Reisetagebuch Motorradtour 2019 (1): Schmutziger Regen

Reisetagebuch Motorradtour 2019 (1): Schmutziger Regen

Sommerreise mit dem Motorrad, einmal quer durch Europa. So zumindest der Plan. Heute soll es losgehen, aber ich stehe mir selbst im Weg. Mal wieder.

Donnerstag, 06. Juni 2019, Mumpfelhausen bei Götham

Ich sitze in langer Unterwäsche vor dem Rechner und mümmele Brötchen mit Erdbeerkonfitüre. Auf dem Bildschirm ist die aktuelle Stauprognose und das Reisewetter, denn heute soll es losgehen. Sommerreise 2019. Motorrad. Yay!

Deswegen trage ich auch schon den langen Merinozweiteiler. Ich bin kurz vor dem Abflug. Noch schnell die Kombi überwerfen, dann soll es losgehen.

Über dem Dorf stehen dunkle Wolken. Seltsam, gestern waren 32 Grad und Sonnenschein, und das war doch für heute auch angesagt? Egal, los jetzt.

Zwei Stimmen streiten, ach, in meinem Kopf, während der Rechner runterfährt und ich mich abreisefertig mache. Die eine Stimme will zum hundertsten Mal die Abreise verzögern, die andere will endlich los und Asphalt unter die Räder nehmen.

“Ist auch wirklich jedes Fenster zu?”

“Ja, hast Du doch schon kontrolliert.”

“Ich muss noch mal auf´s Klo!”

“Musst Du nicht, wir waren gerade. Da kommt kein Tropfen.”

“Sollen wir nicht nochmal nachgucken, ob der Herd auch aus ist?”

“Wie soll der denn an sein? Wir haben seit Wochen nichts gekocht, und außerdem sind die Sicherungen rausgedreht! Los, jetzt mach hin!”

Hilft ja alles nichts. Hose, Stiefel, Jacke, ein Blick zurück und…
Los geht´s.

In der Garage steht die Suzuki DL 650 V-Strom, Spitzname “Barocca”, schon fertig mit zwei Givi-Koffern und einem Topcase bepackt.

Ich kontrolliere nochmal die Halterungen der Koffer, dann lege ich ganz bewusst und Stück für Stück meine Schutzausrüstung an.

Eine leichte, aber etwas zu große Leder/Textilhose von Held trage ich bereits, darunter die lange Unterwäsche aus Merinowolle. An den Füßen sitzen schwere und brandneue Daytona-Stiefel, denen ich noch nicht ganz traue. Die sind ein wenig zu groß, zumindest im Moment. Aber die in einer Nummer kleiner haben mich neulich fast umgebracht, anscheinend schwellen meine Füße bei warmem Wetter mittlerweile heftig an. Seltsam, was der Körper sich so an Marotten ausdenkt, wenn er älter wird.

Sorgfältig klette ich die Jacke zu, deren Kalibrationslampen am Ärmel zu leuchten beginnen. Dann das Halstuch. Dann Gehörschutz. Dann der Helm. Er sitzt fester als sonst, hat letzten Winter ein neues Innenfutter bekommen. Fühlt sich seltsam an, als ich die Kinnlade herunterklappe. So, noch die Handschuhe, dann schiebe ich die V-Strom auf die Straße hinaus und schließe die Garage ab.

Ich schwinge mich in den Sattel und schalte die Elektrik ein. Sofort leuchtet das Display des Navigationsgeräts auf. Wie schön, das neue Relais für dessen Stromversorgung funktioniert. Ist gestern erst gekommen, war eine knappe Sache. Hätte das nicht geklappt, hätte ich das Garmin Zumo direkt an die Batterie anklemmen müssen.

Regentropfen fallen auf den Tank der V-Strom. Aber das wird sicher nur ein kurzes misseln sein, bestimmt gleich vorbei. Ich blicke auf den linken Unterarm, wo nun ein grünes Licht leuchtet. Das Airbagsystem meiner Jacke ist eingeschaltet und bereit.

Ich schalte den Helm ein. Die Notbremsleuchte am Hinterkopf blitzt kurz auf, dann sagt eine schleppende Stimme in meinem linken Ohr “Guten Morgen”. Mit ihrer Betonung klingt sie leicht doof, etwa so, wie man sich eine begriffsstutzige Sekretärin vorstellt. “Telefon verbunden”, sagt die Sekretärin und fügt nach kurzem Zögern hinzu “Anderes Gerät… verbunden”.

Dieses “andere Gerät” ist das Garmin Zumo 590, das sich nun ebenfalls zu Wort meldet. Vom Tonfall her selbstbewusste Businesswoman. Mit einem “Guten Morgen” oder ähnlichem Smalltalk hält sich das nicht auf. Ich höre mehrere Statustöne, als das Garmin beginnt sich mit dem Helm, den Sensoren am Motorrad und meinem Telefon zu vernetzen. Dann zieht es Informationen zu Wetter und Verkehrsmeldungen aus dem Netz und meldet schließlich Einsatzbereitschaft.

Wir Menschen neigen ohnehin dazu, Dinge oder Geräte mit antrophomorphen Charaktereigenschaften zu belegen. Die Bereitschaft zur Vermenschlichung steigt, je komplexer diese Geräte sind. Das Garmin ist sehr komplex, und durch seine Vernetzung mit Motorrad und Internet und seine begrenzte Fähigkeit, meine Vorlieben zu lernen, neige ich dazu es, es als rudenmentäre Künstliche Intelligenz zu betrachten. Deshalb nenne ich die Stimme in meinem Ohr Anna, nach dem Namen der Garmin-Sprachdatei. Anna ist meine virtuelle Copilotin und voraussichtlich die einzige deutsche Stimme, die ich in den kommenden Wochen hören werde.

“Guten Morgen, Anna. Wo fahren wir denn heute hin?”, frage ich in den Helm.

“Folgen sie der Straße bis zum Ende, dann biegen sie links ab”, höre ich im linken Ohr.

“Gut genug für mich”, sage ich und starte den Motor.

Ich gebe Gas, rolle die Dorfstraße herunter, biege links ab und bin weg.

“Folgen Sie der Straße für 145 Kilometer”, sagt Anna. Straße folgen, das kriege ich hin. 145 Kilometer, das ist die A7. Langweilig zu fahren, dichter Verkehr.

Kurz vor Kassel, ich bin nicht mal 30 Kilometer von zu Hause weg, beginnt es richtig zu regnen. Von jetzt auf gleich passiert das, plötzlich ist die ganze Autobahn voller Wasserschleier. Mist. Aber ist bestimmt gleich vorbei, ich will jetzt nicht anhalten und die Regenkombi anziehen. Wenn ich in die Kasseler Berge komme, hört es sicher auf.

Tut es natürlich nicht, es regnet weiter. Ich habe keine Membran in den Textilklamotten. Die sind nur imprägniert, das hält nicht lang und das Wasser schlägt durch. Aber ist bestimmt gleich vorbei, spätestens, wenn ich aus den Bergen raus bin. Dann hört es sicher auf.

Tut es natürlich nicht. Verdrossen sitze ich im kalten Regen, der schon durch die Ärmel der Jacke suppt.

Weiter und weiter fahre ich, denn es HÖRT JA BESTIMMT GLEICH AUF.
Tut es natürlich nicht.

Die Temperatur fällt immer weiter, am Ende zeigt das Thermometer noch 10 Grad an. Bei 10 Grad nass im Fahrtwind sitzen, das ist wirklich schweinekalt. Da kommt man schnell an Temperaturen knapp über Null dran. Ich halte auf der LKW-Spur einer Tankstelle an und reiße die Vakuumrolle mit der Regenkombi auf. Kaum habe ich mich in die hineingewunden, hört es auf zu regnen. Arschloch, betitele ich das Wetter.

Die Regenklamotten behalte ich trotzdem an, die schützen auch ein wenig gegen den Wind. 100 Kilometer weiter halte ich wieder an und ziehe noch einen Fleecepulli unter. Ich habe die Kälte wohl schon in den Knochen und friere wie ein Zitteraal.

Der Verkehr ist dicht. Deutsche Autobahn ist die Hölle. LKW liefern sich Rennen, SUV versuchen in Baustellen auf der linken Spur zu fahren und blockieren damit gleich zwei. Es ist ein Elend. Dabei ist heute nicht mal was besonderes, der Reiseverkehr zu Pfingsten beginnt erst morgen. Das hier ist der tägliche Irrsinn.

Um Frankfurt legt besagter Irrsinn nochmal eine Schippe drauf, der Verkehr wird super dicht. Langsam und vorsichtig, mit viel Abstand, fahre ich weiter.

Nach 400 Kilometern verkündet die V-Strom, dass sie nun langsam mal tanken wolle.

Ich sehe auf eine Anzeigetafel. Die nächste Tankmöglichkeit wäre… Hassloch? Nee, das will ich nie wieder hin. Da habe ich mal einen ganzen Nachmittag mit einem kaputten Mopped auf einem Parkplatz rumgestanden. Wenn die V-Strom tanken möchte, hat sie noch Sprit für 100 Kilometer. Also fahre ich weiter und tanke erst in der Nähe von Ettlingen.

Als ich das Motorrad zurück auf die Autobahn steuere, meldet sich Anna. “Biegen sie am Stopschild links ab”, sagt sie. Was? Auf der Autobahn gib es kein Stopschild. Was soll das? Ich biin noch verwirrt, als das Zumo nachlegt. “Ihr Ziel ist noch 10.296 Kilometer entfernt. Sie erreichen es in 5716 Minuten und 411 Sekunden”, rechnet Anna vor. Was?!

“Achtung, der Vorderreifen hat keine Luft mehr. Achtung, der Hinterreifen hat keine Luft mehr.”

HÄ? Oh man. Ich starte das Navi neu. “Good bye”, sagt die Stimme der Helmsektreätin, als sich das Zumo abmeldet, und es hört sich hämisch an. Als Anna nach einer halben Minute neu gestartet ist, hat sie sich wieder eingekriegt. Beide Reifen sind in Ordnung, und unser Ziel ist noch 5 Stunden und 450 Kilometer entfernt. Ja, das ist realistisch.

Jetzt ist der Verkehr so dicht, dass es manchmal nur mit Tempo 30 vorangeht. Die Luft stinkt nach Abgasen. Der Regen ist schmutzig, stelle ich fest. Eine dicke Dreckschicht bleibt auf dem Motorrad und auf mir zurück und macht die Spiegel, die Instrumente und das Helmvisier blind.

Bei Heidelberg fängt es nochmal richtig an zu kübeln. Dicke Regentropfen platschen ins Cockpit des Motorrads, auf Annas Display steht eine Schicht Wasser. Ich grummele vor mich hin. Mir ist immer noch kalt.

So geht das weiter, bis Freiburg. Dort quere ich die Grenze nach Frankreich, und schlagartig hört erst der Regen auf, dann kommt die Sonne raus. Anna hat jetzt Landstraße gerechnet. Kleine Straßen, wenig Verkehr. Was für eine Erleichterung. Die Anspannung fällt ein wenig von mir ab.

Ich halte an, ziehe die Regensachen aus und atme tief ein. Statt schmutzigem Regen und dem Gestank von Abgasen nun Sonne und der Geruch nach frisch gemähtem Gras. Hallo Frankreich, wir haben einen guten Start! Anna hat Wetterinfos aus dem Netz geholt und zeigt die grafisch an. Ich runzele die Stirn. Das Regengebiet ist nahezu exakt meiner Route gefolgt. 50 Kilometer weiter links oder rechts wäre ich trocken geblieben, so hatte ich 500 Kilometer Wasserspaß. Sollen ditte?

In der Sonne geht es weiter, durch satt grüne Landschaft und urige, typisch französische Dörfer mit kleinen Steinhäusschen mit hohen Schornsteinen. Niedlich.

Der Sonnenschein trocknet meine nassen Klamotten im Nu, und dann wird mir warm. Es ist, als ob Frankreich mit seinem guten Wetter all das kalte und dunkle vertreibt, nicht nur am Himmel. Die Kälte schwindet aus meinen Knochen und die dunklen Wolken aus meinem Kopf. Urlaubsstimmung macht sich breit. Ich mag zwar nur wenige Kilometer von Deutschland weg sein, aber hier sind Landschaft und Orte und Geschäfte anders als zu Hause und schon dadurch fühlt sich alles fremd und aufregend an.

Nach neun Stunden bin ich fast am Ziel, als es plötzlich auf einen Schotterweg geht. Der ist steil und der Schotter ganz weich, und ich muss ordentlich Gas geben um da raus zu kommen. Am Ende des Wegs liegt eine kleine Bergstraße, die auf einen Wald zu führt, und am Fuß eines Berges und noch vor dem Wald stehen einige alte Gebäude. Das ist die Domaine de Fontenelay, eine kleine Siedlung aus vier Bauernhäusern in der Nähe von Gezier-et-Fontenelay. Gottverlassene Gegend hier. Die nächste größere Stadt ist Dijon, aber die ist auch 30 Kilometer weg.

Bild: Google Maps 2019

Als die V-Strom in einer Staubwolke im Hof zu stehen kommt, springen gleich drei Hunde laut bellend um sie herum. Ja, echter Bauernhof… aber anscheinend geben sie sich Mühe, als Unterkunft Fuß zu fassen. Das man auf Gäste eingestellt ist, zeigen die sorgfältig per Hand gearbeitet Holzschilder, die überall angebracht sind. “Parking”, steht an einer Schotterfläche. “Spaßsaal” steht an einem alten Stall, hinter dessen schief in den Angeln hängender Tür ein aufblasbarer Flamingo hervorlugt. “Saloon” steht an einem alten Schuppen.

Eine junge, korpulente Frau steht in der Eingangstür des großen Wohnhauses. Sie beschimpft die Hunde, während sie zwei kleine Kinder mit dem Bein wieder in den Hauseingang schiebt, die mit großen Augen und Nuckeln in den Mündern hinter ihr hervorlugen.

Dann begrüßt sie mich mit einem Schwall französisch, den ich nicht verstehe. Ich mache bremsende Handbewegungen. “Excuse-moi, mon francais non est bien”, sage ich und will die Frau bitten langsamer zu sprechen, aber mir fällt das Wort für langsamer nicht ein. In dem Moment kommt ein alter Mann von vielleicht 70 Jahren um die Ecke gewackelt. “Laaaangsam”, sagt der alte Mann auf deutsch. “Exactement!” sage ich. Doof nur, dass die Frau das nicht verstanden hat, sie redet weiter schnellfeuerfranzösisch.

Sie zeigt mir mein Zimmer – oder besser, die Zimmer. Ich habe in den “Suites Capilots” gleich zwei Räume, die aber hintereinander liegen. In jedem Zimmer steht ein Bett.

Die Betten sind neu, alles andere ist uralt. Die Dusche liegt außerhalb und im oberen Stockwerk. ist eine ausgetretene und abgesplitterte Treppe hinauf, die Toilette liegt daneben.

Auf der gibt es jede Menge Lesestoff, von Minionbüchern bis hin zu philosophischer Literatur. Ich mache auf dem Klo nichts anderes als das, wofür es gedacht ist, aber für Kloleser ist das hier echter Service.

Sehr unheimlich: Im Treppenhaus hängt ein Brautkleid, in Pose gehalten von Fäden. Spooky.

Na gut. Ich will nur hoffen, das ich wirklich beide Räume für mich habe, und nicht noch ein Gast kommt, der das Durchgangszimmer belegt. Jetzt nur raus aus den Klamotten und eine heiße Dusche!

Tja, heiß ist das Wasser. Es ist nur zu wenig. Es tröpfelt nur. Mist.

Und vor meinem Zimmer lärmt die gesamte Familie herum, Mutter, Vater, Opa und zwei Kleinkinder.
Ach, was solls. Gehe ich halt früh ins Bett. Jetzt noch ein Restaurant zu suchen ist mir zu anstrengen. Gute Nacht.

Als ich im Bett liege, melden sich kurz nochmal die beiden Stimmen in meinem Kopf.
“Haben wir auch wirklich das Licht im Kühlschrank ausgemacht?”
“ALTER! ZUM LETZTEN MAL: DIE SICHERUNGEN SIND DRAUßEN!!!”

Schon im Halbschlaf muss ich lächeln. Ich bin so doof, manchmal.

Tour des Tages: Von Götham City nach Geziers-et-Fontenelay, 700 Kilometer, rund 9 Stunden Fahrzeit.

Karte: Google Maps 2019

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13 Gedanken zu „Reisetagebuch Motorradtour 2019 (1): Schmutziger Regen

  1. 9 Stunden Fahrzeit, davon wie viele im Regen?
    Und Foto vom Sicherungskasten machen, sehr clever!

    Ich hoffe die Reise ging dann gut gelaunt und mit bestem Wetter weiter, aber Weltuntergangsregen gehört bei dir ja eigentlich dazu.
    Danke fürs Mitnehmen!

  2. Ich freue mich, wenn ihr wieder mitlesen mögt!

    Mit “Teil 6” fängt das jetzt an, weil ich eigentlich mal das Reisetagebuch jahreweise durchnummerieren wollte, und Teil 1-5 von 2019 spielte im Februar in London. Aber ich merke gerade selber, dass das eine seltsame Idee ist.

  3. Tolle Schreibweise, teils mit Selbstironie.
    Die Wohnung bzw. Haus elektrisch lahmzulegen wg. Abwesenheit ist mir noch nie in den Sinn gekommen. Die Nachbarkinder bekommen den Schlüssel wegen Post, Zeitung und Katzen füttern. Klaubares besitze ich nicht, das Geld nehme ich ja für den Urlaub mit.

    1. Kenn’ ich auch. Electric Rider oder so ähnlich hieß der Film im Original – ein RodeoReiter, der mit vielenvielen LEDs auf dem Hemd für Furore sorgt, als er bei dämmrigem Licht durch die Gegend kreiste, spielt die Hauptrolle 😉
      Die Lamperln dienten allerdings weder dem Komfort noch seiner Sicherheit.

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