Dora-Besuch

Dora-Besuch

Der Körper leistet schwache Gegenwehr mit dem Einwand “Aber… es ist doch Sonntag!”. Bringt aber nix. Das Hirn ist voller Gedanken, und schon ist es vorbei mit dem Ausschlafen.

Ich bleibe noch einen Moment im Bett liegen, dann halte ich es nicht mehr aus. Jetzt sind die Gedanken an die Arbeit da und kreisen durch das Bewusstsein. Um kurz nach Sieben stehe ich mit einem Kaffeebecher in der Hand am Fenster des Arbeitszimmers und blicke über das noch schlafende Dorf. Ein wunderschöner Sommermorgen, bratzende Sonne, knallblauer Himmel.

Im Kopf: Zu viel Arbeit.
Im Herzen: Fernweh.
In jeder Faser: Motorradsehnsucht.

Plötzlich der Gedanke: Ich könnte mal wieder Dora besuchen.

Habe ich zuletzt vor 10 Jahren gemacht.

Rasch werfe ich mich in die Motorradklamotten und gehe die Treppen zur Garage hinab, die unter dem Haus im Berg liegt. Ich habe den Luxus der Wahl. Die schnelle, sportliche ZZR600? Mit der bin ich dieses Jahr bislang viel zu wenig gefahren.

Nein, ich kann der V-Strom heute nicht widerstehen. Die Maschine liegt seit letzter Woche höher und trägt jetzt wieder Hauptständer und Motorschutz, und ich bin neugierig, wie sie sich jetzt fährt.

Kurze Zeit später rollt die Suzuki in Richtung Harz los. Es geht über die Bundesstraße, breit, gut ausgebaut, übersichtlich. Folgerichtig wird die hier von den ganzen Eichsfeldern als Rennstrecke genutzt. Jede Woche gibt es hier mindestens einen tödlichen Unfall, deshalb bin ich doppelt aufmerksam.

Bräuchte ich aber gar nicht sein, Sonntag morgens um kurz nach Acht ist hier nichts los. Ich passiere den Ort mit der Fleischerei, die an der Hauptstraße mit dem Plakat “Frisches Mett ab 05:30 Uhr!” wirbt. Hier im Eichsfeld setzt man eigene Prioritäten. Wenn das mit dem nicht-schlafen-können mal schlimmer wird, werde ich mich mitten in der Nacht in die tröstenden Arme von frischem Mett begeben können.

Kurzer Stopp an der Tankstelle, an der spätestens um 10 Uhr Männer Mitte Dreißig bis Mitte Fünfzig mit dicken Audis und Ford Mustangs stehen werden. Früher saß Mann auf dem Dorf am Sonntag Morgen beim Frühschoppen an Stammtischen, heute stehen sie in Wagenburgen zusammen. Wie ungemütlich.

Ich mag die Leute hier nicht besonders. Ich habe hier mal gewohnt, und normalerweise bin ich im Arbeitermilieu eher zu Hause als in Akademiker- oder Schicki-Micki-Kreisen. Aber hier tragen viele Menschen ihr eher simples Gemüt und ihre tunnelenge Weltsicht mit großer Aggression vor sich her, und das ist eine Kombination, die ich nicht leiden kann.

Die Barocca brummt durch Herzberg, dann durch Siebertal. Sonne flutet durch das enge Tal mit den Fichtenbedeckten Bergflanken. Die Luft ist feucht. Jetzt sind wir mitten im Harz.

Meine Güte, läuft die Kiste gut! Die Werkstatt hat sich selbst übertroffen, mit den neuen Einstellungen hat der bollerige V-Zweizylinder fast sowas wie Laufkultur. Wirklich, der läuft wesentlich geschmeidiger als vorher. Der neue Motorschutz macht auch keine Geräusche. Nachdem ich bei der Demontage gesehen habe, dass das anfänglich nervende Geklapper und Geklingel daher kam, dass der Auspuff sich in die Schutzplatte reinvirbriert hat, sind jetzt Abstandshalter verbaut. Die bringen es, jetzt ist der Motor geschützt und nichts macht Geräusche.

Es geht auf St. Andreasberg zu. Die Straßen hier sind extrem schlecht, die kleinen Orte stellenweise in erbärmlichem Zustand. Hier stehen viele Fachwerkhäuser, oft in beklagenswerten Zustand. Traditionell wird hier die Wetterseite mit Schiefer verkleidet. Viele Häuser haben den in den 60ern durch Eternit ersetzt. Das sieht nicht nur hässlich aus. Um das Asbestkram zu entsorgen, muss man auch richtig Geld auf den Tisch legen. Wer sollte das machen? Die Alten tun es nicht mehr, und junge Leute ziehen hier weg.

Es war immer mein Traum, mal auf dem Dorf ein altes Haus wieder her zu richten und dort zu arbeiten, dank Internet sollte das ja in wenigen Jahren möglich sein. Dachte ich, damals, in den Neunzigern. Aber Internet in Deutschland, damit tut sich die Politik bis heute schwer, und diese fehlende Infrastruktur vertreibt die Leute aus dem ländlichen Raum. Zurück bleiben verfallende Orte.

Von St. Andreasberg geht es nach Braunlage. Zwischendurch scheuche ich die V-Strom über Schotterwege. Dort übe ich stoppen, absteigen, rangieren, wenden. Alles ungewohnt, so hoch wie die Maschine jetzt steht. Es geht, aber sie im tiefen Schotter vom Seitenständer hochzukriegen ist schon ein kippeliger Kraftakt.

Man merkt, wenn man im Harz die ehemalige Zonengrenze quert. Nicht nur wegen der Schilder (“Hier war Deutschland bis zum 09.11.1989 geteilt”), sondern auch, weil im Osten schlagartig die Straßen viel, viel besser werden.

Nordhausen liegt im Morgenlicht. Der Ort am Südharz ist schon wach. Kein Wunder, jetzt ist es halb 11.

Ich ziehe die Barocca auf eine kopfsteingepflasterte Straße und rolle aus Nordhausen heraus. Rechts liegt ein Wald und eine Bergkette, die Landschaft links wirkt wie ein Park. vereinzelt stehen Trauerweiden und Birken auf einer kurz gemähten Wiese, die Straße führt in weiten Schwüngen dort hindurch.

Seltsam ruhig wirkt das hier, fast entrückt.

Das hier ist Dora.

Ich stelle die V-Strom auf den Besucherparkplatz und sehe mich um.

Das letzt Mal war ich vor 10 Jahren hier, im Februar. Damals lag alles unter einer dicken, unberührten Schneeschicht. Das war seltsam, weil es diesen Ort so friedlich und harmonisch und still scheinen ließ. Aber diesen Eindruck habe ich aber auch jetzt. Auch ohne Schnee wirkt es hier seltsam still. Die Hügel sind grasbedeckt und sanft geschwungen, und das Besucherzentrum fügt sich harmonisch in die Landschaft ein.

Im Inneren gibt es eine kleine Ausstellung. Nur ein Raum, aber der hat es in sich. Er stellt Täter und Opfer vor. Täter, das waren Menschen wie der Wissenschaftler Wernher von Braun und der Rüstungsminister Albrecht Speer.

Opfer, das waren Menschen aus 40 Nationen, die hier her verschleppt wurden. Viele davon politisch verfolgte aus Frankreich, wie der rote Winkel mit dem F auf dieser Sträflingsuniform zeigt.

Täter, das waren auch die Menschen, die es abfeierten, wie die Nationalsozialisten durchgriffen. Normale Bürger, die von der Demokratie genug hatten, die wollten, dass es “denen da oben” und “den Ausländern” und “den Juden” an den Kragen ging, denn DIE waren Schuld.

Es waren ganz normale Bürger. Besorgte, wütende Bürger, die aus Protest NSDAP wählten.

Sie profitierten vom KZ, die normalen Bürger und besonders die Unternehmen. Das KZ Dora wurde erst 1943 eingerichtet, ein KZ der vierten Phase, gedacht als Arbeitslager für die Mittelbau-Rüstungswerke. Hier konnten Unternehmen aus der Umgebung Arbeitskräfte leihen, und das taten sie auch.

Wie die damals drauf waren, zeigt u.a. das folgende Schriftstück. Darin beschwert sich ein Unternehmer, dass die Arbeiter nicht gut genug seien, droht dem Lagerkommandanten, dass das für “Unternehmer untragbar” sei und er “den augenblicklichen Zustand der Minderleistung) nicht länger dulde”. Er fordert einen Arbeitsakkord und schließt mit “Heil Hitler!”

Dora hatte Außenstellen im ganzen Südharz. In nahezu jedem Ort waren Häftlinge untergebracht. Auf einer Karte sind die Orte markiert, selbst Tettenborn hatte ein Außenlager.

Ich schließe mich der Führung von Herrn Mehlmann an.

Der Rentner macht das hier ehrenamtlich und erzählt eindringlich. Er führt die Gruppe erst über einen großen Platz. Alles aus der DDR-Zeit, früher standen hier Baracken für die Häftlinge. Drum herum ein drei Meter hoher, doppelter Elektrozaun. Versuchte hier jemand zu entkommen, wurde er von der SS und der Bevölkerung gejagt, denn die Lagerleitung hatte mit 5.000 Reichsmark ein so hohes Kopfgeld ausgesetzt, dass selbst Alte und Kinder aus Nordhausen sich an der Menschenjagd beteiligten.

Links die Baracken, die später gebaut wurden, rechts der Bahnhof, im Norden der Berg mit der bombensicheren Fabrik.

Wurden Flüchtige wieder eingefangen, bekamen sie ein Schild um den Hals mit der Aufschrift “Hurra, ich bin wieder da!” und wurden zur Musik einer Marschkapelle ein Mal durch das Lager geführt, um dann öffentlich gehängt zu werden.

Dann führt uns Herr Mehlmann in den Berg.

Dora, so sagt er, sei als ein Codename ohne Bezug zu irgendwas gewählt worden. Der Ort wurde aber ganz bewusst ausgesucht. Deutschland hatte 1943 die Lufthoheit über das eigene Gebiet verloren. Die Alliierten hatten die Raketenwerke in Peenemünde an der Ostsee bombardiert, die Zeppelinwerften in Ludwigshafen Friedrichshafen (Korrigiert mit dank an M. Teichmann) und die Flugzeugwerke in der Wiener Neustadt.

Bei Nordhausen existierte im Berg ein großes Treibstofflager, bombensicher (ja, daher kommt der Ausdruck) in festem Gestein gelegen. Schnell schaffte man 1943 die Überreste der Werke aus Peenemünde und Friedrichshafen nach Nordhausen.

Zehntausende Häftlinge aus dem KZ Buchenwald mussten im Berg Stollen bauen, unter mörderischen Bedingungen: Im Berg ist es immer 8 Grad kalt und dazu nass, die meisten Häftlinge hatten nicht mal Schuhe. Lüftung oder Toiletten gab es nicht, Nahrung meist auch nicht. Anfangs mussten die Häftlinge auch in den Stollen schlafen, die Baracken vor dem Berg wurden erst später gebaut.

Sechs bis acht Wochen, länger hielt kaum jemand durch. Die Gefangenen starben wie die Fliegen. Es gab anfangs kein Krematorium, weshalb sich die Leichen links und rechts an den Eingängen stapelten, bis sie wieder nach Buchenwald zur Verbrennung gebracht wurden.

In den fertigen Stollen richtete man im Berg eine Fabrik ein, die größte unterirdische Fabrik der Welt. Dort wurde erst die Rakete V2 produziert, dann die V1, dann für die Junckers Flugzeugwerke. Manche Stollen waren drei Stockwerke hoch, über 20 Meter, so dass die Raketen aufrecht darin stehen konnten. Insgesamt ist das Stollensystem wie eine Leiter angeordnet und zusammen 15 Kilometer lang, mit einer Grundfläche von 100.000 Quadrameter, was 20 Fußballfeldern entspricht.

Ein Modell der Stollen aus Edelstahl hängt frei im Raum:

In zwei 12-Stunden-Schichten bauten hier Häftlinge, die von Braun anfangs noch von Hand in Buchenwald verlas, Waffen, die gegen ihre Länder eingesetzt wurden. Es gab immer wieder Sabotageversuche, aber die SS hatte Maulwürfe unter den Arbeitern. Wenn entdeckt wurde, das jemand Schweißnähte zu dünn setzte, Flansche nicht fest genug anzog oder sogar in die Steuerelektronik uriniert wurde, wurde die Person sofort erhängt.

Der ganze Berg wurde von Halle aus mit Strom versorgt und war taghell ausgeleuchtet. 3.500 Drehbänke liefen ununterbrochen.

Heute liegen die wenigen für Besucher geöffneten Stollen voller Teile von V1 und V2. Auf Holzstegen läuft man über die Schutthalden, zwischen denen das Grundwasser schwappt. Es ist feucht und kalt und Dunkel, und trotz der Größe der Anlage fühlt sich das hier eng und beklemmend an.

In nur eineinhalb Jahren wurden im KZ Mittelbau Dora 60.000 Menschen für Arbeiten eingesetzt. Mehr als 20.000 starben hier im Berg. Als die Alliierten vorrückten, wurden die verbliebenen Häftlinge auf einen Todesmarsch geschickt, den nur 4.000 überlebten.

Als am 11. April 1945 US-Truppen das Lager befreiten, fanden sie nur noch wenige, extrem geschwächte Häftlinge vor. Unterlagen waren vernichtet worden, aber das war egal: Die Amerikaner wussten, was hier getan wurde. Und sie handelten schnell, denn bei der Jalta-Konferenz, bei der Deutschland vor Kriegsende schon aufgeteilt worden war, war Thüringen den Russen zugesprochen worden. Die hingen aber noch vor Berlin fest, und die Zwischenzeit nutzten die Amerikaner, um 100 fertig montierte Raketen und die Prüfgeräte aus dem Berg zu holen und ab zu transportieren. Als die Russen kamen, fanden sie nur noch Drehbänke und Einzelteile vor.

Oder halbfertiges wie diese Antriebsstufe einer V2 mit Turbopumpe.

Nach dem Krieg sollte Leuten wie von Braun oder dem Lagerkommandanten, die Mitschuld an den Geschehnissen in Nordhausen hatten, der Prozess gemacht werden, aber bekanntlich war am Ende ihr Wissen um Raketentechnik so wichtig, dass sie in den USA leben und arbeiten durften um als Antwort auf den “Sputnik” das amerikanische Raumfahrtprogramm aufzubauen.

Am Ende er Führung verlassen wir den Berg. Draußen sind 30 Grad, sofort beschlägt meine Brille.
“Wir dürfen nie vergessen”, sagt Herr Mehlmann, “das all das hier eine fast logische Folge war. Die Menschen wollten einfache Lösungen und wählten die NSDAP, die ihnen Schuldige in Form von Ausländern und Juden und Demokraten präsentierte. Dann wurden Medien erst diskreditiert und die Gerichte beeinflusst. Dann wurde Geld in Rüstung gesteckt, was dazu führte, dass die Wirtschaft brummte und die Bevölkerung zufrieden war, während die Demokratie starb und zur Diktatur wurde. Eines führte zum anderen, und Konzentrationslager sind ein logisches Glied in dieser Kette. Demokratie, unsere Grundrechte, das ist wertvoll! Und es muss jeden Tag auf´s neue verteidigt werden. Bitte denken sie daran, wenn sie zur nächsten Wahl gehen.”

Ich hätte es nicht besser sagen können.

7 Gedanken zu „Dora-Besuch

  1. Super Beitrag gegen das Vergessen.
    Das, was heute noch so selbstverständlich ist wie Werte, Freiheit und Tradition könnte durch Erstarken bestimmter Parteien arg ins Wanken geraten.
    Seit dem KZ-besuch in Dachau bin ich immer sehr berührt, wenn ich so etwas lese.

  2. Dora – ich war vor 3 Jahren da und es hat einen bleibenden Eindruck bei mir hinterlassen.
    An einem Donnerstag vormittag bin ich da alleine hin, im nachhinein betrachtet war das nicht meine beste Idee. Das Gelände war menschenleer und ich ging auf Erkundungstour.
    Stille ist dort greifbar und trotz dem ganzen Grün und dem landschaftlichen Idyll immens laut. Zumindest nach meinem Empfinden.
    Nach den ersten Beschreibungen auf den Tafeln im Gelände habe ich bei 35 Grad gefröstelt bis ich dann nach 3 Stunden wieder auf der Trümmerlotte meinen Kopf frei gemacht habe.

    Herr Mehlmann hat es mit wenigen Worten auf den Punkt gebracht und die Parallelen zu heute sind erschreckend.

  3. Leider interessiert sich die rechte Szene und deren Anhängsel (aka braunes Gesprenkel) keinen Deut für die Vergangenheit. Zumindest nicht um eine kritische Aufarbeitung dessen, was der Ösi-Depp da angezettelt hat und von seinen Schergen verbrochen wurde.

  4. Ralfi: Hast Du recht, aber es kann alle nicht-rechten Dinge lehren. Zum Beispiel: Nicht mit rechten diskutieren, denn Diskussion kann nur in einem gemeinsamen Wertesystem stattfinden. Rechte wollen das System aber kippen. Ich wäre schon froh, wenn Talkshow-Macher das begreifen würden.

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