
Reisetagebuch Motorradtour 2019 (16): L´Arsenale
Auf Sommertour mit dem Motorrad. Heute schmelze ich.
Donnerstag, 27. Juni 2019, San Biagio di Callalta
“Hast du wieder Unterricht genommen? Dein Italienisch ist besser geworden.” Ich verschlucke mich vor Lachen fast am Kaffee, blicke Sara mit hochgezogenen Augenbrauen an und sage “Adulatrice”, Schmeichlerin. “Nee, für Volkshochschule habe ich keine Zeit gehabt. Aber ich hatte in den vergangen drei Wochen jeden Tag Gelegenheit zum Sprechen. Jetzt spreche ich zwar kein besseres Italienisch, aber mein schlechtes Italienisch spreche ich schneller und flüssiger”. Sara lächelt. “Und, wo geht es heute hin?”, fragt sie.
“Ich will mir mal das Arsenale ansehen”, sage ich. Sara verzieht das Gesicht. “Warst Du da noch nicht?” Ich schüttele den Kopf. “Noch nie. War immer zu.” “Dann lass es heute sein. Es ist einfach zu heiß. Bei dem Wetter stinkt Venedig. Das ist auch nicht gesund.”
Ich muss grinsen ob der Fürsorglichkeit. “Ich bleibe nur kurz in der stinkenden Stadt, und dann komme ich zurück und verbringe den Rest des Tages mit Schlafen.” Sara lächelt und sagt “Klingt nach einer Soluzione ottima“.
Ich sattele die V-Strom und fahre kurz darauf über den breiten Gartenweg von Saras “Villa Maria Luigia” hinaus auf die Landstraße.
Eine Stunde führt die Fahrt quer durchs Veneto. Statt der Schutzhose und Stiefeln trage ich heute morgen nur Jeans und Trekkingschuhe zur Motorradjacke, aber es ist schon so warm, das ich die Ärmel der Jacke bis zum Ellenbogen aufmache, um mehr Fahrtwind ab zu bekommen. Meine Güte, wenn das um kurz vor 8 schon so warm ist, was soll das im Laufe des Tages noch werden?
Sechzig Kilometer südlich San Biagio di Callalta und im Westen der Lagune von Venedig liegt Punta Sabbioni, Sandspitze. Hier gibt es schattenspendende Wellblechbauten, unter denen ich die Barocca parke. Gegen ein kleines Entgelt von fünf Euro passt eine Dame den ganzen Tag auf das Motorrad auf.
Als ich absteige, entfährt mir unwillkürlich ein lautes Stöhnen. Mein Hintern fühlt sich immer noch an, als hätte ihn jemand entzwei gespalten. War halt alles ein Bisschen viel Fahrerei die letzten Tage.
An der V-Strom ist heute Morgen zusätzlich zum Topcase, in das der Helm kommt, einer der 45 Liter Koffer befestigt. Da hinein quetsche ich die Airbackjacke, was gerade so passt. Im wahrsten Sinne des Wortes erleichtert schlendere ich die 200 Meter zur Wasserlinie. Hier legen die Vaporetti, die Wasserbusse an. Linie 15 braucht ungefähr eine halbe Stunde bis zum Markusplatz.
Schon als ich auf die Fähre warte, merke ich, wie mir der Schweiß unter dem Hemd und in den Hosenbeinen entlangläuft. Es sind jetzt schon über 35 Grad, bei 70% Luftfeuchtigkeit. Das macht gefühlt: 45 Grad.
Selbst die Einheimischen Arbeiter an der Anlegestelle sprechen von “Tropo calda” und “tempo brutta”, zu heiß und schlimmes Wetter. Im Vaporetto sitze ich im Außenbereich. Trotz des Fahrtwindes bilden sich auf meinen Armen dicke Schweißtropfen, die sich dann zu großen Blasen sammeln. Fasziniert beobachte ich ich, wie die Schweißblasen aus meiner Haut quellen und zu Schweißbächen zusammen fließen, um dann als Schweißströme an mir herab zu rinnen.
Als ich das Boot verlasse, setze ich einen leichten Hut mit einer breiten Krempe auf. Zwei Minuten später lüpfe ich ihn leicht. Es platscht gefühlt ein halber Liter Schweiß daraus hervor, fließt mir übers Gesicht und nimmt mir die Sicht. Wirklich, es ist, als hätte jemand das Innere des Huts mit Wasser gefüllt.
Ok, lange werde ich das nicht aushalten. Ich kann Hitze gut ab, aber das hier schlägt alles. Besser, ich halte ein wenig Haus mit meinen Kräften. Kurzentschlossen streiche ich alle anderen Spaziergänge durch die Stadt und mache mich direkt auf zum Arsenale. Natürlich nicht, ohne vorher bei Fabris am direkt am San Marco noch eine Krawatte gekauft zu haben. Dann setze ich mich in ein weiteres Vaporetto, das zum Arsenale fährt.
Das Arsenal von Venedig gibt es seit der Zeit der Kreuzzüge. Es war früher die Schiffswerft der Republik Venedig. Hier wurden quasi nach den gleichen Methiden wie heute Flugzeuge Schiffe gebaut, jeweils mehrere parallel und nach standardisierten Prozessen und mit standardisierten Teilen. Aufgrund dieses Baukastensystems konnte jedes Handelsschiff Venedigs binnen kurzer Zeit in ein Kriegsschiff umgebaut werden.
Im Arsenale gab es Seilmacherhallen, Schreinereien und große Kalfalteranlagen, in denen Pech zur Abdichtung der Schiffsrümpfe zubereitet wurde. Das Arsenale war so produktiv, dass es 1570 vor dem Krieg gegen deie Türken binnen zwei Wochen einhundert Galleeren bauen konnte. damit war es die größte vorindustrielle, äh, Industrieanlage. Der Name “Arsenale” kommt aus dem arabischen. “Darsiná-a” bedeutet “Arbeitsstätte”. Das Arsenal ist so groß, dass es 10 Prozent der Landfläche von Venedigs Altstadt einnimmt.

Heute ist das Arsenale ein Flottenstützpunkt und eine Forschungseinrichtung der italienischen Marine und daher normalerweise nicht einfach so zugänglich. Nur zu Zeiten der Kunstausstellung Biennale darf man gewisse Bereiche einfach so betreten, und das tue ich jetzt. Schon von der See aus ist zu sehen, das da gerade Kunst passiert. Große Hände strecken sich über das seeseitige Tor.
Das Arsenale heute besteht hauptsächlich aus Backsteinbauten mit schweren Metalltüren.
An der Ausfahrt von den Docks zur Lagune stehen kleine, alte Wachtürme.
Zwischen den Backsteingebäuden gibt es immer wieder Grünflächen und kleine Parks, und überall draußen wir auch in den Hallen stehen Kunstobjekte. Mal mehr, mal weniger schön.
Im Außenbereich sehe ich auch die Hände wieder, die wirklich beeindruckend groß sind. Jede hand ist anders.
Im Arsenale ist gerade ein U-Boot im Trockendock.
Arbeiter säubern Rümpfe von Booten mit Hochdruckstrahlern. Der Wassernebel zaubert Regenbogen in die Luft. Die Männer arbeiten mit freiem Oberkörper in der prallen Sonne, ihre Haut ist tief braun. Wieviele von denen kriegen wohl Hautkrebs?
Vor dem großen Hallen stehen Metallskulpturen von Igor Mitoraj, einem polnischen Bildhauer. Die beeindrucken mich, die Verbindung von klassischen Figuren mit Motiven der menschlichen Psyche finde ich sehr eindrücklich. Diese hier heißt “Teseo Screpolato” oder “rissiger Theseus”:
Aber auch die anderen Werke sind toll anzusehen:
Das gefällt mir viel besser als die Werke in den Hallen, mit denen ich zum Großteil nichts anfangen kann. Mal liegt ein Haufen Müll auf einem Tuch, mal hängen drei Lampions in einer ansonsten leeren Halle. Ich bin mir bei sowas immer nicht sicher, ob das nicht versteckte Kamera ist und im nächsten Moment Hape Kerkeling hinter einem Pfeiler hervorspringt und laut “HURZ!” ruft.
Aufkleber am Boden weisen den Weg zum MOSE-Controllcenter. Das ist selbst verschlossen, aber eine eigene Halle informiert über das Projekt.
Auf Schautafeln, an Modellen und mit Videopräsentationen wird verdeutlicht, was M.O.S.E. ist. Die Abkürzung steht für MOdulo Sperimentale Elettromeccanico und bezeichnet ein Sturmsperrwerk.
Die Idee dabei: Man baut eine gigantische Konstruktion aus Betonteilen quer über die Seeseite der Lagune. Jedes Betonteil ist so groß wie ein Fertighaus, und alle sind miteinander verbunden, so dass man in ihnen langlaufen kann. In jedem Betonteil gibt es einen Maschinenraum mit großen Pumpen. Kommt nun ein Hochwasser, sollen die Pumpen Wasser aus großen Toren pumpen, die außen auf die Betonkonstrukte geflanscht sind. Die Tore sollen sich dann aufrichten und so eine Überflutung verhindern.

Wer es genauer wissen will: Dieses Video läuft in der Ausstellung:
Hört sich Größenwahnsinnig an, und das ist es auch. MOSE, so sind sich nahezu alle einig, wird nicht funktionieren und lediglich die eh angegriffene Lagune weiter schädigen. Die Lagune braucht den ständigen Wasseraustausch mit dem Meer, sperrt man den zu, kippt sie um oder wird von den Industrieeinleitungen auf dem Festland vergiftet.
Seit Ende der 80er wurde über das Projekt gesprochen, 1996 gab es einen Beschluss, dann lag alles auf Eis, weil deutlich geworden war, dass die Idee Grütze ist. Warum MOSE dann jetzt doch gebaut wird? Das war ein Alleingang von Silvio Berlusconi, der 2003 grinsend den Spatenstich vornahm. Das Grinsen war auch deshalb so breit, weil der Auftrag zum Bau an ein Consortium vergeben wurde, an dem Berlusconi eine ordentliche Beteiligung hält. Zudem hatte er vorab noch in großen Stil Betonwerke gekauft. Und nun hatte er sich selbst Geld bewilligt, um Beton in unfassbaren Mengen in die Lagune zu verklappen.
Alles, was Berlusconi anfasst, ist schmutzig. Folgerichtig wurden 2014 wegen Korruptionsverdachts 35 Personen im Umfeld des MOSE-Projekt verhaftet, darunter der damalige Bürgermeister von Venedig. Alle hatten sich die Taschen vollgemacht, und am Ende wurde das Baukonsortium unter staatliche Zwangsverwaltung gestellt.
Das Schmiergeld freilich ist weg und nur einer der Gründe, weshalb die Baukosten bislang schon bei mindestens 6 Milliarden Euro liegen. Die Fertigstellung soll 2022 sein, aber daran glaubt niemand. Und selbst wenn MOSE mal fertig wird: In den vergangenen 20 Jahren haben sich die Hochwasserpegel durch den Klimawandel erhöht. Das bedeutet: Selbst wenn MOSE fertig würde und funktionieren täte: Es wäre nicht mehr hoch genug und kann die Stadt nicht vor Fluten schützen.
Das MOSE-Infocenter ist angenehm klimatisiert. Als ich es verlasse, schlägt mir erbarmungslos die Mittagshitze entgegen. Es ist zu heiß, um mehr zu machen als gar nichts. Ich schleppe mich in Zeitlupe durch die suppige, heiße Luft zurück zur Vaporetto-Anlegestelle. Unterwegs nehme ich erstaunt zur Kenntnis, dass Venedig ein Rugby-Team hat, sogar mit einem eigenen Spielfeld innerhalb des Arsenale und mit einem schicken Logo
Im Vaporetto darbe ich vor mich hin. Zwar stehe ich schon im Außenbereich, aber der Fahrtwind bringt keine Abkühlung. Im Gegenteil, es fühlt sich an, als stünde ich mit dem ganzen Körper vor einem riesigen, heißen Föhn. Es ist so absurd heiß, dass ich zu kaum was in der Lage bin, sogar die Augen fallen mir zu. Den Mitreisenden scheint es genauso zu gehen, alle hängen nur matt in der Ecke.
An der Umsteigestelle San Marco kaufe ich zwei Flaschen Wasser, weil meine mitgebrachte Literflasche schon leer ist. Bis ich wieder in Punta Sabbioni ankomme, sind auch die beiden neuen Wasserflaschen ausgetrunken, ohne das ich auch nur ansatzweise auf´s Klo müsste – ich verliere anscheinend schneller Flüssigkeit über die Haut als ich trinken kann.
Ganz langsam gehe ich zurück zum zum Motorrad und mache mich dann auf dem Heimweg. Wieder an der Villa parke ich die V-Strom unter einem Sonnenpavillion.
Dann schleppe ich mich auf mein Zimmer. Dort angekommen sinke ich auf die Knie nieder und danke Sara, die in meiner Abwesenheit die Klimaanlage angemacht hat. Die Frau ist super! Ich falle auf´s Bett und mache den Rest des Tages gar nichts mehr außer Stöhnen. Mein Hintern tut immer noch so weh, als hätte ich mir den Arsch gebrochen. Bäuchlings liege ich auf dem Bett und gucke Youtube. Mehr ist nicht drin.
Abends will ich mich wieder anziehen und Essen gehen. Was ist das denn? Wo habe ich mir denn die Flecken geholt?, denke ich, als ich mein schwarzes Hemd in den Händen halte. Sieht aus wie Vogelschiete – aber dann merke ich, dass es Salzränder sind, die ich rundherum in den Stoff geschwitzt habe. Krass.
Zum Glück habe ich noch ein gutes Hemd dabei. Waschen lohnt nicht mehr, bis zu Hause werde ich keines mehr brauchen.
Im Restaurant stellt Sara mir einen Raboso hin, einen Wein aus dem Veneto – nur, dass sie diesen hier auf Eis gelegt hat. “Es ist zu heiß”, sagt sie und ich nicke matt.
Francesco hat wieder tolle Dinge mit Fisch angestellt. Ich mag eigentlich keinen Fisch, aber hier esse ich ihn – und gleich nochmal dazu die Spaghetti mit Tintenfischtinte, weil die gestern so lecker waren. Zum Nachtisch gibt es Eis, weil es einfach zu heiß ist.
Ich bin etwas wehmütig, denn das war es nun für dieses Jahr mit dem guten Essen und der angenehmen Gesellschaft. Aber bevor es zurück nach Hause geht, kommt morgen noch eine Etappe, auf die ich jetzt seit drei Jahren warte.
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