Reisetagebuch Motorradtour 2019 (6): Die schönste Straße Italiens

Reisetagebuch Motorradtour 2019 (6): Die schönste Straße Italiens

Montag, 17.06.2019, Siena

Die Morgensonne tastet sich in die verwilderte Senke hinter der Villa Allgeria vor. Es ist 05:30 Uhr

Ich springe aus dem Bett, putze mir schnell die Zähne, steige in die Motorradklamotten und trage die bereits fertig gepackten Koffer zum Motorrad, das an der Straße vor dem Haus steht.

Für Frühstück ist es zu früh, und von Cecilia und Francesco habe ich mich gestern Abend schon verabschiedet. Alles, um wirklich ganz früh los zu kommen. Der Grund: Heute habe ich einen wirklich weiten Weg vor mir. Über 500 Kilometer durch die Berge, das ist selbst für meine Verhältnisse viel. Anna prognostiziert eine Netto-Fahrzeit von 10 Stunden, da kann man dann locker nochmal zwei Stunden draufrechnen, für Verzögerungen im Betriebsablauf wie Staus oder kleine Pausen oder Fotostops.

Um 6:30 Uhr rollt die Barocca aus der Via Portogallo, fädelt auf die Landstraße Richtung Siena und biegt dann nach Osten ab.

Die Straße liegt im Morgenlicht und ist noch angenehm wenig befahren. Es ist kühl, nur um die 12 Grad, aber das wird nicht lange so bleiben.

Beim Gedanken daran, Siena zu verlassen ist mir gerade nicht wohl. Irgendwie scheint es eine schlechte und gefährliche Idee, tief in den Süden Italiens fahren zu wollen.Ich rede mir ein, dass das nur ist, weil ich bequem bin und aus meiner Komfortzone Norditalien raus komme. Gleichzeitig sehnt sich ein Teil von mir nach Neuem und Unbekannten. Ich schüttele das Gefühl ab und schelte mich selbst, das ich nicht so bequem sein soll.

Die A6 ist eine mautfreie Autobahn die von Siena aus nach Osten führt, aus der Toskana heraus und nach Umbrien bis Perugia. Die Straße wird gerade erneuert und ist abschnittsweise immer noch einspurig. In diesen Abschnitten ist Tempo 40 erlaubt, aber da hält sich natürlich keine Sau dran. Selbst mit doppelt so viel auf dem Tacho wird das Motorrad von Lastwagen oder Eulenfrauen in SUVs bedrängt, die bis auf einen halben Meter auffahren.

Bild: Google Maps 2019.

Gegen 10:00 Uhr passiere ich den Ort Terni, kurz darauf die Grenze zu den Abbruzzen und dann die Städtchen Rieti und Cittaducale. Von den Städten weiß ich, dass ich die kenne, aber auch die Straße hier kommt mir seltsam bekannt vor. Und tatsächlich, als ich an einem großen Busch vorbeikomme, der wie in die Form eines Google-Maps-Pins gestutzt ist, bin ich mir ganz sicher: Die Straße bin ich in den vergangenen Jahren schon mehr als ein Mal gefahren.

Bild: Google Earth 2019

Dann geht es um L´Aquila herum, durch das Viertel mit den Notunterkünften für die Einwohner, die beim großen Erdbeben von 2009 alles verloren haben und die jetzt, 10 Jahre später, immer noch nicht zurück dürfen.

Über eine weit geschwungene Straße kurvt die Barocca schließlich hinauf in die Berge, in das Zentralmassiv der Abruzzen.

Bild: Google Earth 2019

Am Passo Campanella liegt ein Umspannwerk und die Einfahrt zu einer Bergstraße. Seitdem ich das erste Mal hier war, vor nunmehr fünf Jahren, vermute ich, das die zu einer der schönsten Straßen Italiens gehören muss.

Leider war sie bislang jedes Mal gesperrt, angeblich wegen Straßenschäden. Die Lokalpresse spricht von Arbeitsverweigerung der Politik in Tateinheit mit Unfähigkeit. Die Straße sei gar nicht wirklich kaputt, liest man im Abruzzen-Anzeiger, sondern ein paar Dorfpolitiker fechten angeblich einen Streit aus und nehmend die Straßensperrung als Druckmittel her.

Wie auch immer: Vier Mal stand ich schon vor dieser Schranke, der schon deutlich anzusehen war, dass sich andere Motorradfahrer einen Weg um sie herum oder unter ihr durch gebahnt hatten. Ich hatte mich das bislang nie getraut, denn wenn ICH mal was dummes mache, werde ich IMMER erwischt, und tatsächlich ist weiter unten an der Straße eine Polizeistation, von der aus mit Geländewagen hier oben Patrouille gefahren wird.

Heute ist es mir aber egal! Das hier ist meine letzte Fahrt durch Italien auf absehbare Zeit, und jetzt ist mir schnuppe, ob die Straße gesperrt! Ich will die jetzt endlich sehen! Deshalb werde ich es jetzt wagen und um die Schranke herumfahren! Ganz egal, das es hier oben ständig Carabinieripatrouillen gibt!! Sollen die mich doch erwischen!!! Ich muss wissen, wie diese Straße aussieht, Schranke hin oder her!!!!!!

Oh.
Sie ist offen.

Die Schranke hängt schief und verbogen am Straßenrand.

Das hatte ich nicht erwartet. Egal, ich gebe der Barocca die Sporen und fahre an der Schranke vorbei. Ein erhebender Moment! So oft stand ich vor dieser Einfahrt, jetzt fahre ich einfach durch!

Tatsächlich führt die breite Straße, die als SP86 in den Karten geführt wird, erstmal in einigen weiten Kurven den Berg hinauf. So gut, so langweilig.

Aber dann! Schon nach wenigen Kurven bin ich durch die Bergkette durch, und nun öffnet sich vor mir ein weites und Hochplateau voller Hügel. Bäume gibt es hier oben nur wenige, aber alles ist mit sattgrünem Gras bewachsen. Vereinzelt grasen Kühe, Schafe und sogar einige Pferde in der Landschaft. Zäune gibt es nicht. Die Landschaft sieht fast aus wie aus einem Modellbahnbaukasten, so makellos.

Ich halte das Motorrad an und mache den Motor aus. Völlig still ist es hier oben, sieht man vom Gebimmel der Schafsglocken ab. Ich kriege mich gar nicht mehr ein, so schön ist die Landschaft hier. Die sanften Schwünge der Hügel sind eine Wohltat für die Augen.

Ich steige wieder in den Sattel und fahre weiter. Das Hochplateau bekommt Flanken, die in ein Tal abfallen, die Straße führt an dessen Rand entlang. Tatsächlich, das hier ist ein Traum. Traumhafte Aussicht, traumhaft zu fahren. Breit, guter Asphalt, tolle Kurven, praktisch kein Verkehr. Außer einem Landrover, der bei einer Schafherde steht, und zwei Motorradfahrern, die einen Fotostop machen, sehe ich hier oben keine Menschenseele.

Das beste ist die Aussicht. Während die Barocca um die Kurven gleitet, kann ich mich an der Landschaft schlicht nicht satt sehen. Kilometerweit um mich herum sind Berge, Berge, Berge.

Bild: Google Earth 2019

Bei Fonte Cerreto geht die Straße in in die Strada Statale 17 über. Die kenne ich schon, dass ist der nicht gesperrte Teil, der zum Campo Imperatore und auf die Hochebene führt. Auch hier: Tolle Kurven und fantastische Ausblicke. Teilweise wirkt die Landschaft, als wäre sie das uneheliche Kind von Alpen und Irland: Berge, aber rund und mit sattem Grün bewachsen.

Als ich die V-Strom versehentlich in einem tiefen, groben Kiesbett abstelle, habe ich kurz Bedenken, ob ich sie da auch wieder rausbekomme. Aber das geht – gut, dass sie tiefergelegt ist, ansonsten hätte ich sie vermutlich nicht mal mehr vom Seitenständer bekommen.

Ich muss ohnehin dauernd anhalten um Bilder zu machen. Auf diesem Teil der Strecke war ich schon ein paar mal, aber so schön wie heute habe ich die Berge hier noch nie erlebt.

Und dann entdecke ich auch noch einen Banksy auf einer Schneemobilhütte. Glaube ich zumindest. Also, sieht doch aus wie ein Banksy, oder?

Der Campo Imperatore, die Aussichtstation am höchsten Berg der Abruzzen, lockt. Ich bin heute ohnehin so lange unterwegs, da kommt es auf eine Stunde mehr oder weniger nicht an, also biege ich in seine Richtung ab. Bereuen tue ich das keine Sekunde – die Bergwiesen liegen wunderschön dar, und durch eine Lücke in der Bergkette wehen Wolken auf die Hochebene. Ein faszinierendes Schauspiel.

Bild: Google Earth 2019

Hier oben liegt sogar noch vereinzelt Schnee!

Am Campo Imperatore raucht der Grill der notorischen Würstchenbude. Motorradfahrer lehnen daran und lassen es sich schmecken, an den Tischen vor der Bude machen Familien Pause.

Ich gucke mir die Bauten hier oben an. Das ist das zweite Mal, dass ich hier bin. Beim ersten Mal war alles in dichtem Nebel, aber jetzt kann ich mir die Gebäude ansehen und einen Blick ins Tal werfen.

Das alte Hotel, in dem Mussolini gefangen gehalten wurde, ist geschlossen und noch viel runtergekommener als gedacht. Es vermittelt aber noch etwas von seiner einstigen Grandezza, und wieder einmal bedaure ich es, dass die Übernachtung hier vor zwei Jahren nicht geklappt hat. Da hatte das Hotel nämlich schon zu, über booking.com liess es sich aber noch buchen und verschickte automatisierte Bestätigungen.

Außerdem sehe ich jetzt endlich das Observatorium hier oben.

Oh, eine Seilbahnstation?

Und ein Hostel? Ist das schon lange hier?

Nach einer halben Stunde schwinge ich mich wieder auf das Motorrad und mache mich auf den Weg nach unten. Der Ausblick über die Hochebene ist dabei fantastisch.

Die Hochebene selbst ist natürlich auch völlig großartig. Ich lege mich mal fest: Der Weg hier aus SP86 und SS17 über die Hochebene gehört mit zu den schönsten Straßen Italiens. Die Kombination aus atemberaubender Landschaft und relativ wenig Verkehr (außer am Wochende!) macht das hier zu einer wahren Schönheit. Für diejenigen, die nicht nur auf Kurvenfahren fixiert sind und Landschaft und Ruhe schätzen, ist das hier eine der schönsten, für mich persönlich sogar DIE schönste Straße, die man in Italien unter die Räder nehmen kann.

Über kleine und überaus kurvenreiche Straßen geht es über die Orte Castel del Monte und Popoli wieder aus den Abruzzen raus. Auch diese Straßen kenne ich, bin ich in den letzten zwei Jahren schon zwei Mal gefahren.

Bild: Google Earth 2019

Ab und zu ist die Straße mal nicht ganz so gut, aber das ficht mich nicht an. Ich habe die große Suzuki gut im Griff, und so eine kleine Schotterstrecke am Berg ist für die Reisemaschine (“Enduro” kommt mir in Bezug auf die V-Strom nicht über die Lippen) kein Problem.

Zwischendurch kann ich immer wieder weit übers Land schauen, und obwohl es heute etwas diesig ist, dürfte der Blick rund 60 Kilometer reichen.

Zu meinem Erstaunen kenne ich auch hier alle Straßen. In dieser bergigen Region gibt es halt nicht so viele Durchfahrtsstraßen, und egal ob ich durch Orte wie Sulmona oder Roccaraso fahre, ich kenne tatsächlich die Straßen und Orte bereits.

Erst südlich von Castel di Sangro, als ich die Region Molise kurz anschneide und dann nach Kampanien komme, wird die Landschaft zur Terra Inkognita, unbekannte Gefilde. Das hier ist schon weit südlich von Rom. Hier gibt es immer noch Berge, aber die erheben sich aus ganz flachen Tälern mit Feldern. Der Appenin, die Bergkette, die das Rückgrat Italiens bildet, ist hier nicht stark ausgeprägt.

Die letzte Stunde ist dann auch nicht mehr spannend zu fahren. Das ist auch gut so, es ist sagenhaft warm und meine Konzentration ist nicht mehr die beste.

Nach 10 Stunden habe ich mein Tagesziel erreicht: Faicchio, ein winziges Bergdorf.

578 km, 10 Stunden. Bild: Google Maps.
Bild: Google Earth 2019

In Faicchio angekommen begrüßt mich Vincenzo. Der junge Mann verwaltet das Hotel “Il Colle”, das seine besten Zeiten wohl hinter sich hat. Das liegt nicht an der Bausubstanz – alles hier ist maximal 25 Jahre alt und völlig in Ordnung. Aber das Restaurant im Erdgeschoß ist geschlossen, der Parkplatz liegt verlassen dar und ich bin der einzige Gast. Faicchio ist wohl keine Touristenhochburg. Vincenzo schließt das große Tor auf, und ich kann die V-Strom direkt vor meinem Zimmerfenster abstellen.

Als ich das die Gurte am Heck der V-Strom löse um die Koffer abzunehmen, kommt ein alter Mann mit Strohhut, Latzhose und einer Schubkarre voller Strauchschnitt um die Ecke. Mit einem grimmigen Gesichtsausdruck mustert er erst mich, dann das Motorrad.

“Viaggiando solo?”, fragt er knapp. Allein unterwegs?

“Meglio soli che male accompagnati”, entgegne ich fröhlich. Besser allein als in schlechter Gesellschaft.

Ein Lächeln zuckt über das wettergegerbte Gesicht des Mannes. Er sieht auf das Kennzeichen der Barocca und sagt “Ah, tedesco, hm?”, um dann auf Deutsch fort zu fahren: “Diiie Spraaaache konnte ich auch maaal, ist aber laaange her, odr.” Ich muss lachen. “Vuoi Caffé?”, fragt der alte Mann. “Gerne”, sage ich.

Alberto, so stellt sich der alte Mann vor, erzählt, dass er als junger Mann in Zürich in einer Papierfabrik gearbeitet hat. Er führt mich in die geschlossene Bar im Erdgeschoß des Hotels, wo er uns Caffé bereitet und mich seiner Frau Micaela vorstellt. “Er hat in der Paperierfabrik gearbeitet, und ich was Gastarbeiterin in einer
Strumpffabrik in Züri. Aber alles, was ich mal an Deutsch konnte, habe ich vergessen”, sagt Micaela und erzählt dann, wie die beiden sich in der Schweiz kennen- und lieben gelernt haben. “Zürich war soooooo sauber”, schwärmt Micaela und bekommt einen verträumten Blick.

Der Familie wegen sind die beiden nach Faiccio zurückgekehrt und haben das “Il Colle” gebaut. Aber weil Faiccio hier mitten im Nirgendwo von KenntkeinMensch liegt, wollte ihr Sohn das Hotel mit Restaurant nicht weiter führen.

Stattdessen ging er vor 24 Jahren nach London, um dort als Barkeeper zu arbeiten. Aber nicht als irgendein Barkeeper, der sich irgendwie durchschlägt – er räumte dort Preise ab. Alberto zeigt stolz auf die Kopie einer Urkunde, die über der Bar hängt. “1. Platz World Cocktail Championship”, lese ich da. Der Sohn war tatsächlich mal Weltmeister der Barkeeper.

Alberto und Micalea geben mir Tips, wo ich in Faiccio ein Abendessen her bekommen kann. Noch einmal wage ich mich hinaus in die abendliche Hitze und steige auf die V-Strom. Leider hat das einzige Restaurant geschlossen, aber es gibt einen kleinen, klimatisierten Supermarkt.

Das Problem bei diesen Supermärkten auf dem Dorf: Es gibt kein Convenience-Food. Fertig abgepackte Salate oder frische Fertiggerichte, die man auch kalt essen kann, finden sich praktisch nicht. Auch Konservendosen mißtraut man in Italien, Suppen aus der Dose oder ähnliches gibt es so gut wie nie.

Nach länglichem Suchen entdecke ich eine Dose mit Reissalat, muss dann aber feststellen, dass die seit August 2016 abgelaufen ist. Aber daneben, ganz hinten in einem Regal, steht noch eine verstaubte Minidose Minestrone. Die gibt es dann als Abendessen, zusammen mit ein paar Scheiben Toastbrot. So karg das Mahl sein mag, nach einem ganzen Tag im Sattel ist es köstlich.

Dann geht die Sonne unter. Die Abendluft ist warm und die Grillen zirpen.

Ein großer, runder Mond steigt über den Faicchio auf.

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9 Gedanken zu „Reisetagebuch Motorradtour 2019 (6): Die schönste Straße Italiens

  1. Kein Geheimtip, dafür ist es echt zu tot und ich habe nichts interessantes gefunden. Das mit Osteuropa wird jetzt zum Running Gag, ja? Einem billigen Runing Gag. Wie man sie in den Regalen Osteuropäischer Dorfläden findet 😀

  2. Mamamia, sooo viel Gegend da. Und sooo schön. 10 Stunden, eine Tour ganz nach meinem Geschmack und „Meglio soli che male accompagnati“, werde ich jetzt auswendig lernen.
    Danke, Silencer!
    LIEBEn Gruß

  3. Ja. Billig wie bei Tatort. Doch einer wird irgendwann reden, ev auch sich ver, da bin ich mir sicher …
    Geheimtip: Genau deswegen … gute Alternative, falls der Tisch in Aspremont im Wohnzimmer besetzt ist – und von da aus nicht aus der Welt 😉

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