Reisetagebuch 2019 (5): Harry Potter vs. The Avengers
Im Februar 2019 steht der Brexit wieder mal ganz kurz bevor. Herr Silencer macht sich auf, das Unvereinigte Königreich ein letztes Mal zu besuchen, bevor sich alles in rauchende Ruinen verwandelt. Dies ist das Tagebuch der “Last Chance to See”-Tour. Heute gibt es den Rest von einer Woche London. Mit dabei: Harry Potter, Hamilton, die Avengers und Chris.
Mittwoch, 06. Februar 2019, London
Die Nächte sind gerade etwas kurz. Ich koste Londons Kultur- und Unterhaltungsangebot bis zur Neige aus und gebe mir die volle Dröhnung: Jeden Abend ein Theater- oder Musicalbesuch.
Wenn ich davon gegen 23:00 Uhr nach Hause komme, bin ich so aufgekratzt, dass ich noch bis fast halb zwei irgendwas machen muss um runterzukommen. Zum Beispiel Reisetaschenreviews zum Sojourn studieren oder die britische Version von Frauentausch gucken.
Heute Morgen schlafe ich etwas länger und stehe erst gegen 8:30 auf. Dann fahre ich in die Stadt, zum Picadilly Square. Etwas die Shaftesbury Avenue hoch steht ein riesige Backsteinbau, der fast ein wenig wie eine Burg wirkt. Der absolut passende Ort, um den achten Teil von Harry Potter aufzuführen!
Moment mal, den ACHTEN Teil? Es gibt doch nur sieben Bücher! Ja, das stimmt. Aber es gibt wirklich einen achten Teil, der 19 Jahre nach dem Ende des letzten Buchs spielt. Diesen achten Teil gibt es aber nur als Theaterstück, und das wird gerade nur hier, im Palace-Theatre, gespielt. Das ist so, als ob es einen neuen Star Wars-Film gäbe, der nur in einem Kino auf der ganzen Welt gezeigt wird. Dementsprechend schwer ist es, an die Karten zu kommen. Meine habe ich im April 2018 gebucht, was gar nicht so einfach war. Dass das Theaterstück so lang ist, dass man zwei Vorstellungen besuchen muss um alles zu sehen, macht die Sache weder einfacher noch billiger. Fast 400 Euro haben mich die Karten gekostet, und als mir der Portier die Eintrittskarten überreicht, nehme ich die mit einem Anflug von Ehrfurcht entgegen.
So, das Wichtigste ist erledigt, jetzt gibt es Frühstück. Ich fahre zur North Gowern Street und frühstücke bei Speedys. Das kleine Café ist gerammelt voll, aber routiniert und schnell arbeiten Besitzer Chris und seine Helferinnen die Bestellungen ab.
Ich mag das Café, in dem so selbstverständlich einheimische Müllmänner neben staunenden Touristinnen aus Japan frühstücken, die es noch gar nicht glauben können, in einer Kulisse aus “Sherlock” zu sitzen.
Nach ein wenig Shopseeing fahre ich zurück zum Palace Theatre. Bereits eine Stunde vor der Vorstellung reicht die Schlange einmal um den Block. Viele Besucher sind kostümiert, von vollem Cosplay bis zum unauffällig getragenen Gryffindor-Schal ist alles dabei.
Zum Glück geht die Taschenkontrolle schnell (das Wiesel ist kein Harry-Potter-Fan und heute Morgen auf eigene Faust losgezogen), dann bin ich drin. Das altehrwürdige Gebäude hat seinen ganz eigenen Zauber und wirkt für sich schon wie eine andere Welt.
Auf B23, leicht links auf der zweiten Reihe des ersten Balkons, habe ich wirklich den perfekten Platz. Eine Reihe weiter vorne im Dress Circle wäre vermutlich ein Beleuchtungshalter im Weg gewesen. So sitze ich praktisch mitten im Geschehen und kann aus ziemlicher Nähe von schräg oben auf die Bühne sehen. Lediglich eine chinesische Kleinfamilie nervt mich ein wenig, weil deren Kinder permanent rumhampeln und sich über die Brüstung hängen. Aber wenigstens spielt hier niemand an seinem Handy rum.
Nach drei Stunden endet Teil 1 mit einem der krassesten Cliffhanger, die ich je gehen habe. Nun sind drei Stunden Pause. Ich nutze die Zeit und schlendere in die Oxford Street und besuche Hemleys, das weltbeste Spielzeuggeschäft.
Hier wird gespielt, an jeder Ecke, und das verzaubert nicht nur die Kinder. Wie immer ist die Deko einfach Märchenhaft – von Star Wars bis Lego, von Schleich bis zu fliegenden Schweinen und Regenbogen-Poop ist alles dabei.
Um 19:30 Uhr geht es weiter mit HP-Stück, dass sich als schlicht der Wahnsinn entpuppt. Irre Effekte, sehr schnell inszeniert – in den insgesamt sechs Stunden kommt keine Langeweile auf. Zusammengefasst könnte man sagen: Eine Mischung aus Zaubershow und Theaterstück, das als Kernthema die Qual behandelt, erwachsen zu werden und die Schmerzen, Vater zu sein. Dabei strotzt das Ganze vor tollen Ideen. Die Lösung für das große Geheimnis ist am Ende sogar Hidden in Plain Sight, überall um das Publikum herum – man weiß es nur nicht.
Doch, das war magisch. Nach dem Theaterbesuch bekommt man per Mail eine Videobotschaft von J.K. Rowlings zugeschickt. „Du hast jetzt das Theaterstück gesehen und wurdest von ihm verzaubert. Bitte gönne dieses Erlebnis auch anderen und bewahre das Geheimnis“, sagt sie darin. Also bewahre ich das Geheimnis und schreibe jetzt nichts weiter über den Inhalt des Stücks. Demnächst gibt es Ableger des Theaterstücks in New York, Melbourne und Hamburg. Der Besuch lohnt sich.
Donnerstag, 07. Februar 2019, London
Frühstück bei Speedys, dann laufe ich ein wenig in Camden herum. Ist erstaunlich ruhig heute. Ohne die Menschenmassen fällt erst einmal auf, wie klein Londons größter Flohmarkt eigentlich ist.
Außerdem fällt mir zum ersten Mal auf, wie die Geldautomaten hier beklebt sind. Mit Songtexten, in denen es um Geld geht. Das ist so doof, das es schon wieder cool ist, und ich muss schmunzeln.
Dann schaue ich in Westminster vorbei. Das Herz des Empire ist eine Bruchbude, und gerade wird der Uhrenturm renoviert. Mit dem Brexit erlebt das Unvereinigte Königreich seine dunkelsten Stunden, und nicht mal Big Ben schlägt. Selbst im Krieg hat diese Glocke den Londonern Kraft und Zuversicht gespendet. Jetzt schweigt sie.
Auch Churchill guckt grimmig, während ihm eine Möwe auf den Kopf kackt.
Am Buckingham Palast vorbei schlendere ich zum Victoria Palace Theatre.
Das hier ist übrigens “Little Ben”.
Im Victoria Palace läuft “Hamilton”, ein Hip-Hop-Musical über den amerikanischen Gründungsvater. Etwas Konfusion gibt es vor der Vorstellung, weil für die Sitzplätze neben mir gleich zwei Personen die gleichen Karten haben. Bis sich rausstellt, dass ein älteres Ehepaar sich im Monat vertan hat. Die haben Karten für den 07.03., nicht den 07.02.
Das Stück begeistert mich nicht. Keine Ahnung, warum das so abgefeiert wird – ich finde es bis an die Grenze zur Arbeitsverweigerung schlecht.
Kaum ist die Vorstellung vorbei, sitze ich schon wieder in der U-Bahn und fahre bis zum Prince Edwards Theatre. Dort gibt es “Aladdin”.
Das ist nett, aber für Kinder. Lachen muss ich nur, als der Flaschengeist auf die Frage nach seiner Herkunft antwortet: “Aus Wakanda!”
Freitag, 08. Februar 2019, London
Um 10 uhr bin ich am London eXcel, einer Messehalle weit im Osten von London. Hier bin ich falsch – eine Station weiter wäre richtig gewesen, so laufe ich durch einen veritablen Sturm und Nieselregen bis zum richtigen Ort.
Der richtige Ort, dass ist die Avengers S.T.A.T.I.O.N.
Die Abkürzung für SCIENCE TRAINING AND TACTICAL INTELLIGENCE OPERATIVE NETWORK. Hier rekturitiert Shield neue Agenten… oder so wird es mir zumindest erzählt, in einer Aufzeichnung eines Missionbriefings mit Maria Hill. Dann öffnet sich der Vorraum, und gibt den Weg frei zu einer Ausstellung von Requisiten aus den Marvel-Filmen. Iron-Men Rüstungen stehen hier rum, in einem Kinekt-Spiel kann man auch direkt eine Rüstung steuern.
Am Interessantesten sind die Gespräche mit Michael. Er ist Wachmann in der Ausstellung und außerdem Comicfan, und er hat sichtlich Freude daran, mit jemandem zu Fachsimpleln, der älter als 8 Jahre ist. “Sieht alles so echt aus, oder? Und sie haben die ganze Wissenschaft dahinter auch erfunden, man!”
Wenn ich schon weit im Osten bin, kann ich auch in Greenwich vorbeigucken. Es stürmt und regnet immer noch, aber jetzt schaffe ich es endlich ins Naval Museum.
In dem großen Gebäude haben die Engländer alles reingepackt, was irgendwie mit Meer und Schiffahrt zu tun hat, von Admirial Nelson Uniform bis hin zu ganzen Booten.
Selbst Percy steht hier, der Pinguin, den Captain Robert Falcon von seiner ersten Südpolexpedition 1901 mitgebracht hat. Pinguine faszinierten damals die Forscher, die glaubten, in ihnen den Missing Link zwischen Dinosauriern und Vögeln gefunden zu haben.
Lustig: Kinder von heute schreiben auf, wann sie sich niedergeschlagen fühlen. Eines schreibt: “Wenn der Google Maps Server down ist”.
Da alles sehr kinderfreundlich und der Eintritt kostenlos ist, ist hier alles voller Familien. Die Mütter sitzen am Rand des überdachten Innenhofs, während die Kids Spielzeugschiffe über eine turnhallengroße Weltkarte schieben. Der Schmerz um das verlorene Empire, hier wird er vererbt.
Auf dem Rückweg fällt mir auf, dass die Cutty Sark, die Gallionsfigur des gleichnamigen Schiffs, fort ist.
Man Man man… Nächsten Monat tritt UK aus der EU aus, und schon hat der Exodus begonnen. Die Cutty Sark ist vermutlich geflüchtet, und Big Ben schlägt wahrscheinlich deswegen nicht mehr, weil er von der Insel evakuiert wurde.
Ich laufe noch ein wenig durch Greenwich und dann unter der Themse zurück nach London.
Ich bin in Gedanken versunken. Das war sie also, mein letzter Besuch in UK vor dem Brexit. Dafür, dass der in wenigen Wochen stattfindet, ist hier alles noch erstaunlich unaufgeregt. Auf den Titelblättern der Zeitungen findet sich Berichterstattung über Affären der Royals, der Brexit ist nur auf Fachzeitungen für Wirtschaft mal Thema. In meinen Augen steuert die Insel auf eine Katastrophe zu, aber irgendwie scheinen das alle zu ignorieren, nach dem Motto “wird schon irgendwie weitergehen”.
Dabei geht es vielen jetzt schon nicht gut. Überall in den Randlagen sehe ich leer stehende Geschäfte, und manche Cafés in der Nähe von Krankenhäusern bieten aus Mitleid dem unterbezahlten Pflegepersonal kostenlosen Kaffee und Rabatt auf Mittagessen an. Und das, während in Westminster die Adlige und Erben von Zeitungsverlagen darüber diskutieren, wie der Brexit England wieder zu einer stolzen Nation machen wird. Als ob man Stolz essen könnte. Echt, wie im Mittelalter.
Ich laufe noch ein wenig durch die Straßen, dann geht es ein letztes Mal ins Theater. Im winzigen Donmar Warehouse schaue ich das skurrile “Berberian Sound Studio”, ein Stück mit Gruseleinlagen.
Auf dem Rückweg vom Theater besuche ich noch einen alten Bekannten im Bahnhof Paddington und verabschiede mich von ihm.
Mach´s gut, Paddington. Wir sehen uns hoffentlich nach dem Brexit wieder. Halt die Ohren steif, kleiner Bär.
Mal gucken, in welcher Verfassung die Stadt bei meinem nächsten Besuch sein wird.
Das war jetzt eine Woche Kultur in hoher Konzentration. Besuche in Cambridge und Oxford, jeden Tag mindestens ein Theaterstück der Musical, dazwischen Besuche in Museen und Shopping. Ich habe einen echten Arthus-Dent-Morgenmantel im Gepäck, wenn ich morgen früh mit der Bahn zurück nach Deutschland fahre.
………
Und damit schließt sich das Reisetagebuch für eine Sommerpause. Allen Leserinnen und Lesern herzlichen Dank für´s Mitreisen!
3 Gedanken zu „Reisetagebuch 2019 (5): Harry Potter vs. The Avengers“
Herzlichen Dank für´s Mitnehmen 🙂
Ob das Drama mit Boris jetzt zu seinem letzten Akt startet? Es bleibt spannend, hüben wie drüben… ?
@Kradblat: Oh ja. Ich hole mitlerweile immer nur noch das Popcorn raus. Eine solche Selbstzerlegung hat man noch nie gesehen.