Ah, London. Die Stadt mit der höchsten Musical- und Theaterdichte der Welt. Als ich das letzte Mal da war, im Februar 2017, versprach ich mir selbst: Ich würde nach London zurückkehren. Aber erst, wenn ich Karten für „Harry Potter and the cursed Child“ bekäme.
An Karten für den offiziellen achten Teil der Harry Potter-Sage zu kommen ist nämlich gar nicht einfach. Immerhin handelt es sich hier um das nachgefragteste Theaterstück der Welt.Man stelle sich vor, es gäbe einen neuen Star Wars-Film, der nur in einem Kino auf der Welt läuft – exakt so ist das mit Harry Potter 8-
Mittlerweile sind zwar auch Ableger in New York und Melbourne und demnächst auch in Hamburg geplant, aber London ist aktuell von Besuchern aus der ganzen Welt total überlaufen. Alle vier Monate lässt das Theater neue Karten raus, für Vorstellungen 12 Monate in der Zukunft. Was für ein Abenteuer die Buchung letztlich ist, habe ich hier aufgeschrieben. Zwei Jahre hat es gedauert, dann war es soweit: Ich hatte einen exzellenten Sitzplatz im meist nachgefragtesten Theaterstück der Welt.
Und wenn ich schon mal in London bin, dachte ich mir, nutze ich gleich die Gelegenheit und gucke mir noch ein paar andere Sachen an. So habe ich über das ganze letzte Jahr mal hier, mal da was gebucht. Am Ende war ich jeden Tag mindestens ein, manchmal zwei Mal im Theater oder in einem Musical. Nicht alles war super, aber das meiste schon. Highlight: Gillian Anderson! Totaler Reinfall: Hamilton. Aber der Reihe nach. Das hier habe ich in London in der vorvergangenen Woche gesehen:
All about Eve [Noël Coward Theatre]
Die USA in den 50ern: Margo Channing ist die Königin des Theater. Publikum und Kritiker liegen ihr zu Füßen. Doch dann kommt Eve. Die junge, schöne Frau vom Lande gibt sich als großer Fan von Margo aus und wird schnell zu ihrer Assistentin. Dort nutzt Eve die Nähe, um die Ältere zu studieren. Stück für Stück drängt Eve, das unverdorbene, talentierte Mädchen, die neiderfüllte Margo aus dem Rampenlicht – bis sie selbst in die Mühlen des Sowbiz gerät und ihr ein Mann bescheidet: „Du bist jetzt mein Eigentum“.
Gillian Anderson lebt seit dem Ende der X-Akten in London, und alle paar Jahre, wenn sie Lust drauf hat, steht sie auf einer Bühne im Westend. Wie sehr sie Lust auf die Rolle der Margo hat, merkt man ihrem Spiel deutlich an. Sie ist diese Grande Dame, die Diva, die sich jüngere Männer hält und deren Welt abseits der Bühne aus Intrigen, Seidenkleidern und Gin Tonic besteht.
In beeindruckenden Szenen bringt Anderson auf den Punkt rüber, das ihre neidische und eifersüchtige Margo ein Produkt eines erbarmungslosen Kults um Jugend und Eitelkeit ist. Echt, diese Performance ist ein Knaller. Als Agent Scully war Gillian Anderson oft nur Sidekick von Mulder, aber hier beherrscht die zierliche Frau mit ihrer Präsenz die gesamte Bühne. Ein Glücksfall, denn eigentlich sollte Cate Blanchett in dieser Produktion die Margo Channing spielen. In der Vorlage, einem Schwarz-Weißfilm aus den 50ern, wurde die Rolle übrigens von Bette Davis verkörpert.
Lily James (Cinderella, Mamma Mia! Here we go again, Baby Driver, Stolz und Vorurteil und Zombies) steht dem Spiel Andersons zum Glück in nichts nach und gibt das Mädchen vom Lande mit einer zugleich naiven wie sinistren Note.
Dass das Stück mit Videoprojektionen angereichert ist, ist der eigentliche Gag dieser Produktion. Immer wieder sieht man über der Bühne Aufnahmen von Kameras, die entweder die Gesichter der Protagonistinnen im Closeup zeigen, zu anderen Orten schalten oder in Räume hineinsehen, die auf der Bühne zwar vorhanden, aber für die Zuschauer nicht einsehbar sind. Das erlaubt Handlungssprünge, aber auch subtiles Spiel oder Einblicke in die Gedankenwelt der Darstellerinnen. In einer Szene etwa seht man Gillian Anderson in Großaufnahme, wie sie sich selbst im Spiegel sieht. Zunächst normal, dann schaltet das Videobild in ihre Gedankenwelt um. Falten werden tiefer, Augenringe dunkler, bis man als Zuschauer begreift, das Margo sich in diesem Moment als uralte Frau sieht.

Sehr clevere Produktion mit einem großartigen Cast. Verantwortlich für die melancholische Musik: PJ Harvey.
Hamilton [Victoria Palace Theatre]
Alexander Hamilton dient im amerikanischen Unabhängigkeitskrieg unter George Washington, nach dem Krieg ist er Mitglied im ersten Kongress. Er schreibt maßgeblich an der Verfassung der USA, erfindet das System der politischen Ökonomie und wird Finanzminister, bis er bei einem dummen Duell mit einem Rechtsanwaltskollegen stirbt.
Das Musical erzählt die Lebensgeschichte von Hamilton fast ausschließlich über HipHop und R&B-Szenen. Acht Jahre lang hat der Musiker Lin Manuel Miranda daran gearbeitet, und das fertige Werk wurde mit Auszeichnungen und Lob überhäuft. „Hamilton“ gilt als heißeste Musicalproduktion der letzten Jahre. Ich frage mich nur: Warum eigentlich?
Darauf habe ich ehrlich gesagt keine Antwort, denn das Stück ist einfach nicht gut. Die Geschichte ist ein laufendes Klischee, fast alle Texte sind zum Fremdschämen dumm und plakativ, die Musik völlig beliebig, die Choreographien hat wohl irgendwer in der Mittagspause durchtelefoniert und selbst das Bühnenbild grenzt an Arbeitsverweigerung. Miranda sagte mal in einem Interview, er habe acht Jahre gebraucht, weil ihm nichts eingefallen ist. Man mag glauben, dass das bis zur Abgabe so geblieben ist.
Harry Potter and the cursed Child [Palace Theatre]
Neunzehn Jahre nach dem Ende von „Harry Potter und die Heiligtümer des Todes“: Harry arbeitet als Chef der Strafverfolgung im Ministerium für Zauberei, als sein Sohn in Hogwarts eingschult wird. Albus Severus Potter hat allerdings unter den Erwartungen, die sein berühmter Name hervorruft, schwer zu leiden. Ähnlich geht es Scorpius Malfoy, der es nicht schafft, sich von den Sünden seiner Väter zu befreien. Zusammen beschließen die beiden, etwas unfassbar Dummes zu tun – was erst Harry, Hermine und Ron wieder zusammenbringt und dann die ganze Welt für immer verändert.
Nach dem Theaterbesuch bekommt man eine Videobotschaft von J.K. Rowlings zugeschickt. „Du hast jetzt das Theaterstück gesehen und wurdest von ihm verzaubert. Bitte gönne dieses Erlebnis auch anderen und bewahre das Geheimnis“, sagt sie darin. Also bewahre ich das Geheimnis und schreibe jetzt nichts weiter über den Inhalt des Stücks, sondern nur, dass es mich völlig aus den Socken gehauen hat. Sowohl was die Geschichte als auch die Inszenierung angeht.
Die Geschichte ist absolut Potter-würdig und steht denen der Bücher in nichts nach. Dabei ist sie gespickt mit unerwarteten Wendungen und WTF-Momenten, die mich zurückließen zwischen „Was habe ich da gerade gesehen??!“ und „Das machen die doch jetzt nicht wirklich!“. Doch, machen sie. Durch die Wendungen wird es nie langweilig, obwohl das Stück rund 5 Stunden lang ist und man es in zwei Besuchen (entweder beide am gleichen oder an zwei aufeinander folgendenden Tagen) sehen muss.
Auch diese Art der Inszenierung habe ich noch nie gesehen. Das Stück ist sehr schnell, alle paar Minuten findet ein Szenenwechsel statt. Nahezu alle Szenen sind mit entweder Atmo unterlegt (Zuggeräusche am Bahnhof u.ä.) oder mit Musik (verantwortlich dafür: Imogen Heap). Gesungen und getanzt wird hier aber praktisch nicht, dafür gezaubert. Wirklich, dieses Theaterstück ist zur Hälfte auch eine Zaubershow, und eine gute noch dazu. Menschen verschwinden, wenn sie Portschlüssel berühren, Zauberstäbe spucken Feuer und manchmal setzt die Gravitation aus.
Die Technik trägt natürlich maßgeblich zur fantastischen Atmosphäre bei. Die Bühne verwandelt sich ständig. Mal ist sie ein Bahnhof, in der nächsten Szene ein Wald, in der übernächsten ein See. Und manchmal passieren völlig absurde Dinge, die durch Techniken wie hochmodernes 3D-Mapping oder traditionelles Schattenspiel möglich werden. Und unerwartet verändert sich sogar der Zuschauerraum und das Foyer, um zwischen Teil 1 und 2 einen der wildesten Cliffhanger zu produzieren, den man sich vorstellen kann.
In der Summe: Wow. Einfach nur: Wow. Wenn das Ding nach Hamburg kommt, werde ich mich wieder um Karten bemühen.
[Fortsetzung folgt]
Oha, das macht richtig Lust sich die Odyssee des Kartenkaufs anzutun… Das Stück habe ich gelesen, dabei geht in dem Fall natürlich viel verloren, Spaß hat es dennoch gemacht. Ich werde es auf dem Radar behalten. 🙂
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Ich weiß gar nicht ob ich mir Gillian Anderson für eine weitere Staffel Akte X zurück wünschen würde. Was auch passiert, in Deutschland wird es nie mehr dasselbe sein … und andere Produtionen mit ihr auch nicht. *schnüff*
https://www.rbb24.de/kultur/beitrag/2019/02/synchornsprecherin-franziska-pigulla-tot-berlin-scully.html
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Ach, einen habe ich da noch, weißt du ob „Harry Potter and the cursed Child“ in Hamburg im Original oder übersetzt gebracht werden soll? Reizen tut mich das schon, aber nach London verschwinden ist mit (bzw. dann ohne) Familie ja doch auch nicht drin (für eine Theatervorstellung).
Das in London immer wieder geile Sachen passieren hatte ich Neujahr eher zufällig wahrgenommen als ich auf 3Sat (?) in die Inner-Sanctum-Show der Pet Shop Boys aus dem Royal Opera House zappte (war tatsächlich eine TV Premiere und wird erst im April zum Kauf erscheinen).
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Kalesco: Unbedingt. Ich glaube, wenn man es nur als Drehbuch liest, wirkt es nur wenig.
DL650R: Ja, Franziska Pigulla wird fehlen. Schon in den letzten Produktionen mit Anderson (Sexeducation, The Fall) wirkt die andere Stimme seltsam, auch wenn sie eher der Originalstimme entspricht. Akt X möchte man aber sowieso nie wieder gucken, gott, waren die letzten Staffeln schlecht.
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Hm, ich fand gar nicht unbedingt, dass die letzten Staffeln Akte X so schlecht waren, dass sie nicht hätten produziert werden sollen.
Es war eher so, dass sich die Qualität gedreht hatte: Früher waren die Folgen des übergreifenden Handlungsbogens gut und die Monster-der-Woche-Folgen eher schlechter und in den letzten Staffeln war es umgekehrt. Leider wurde bei den wenigen Folgen dann aber mehr auf den übergreifenden Handlungsbogen gesetzt, was die gesamte Staffel nicht so toll erscheinen lässt.
Oder um es kurz zu sagen „Mulder and Scully Meet the Were-Monster“ aus Staffel 10 und „Rm9sbG93ZXJz“ aus Staffel 11 waren es wert noch mal eingeschaltet zu haben. Sind aber auch die einzigen Folgen, die beim wiederholten schauen noch besser werden.
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