Funken gesprüht haben, denke ich bei mir. Zum Glück ist nichts kaputt gegangen, aber jetzt habe ich gar keine Lust mehr auf diese Krumpelstraße. Außerdem braucht das Motorrad Benzin. Also runter von meiner Kurven- und Buckelpiste und Anna die nächste Tankstelle lassen.

Zack, drehen wir bei und steuern auf die Berge zu, hinter der eine Tanke liegen soll. Die Berge sehen harmlos aus, aber die Straße hat es in sich. Schon das erste Teilstück ist mit einer Steigung von 15 Prozent ausgewiesen, was schon wirklich sehr steil ist.

Aber das ist noch nichts gegen das, was ich wenige Minuten später sehe. Wie eine Wand steht die nächste Straße am Hang. Vorsichtig und im ersten, maximal im zweiten Gang fahre ich die hoch, und es fühlt sich an, als ob ich eine senkrechte Wand hochfahre.

Die VIRB auf der Nase des Motorrads zeichnet unter anderem auch die Steigung auf, und als ich später die Aufnahmen auswerte, traue ich meinen Augen kaum: 27 Prozent! Die steilste Straße der Welt hat 35 Prozent, da fehlte nicht mehr viel.

Dafür ist die Aussicht von der Bergkuppe sensationell. Zwar hängen dunkle Wolken über der Landschaft, aber die ist spektakulär. Das hier ist die Basilicata in ihrer reinsten Form: Hügelland, geprägt von seltsam ausgewaschenen Erdpyramiden.

Das Hinterland von Craco ist wegen der seltsam erodierten Erdberge skurril, aber die Landschaft ist einzigartig. Und einsam, außer ein paar Bauern sehe ich hier niemanden.

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Craco ist eine Geisterstadt, die ich gerne besuchen würde. Aber das geht nur mit einem Guide, weil die Gebäude einsturzgefährdet sind, und heute habe ich da auch keine Lust mehr drauf. Ich sitze schon seit mehr als 9 Stunden im Sattel, und es sieht aus, als ob es gleich regnen würde.

Der Eindruck täuscht nicht, plötzlich beginnt es zu pladdern.

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An Craco vorbei steuere ich Pomarico an. Meine heutige Unterkunft ist eine Osteria, die auf einem Felsvorsprung über der Basilicata thront.

Pomarico in der Region Basilikata.
Karte: Wikimedia, Nutzer NordNordWest, CC BY-SA 3.0, Ort von mir.

Der Weg zur „Albergho Colle Siesto“ ist kaum zu finden, führt er doch über ein Abbruchgelände und vorbei an einer Müllhalde, die unter einem Funkturm lagert. Ohne vorherige Hausaufgaben, inkl. Studium von Streetview, hätte ich das hier im Leben nicht gefunden.

Hinter der Müllhalde liegt ein bezauberndes Gasthaus, picobello in Schuss und sehr sauber. Die Übernachtung hier kostet knapp über 20 Euro. Wie ich das gefunden habe? Hausaufgaben gemacht. Mit Booking.com.

Der V-Strom wird ein regengeschütztes Plätzchen in einem Carport angeboten. Das lehne ich natürlich nicht ab. Dann ziehe ich mich zurück, in ein großes Zimmer mit Doppelbett und einem riesigem Bad. Ich dusche, dann klappe ich das Netbook auf und versuche die Eindrücke des Tages festzuhalten. Gott, bin ich müde! Beim schreiben dieser Zeilen fallen mir die Augen zu. War aber auch ein langer Tag. War aber vorher schon klar. Ich plane ja sowas. Und die heutigen sieben Stunden on the Road und die Stops in San Giovanni Rotunda und Matera waren das pure Vergnügen.

Die Gästezimmer sind toll, noch toller ist aber die Osteria selbst. Selten habe ich so gut gegessen…

Das hier sind Fleischbällchen in Tomatensauce in einem Körbchen aus Käse, das während des Essens langsam schmilzt.

Und das hier sind so Fleisch… Dinge. Also, irgendwelche Teile vom Tier. Kann mir wer sagen, was das unten links ist? Eine Niere vielleicht?

Selten habe ich mich so gnadenlos überfressen. Mit Bauchschmerzen, aber zufrieden, rolle ich ins Bett. Draußen wird der Regen immer heftiger. Das verheißt nichts Gutes für Morgen, aber im Augenblick ist mir das egal.

Tour des Tages. Von Monte Sant´Angelo über San Giovanni Rotondo durch Apulien in die Basilicata nach Matera und Altamura, vorbei an Matera und nach Pomarico. Rund 400 Kilometer, rund 9 Stunden Fahrzeit.
Bild: Google Maps 2018

Kategorien: Motorrad, Reisen | 3 Kommentare

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3 Gedanken zu „Reisetagebuch Motorradtour (6): Mach Deine Hausaufgaben

  1. Puh, du hast mich nachhaltig verwirrt. Dein Maps-3D-Bild zeigt nämlich Gravine in Puglia, nicht Matera. Ich habe jetzt eine halbe Stunde damit verbracht, den Punkt und vor alle dieses Viadukt in Matera zu finden und dachte schon in bin bekloppt – wie su weißt kenne ich die Gegend gut aber habe in Matera nie so ein Viadukt gesehen …
    Vielleicht kannst du da noch mal nach dem passenden Screenshot schauen?

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  2. Waaaah, Du hast recht. Ist korrigiert.

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  3. Ali

    Deine Reiseberichte haben außer Quantität auch Qualität. An der Rotondakirche wäre ich achtlos vorbeigefahren wenn sie nicht direkt auf der Route, oder explizit ausgewiesen wäre.
    Klar lade ich mir vorher auch GPX-Dateien auf das Navi, aber zwingend danach fahre ich nicht.
    Aufsetzen der Maschine bei Bodenwellen könnte ich mir nur beim Seitenständer vorstellen, der dürfte das tiefste Teil untendrunter sein.
    War ein guter Tipp mit booking, wenn die Preise bis Frühsommer ähnlich stabil sind wie derzeit, käme ich mit Campen vermutlich nicht viel günstiger.

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